Einfach mal den Stecker ziehen

26.07.2010
Welche Schattenseiten entwickelt die neue Online-Kultur, welche Auswirkungen hat sie auf die individuelle Psyche? Zwei Journalisten haben sich jetzt einem Selbstversuch unterzogen und jeweils ein Buch darüber geschrieben.
Erinnert sich noch jemand an die Väter, die wochenlang in Kellern verschwanden, um an elektrischen Eisenbahnen zu werkeln? Oder an dauerstrickende Schulkameradinnen, bis es Lehrerinitiativen gab, die Handarbeiten während der Unterrichtsstunden verboten? Angesichts der neuesten Süchte bekommen diese Manien fast etwas Rührendes.

Heute scheint das Internet alles zu bündeln: Es sorgt für Ablenkung, fordert Sammler und Zocker heraus, bietet Spielernaturen ein Forum, liefert nebenbei viele wertvolle Informationen. Darüber hinaus entspricht das Netz mit seiner Suggestion der permanenten Präsenz den Anforderungen der modernen Arbeitswelt. Jeder soll dauernd erreichbar und verfügbar sein.

Welche Schattenseiten entwickelt die neue Online-Kultur, welche Auswirkungen hat sie auf die individuelle Psyche? Die Frage liegt in der Luft. Zwei Journalisten haben sich jetzt einem Selbstversuch unterzogen und jeweils ein Buch darüber geschrieben. Alex Rühle, Jahrgang 1969, Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", ließ sich ein halbes Jahr den Internetzugang im Büro und zu Hause sperren, verzichtete auf Blackberry und Handy. "Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline" heißt seine Bekenntnisschrift.

Christoph Koch, 1975 geboren, Mitarbeiter von "Neon", sperrte sich für sechs Wochen aus dem Netz aus und legte seine zwei Taschentelefone in die Schublade. "Ich bin dann mal offline. Ein Selbstversuch" nennt er, mit Holzhammer-Anspielung auf den Hape-Kerkeling-Bestseller, seinen Erfahrungsbericht.

Beide Journalisten betonen auf den ersten Seiten, wie begeistert sie von den Möglichkeiten des Internets seien, den immer stärker zerfransenden Arbeitsalltag aber als unbefriedigend empfanden. Die digitale Auszeit trieb sie nach depressiven Attacken in wohltuend stille Bibliotheken, ließ sie konzentrierter arbeiten, bot ihnen mehr Zeit für altmodische, lineare Lektüre von Büchern und reale Begegnungen mit Freunden und Familie und stimulierte den Briefverkehr.

Rühle trifft sich mit einem Gefängnisinsassen, für den der Blackberry-Verlust schlimmer war als der Freiheitsentzug, interviewt den Soziologen Hartmut Rosa, der die Anmeldung einer "vollständigen Temporalinsolvenz" empfiehlt, weil die allgemeine Terminfülle ohnehin für niemanden zu bewältigen sei, sucht Selbsthilfegruppen auf und spricht mit handyverrückten Schülern.

Koch beschäftigt sich mit den Amish, die kaum eine der technischen Errungenschaften nutzen, lässt sich von einem Rabbi die Sabbatruhe erklären, befragt den "Facebook"-Gründer Marc Zuckerberg und den Blogger Sascha Lobo, der mehr Leute erreicht als die "FAZ", präsentiert Geräuschesammler, Psychologen und Hirnphysiologen. Privat scheinen beide Journalisten von ihrem Experiment profitiert zu haben, auch wenn sich die Neigung zum gehetzten Multitasking dadurch nicht verliert. Beide kommen nach der Netzabstinenz zu dem Schluss, dass ein maßvoller, bewusster Umgang mit den modernen Technologien weitaus gesünder ist.

Während Koch stärker an die klassische Sachbuchform anknüpft und am Ende einen kleinen Knigge für Netz-Benutzer liefert, schreibt Alex Rühle erzählerischer. Entwaffnend freimütig bekennt er sich zu seinen Schwächen und berichtet, wie er früher vor dem Schlafengehen heimlich seinen Blackberry kontrollierte oder aufs Klo verschwand, um seine Mails zu beantworten.

Manchmal trägt Rühle sein Herz zu sehr auf der Zunge. Dann scheint er das, worunter er leidet – nämlich dass Privatleben und Beruf immer stärker miteinander verschmelzen –, selbst zu praktizieren und macht sich und seine Familie zum Rechercheobjekt. Da würde man ihm am liebsten laut zurufen: Behalt es doch für Dich!

So sympathisch, unterhaltsam, wichtig und hoffentlich auch nützlich beide Bücher sind, so sehr denkt man am Ende: In ihrer privatistischen Aufbereitung sind auch sie ein typisches Produkt der neuen Netzkultur. Statt auf "Facebook" 150 Freunde am gerade verzehrten Frühstück teilhaben zu lassen, geht es hier um kleine und kleinste Abenteuer in der analogen Welt.

Besprochen von Maike Albath

Alex Rühle: Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline
Klett-Cotta, Stuttgart 2010
242 Seiten, 17, 90 Euro

Christoph Koch, Ich bin dann mal offline. Ein Selbstversuch. Leben ohne Handy und Internet
Blanvalet, München 2010
271 Seiten, 12, 95 Euro