"Einer der größten Romanarchitekten der Weltliteratur"

Michi Strausfeld im Gespräch mit Joachim Scholl · 07.10.2010
Bei der Lektüre der Bücher von Mario Vargas Llosa wird der Leser "einfach mitgezogen", sagt Michi Strausfeld, lange Jahre Übersetzerin für lateinamerikanische Literatur beim Suhrkamp Verlag.
Joachim Scholl: Der Peruaner Mario Vargas Llosa erhält in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur. Und wir sind jetzt live auf der Frankfurter Buchmesse verbunden mit Michi Strausfeld. Sie hat einst Vargas Llosa zum Suhrkamp-Verlag geholt und dafür gesorgt, dass sein Werk in Deutschland ebenfalls viele Leser fand. Ich grüße Sie, Frau Strausfeld!

Michi Strausfeld: Ich grüße Sie!

Scholl: Sie müssen sich sehr gefreut haben, oder?

Strausfeld: Ich habe mich riesig gefreut, das war wirklich die schönste Überraschung des Tages, weil man ihn ja immer mal wieder erwartet hat, er stand jahrelang auf den Listen. Und dieses Jahr, wo er weniger häufig auf den Listen genannt wurde, da hat er ihn bekommen. Sehr verdient.

Scholl: Wie ist die Entscheidung für Mario Vargas Llosa auf der Messe von der Branche aufgenommen worden – die Meldung ist jetzt erst eine Stunde alt –, aber haben Sie vielleicht schon einen Eindruck bekommen?

Strausfeld: Ich denke, viele Verlage werden sich wahnsinnig freuen, natürlich die spanischen Verleger, der deutsche Verlag, die Franzosen – also ich glaube, da wird große, große Freude sein, und ich nehme an, dass wir heute im Laufe des späteren Nachmittags auch alle irgendwie zusammen bei der Agentur (…) ein Glas auf Mario Vargas Llosa trinken werden.

Scholl: Er selbst wurde heute früh wohl in New York informiert, wo er derzeit an der Universität lehrt. Er soll, wie es heißt, ganz gerührt gewesen sein. Sie, Michi Strausfeld, kennen ihn persönlich sehr gut, Sie sind eng befreundet, aber haben Sie schon Kontakt mit ihm gehabt?

Strausfeld: Das ist im Augenblick völlig unmöglich, denn alle Telefonleitungen sind natürlich blockiert. Ich habe ihm eine SMS geschickt, und zwar so schnell, dass ich hoffe, dass er es noch gelesen hat oder lesen wird.

Scholl: Mario Vargas Llosa hat ein, ja, weit gespanntes, vielschichtiges literarisches Werk vorzuweisen. Es ist nun schwer oder gar unmöglich, das kurz zusammenzufassen, Frau Strausfeld, aber vielleicht geben Sie uns eine Skizze dieser ja nun fast 50-jährigen Schaffenszeit des Autors. Welche Akzente sind die wichtigsten, was würden Sie sagen?

Strausfeld: Mario Vargas Llosa hat in der Mehrzahl seiner Romane – und das sind sehr, sehr viele, ich habe sie jetzt gerade nicht alle gezählt, aber 18 oder 20 große Romane – vor allen Dingen sich mit seinem Heimatland Peru auseinandergesetzt, und das ist, wie wir ja wissen, das ist die Stadt, das ist die Wüstenregion, das sind die Anden und das ist der Urwald. Dem Urwald alleine hat er bereits drei Bücher gewidmet – "Das grüne Haus", "Hauptmann Pantaléon und sein Frauenbataillon" –, und der Urwald ist ihm ganz besonders nahe immer – und "Maytas Geschichte", Entschuldigung, ist das dritte.

Und die Landschaft, die er dort einfängt in seinen Romanen, man spürt richtig, wie vertraut er mit dem Urwald ist, denn Mario Vargas Llosa ist ein Mann, der sehr akribisch recherchiert. Er schreibt nicht über das, was er einfach nur erfindet, sondern er ist in diesem Sinne der Realität streng verpflichtet. Und so sind seine Angaben und seine Beschreibungen immer sehr, sehr nachvollziehbar und verifizierbar. Das gilt natürlich auch für die Romane, die er über die Anden geschrieben hat, da nenne ich nur "Lituma in den Anden", das ist eben die andere Welt, das ist die Welt der Indios.

Und dann hat er natürlich noch die Stadt, vor allen Dingen Lima, da spielt eines seiner bedeutendsten Bücher, "Gespräche in der 'Kathedrale'", und der legendäre Satz am Anfang lautet: Sag mir, wann Peru vor die Hunde gegangen ist – das ist in der Zwischenzeit ein geflügeltes Wort geworden. Und der Roman beschäftigt sich eben mit dem Niedergang von demokratischen Verhaltensformen, denn das liegt Mario Vargas Llosa immer sehr am Herzen, er ist da wirklich ein ganz überzeugter Demokrat und verteidigt die Demokratie immer und vehement und überzeugend.

Scholl: Er ist auch ein dezidierter Autor der Moderne kann man wohl sagen, mit dem magischen Realismus eines García Márquez hat er wenig zu tun als Südamerikaner. Wie würden Sie Vargas Llosas Stil, seine Schreibweise, ja, den ästhetischen Rang und seine Entwicklung schildern oder einordnen?

Strausfeld: Also ich glaube, Mario Vargas Llosa ist der größte Romanarchitekt im Augenblick, und nicht nur Lateinamerikas, sondern vielleicht einer der größten Romanarchitekten der Weltliteratur. Was er zustande bringt in der Verschachtelung von unterschiedlichen Dialogen, ohne dass sich der Leser dabei verirrt – ich möchte hier noch mal das Buch erwähnen "Gespräch in der 'Kathedrale'", das sind also teilweise 17 Dialoge, die unterschiedlich geführt werden und in unterschiedlichen Zeiten spielen, und der Leser verirrt sich nicht. Und es wird nicht gesagt, jetzt ist der und der dran und jetzt ist der und der dran und die Zeit, sondern das ist seine große Kunst.

Und immer geht er oder in sehr vielen Büchern geht er immer von zwei verschiedenen Optiken aus, um sich sozusagen dem Thema seines jeweiligen Buches besser zu nähern. Es ist immer eine vielschichtige Art, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, und das charakterisiert auch viele seiner Bücher. Also ich denke an eines seiner Erfolgsbücher, "Tante Julia und der Kunstschreiber", da gibt es in einigen Kapiteln immer diese verrückten Radioerzählungen, die der Kunstschreiber eben produziert meterweise, und die anderen Kapitel sind autobiografisch.

Das ist ein Schema, was man in vielen seiner Romane wiederfindet, aber ich denke, seine Leistung als Romancier, abgesehen vom Stil, ist eben diese kunstvolle Verschachtelung aller seiner Themen, ohne dass das dem Leser irgendwie bewusst wird, er wird einfach mitgezogen. Und es ist ja so: Ein großes Buch von Vargas Llosa kann man nur schwer aus der Hand legen.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Michi Strausfeld. Sie hat einst Mario Vargas Llosa für Deutschland entdeckt. Heute hat er den Nobelpreis für Literatur erhalten. Sein Romandebüt "Die Stadt und die Hunde", Frau Strausfeld, 1963 veröffentlicht, wurde in Lima noch öffentlich verbrannt, wegen seiner scharfen gesellschaftlichen Kritik. Vargas Llosa war dennoch kein klassischer linker Schriftsteller wie so viele damals in Südamerika – was hat ihn politisch geprägt?

Strausfeld: Politisch hat ihn wie fast alle Autoren und alle Menschen seiner Zeit natürlich die kubanische Revolution geprägt, aber er war nur ein ganz kurzfristiger Anhänger, weil er sehr schnell hinter die Kulissen geschaut hat und dann eine Kehrtwende gemacht hat. Der erste Roman "Die Stadt und die Hunde" ist natürlich sehr autobiografisch geprägt, das waren seine Jahre in der Militärkadettanstalt, wo ihn sein Vater dann hineinbrachte, um ihm die Flausen auszutreiben, Romane zu schreiben, denn das war nicht männlich und das war überhaupt furchtbar.

Und aus dieser Zeit rührt der abgrundtiefe Hass von Vargas Llosa – ich glaube, das darf man so sagen – gegen alles das, was sinnlose Autorität ist oder ein Autoritätsanspruch, der irgendwie nicht hinterfragt wird. Deshalb hat er auch den großen Diktatorenroman geschrieben, "Das Fest des Ziegenbocks", wo der Diktatur von Trujillo in Santo Domingo auseinandernimmt, alles diese Machtstrukturen, die er durchleuchtet, die er verabscheut, die er analysiert und so darstellt, wie sie sind, nämlich vernichtend.

Scholl: Vargas Llosa ist zwar inzwischen spanischer Staatsbürger, aber er war in seiner Heimat lange Zeit mehr als nur ein Schriftsteller, sondern eher auch ein geistiger Repräsentant, wie es vergleichbar Thomas Mann vielleicht für Deutschland war, und er wollte 1990 peruanischer Staatspräsident werden. Und fast hätte er es geschafft, erst im zweiten Wahlgang ist er dem damaligen Rivalen Fujimori unterlegen. Sie haben immer Kontakt gehabt, Sie sind befreundet mit Vargas Llosa – hätte denn Vargas Llosa wirklich das Zeug zum Staatsmann, zum Politiker gehabt?

Strausfeld: Er sagt selber, es war gut für ihn, dass er die Wahlen nicht gewonnen hat, weil er vielleicht doch zu sehr moralisch argumentiert, und er sagt, die Politiker müssen ja in fest geformten Bahnen reden, und das würde ihm auch sehr schwerfallen. Aber man kann die Geschichte nicht ignorieren – vielleicht wäre es ein guter Staatspräsident geworden, und sicherlich hätte er Peru nicht so in den Abgrund geführt wie Fujimori.

Scholl: Dieser Fujimori, der dann sozusagen aus dem Amt gejagt wurde wegen Korruption. Es gibt bei jedem Literaturnobelpreis, Frau Strausfeld, eigentlich immer dieses geteilte Echo: Bekommt es ein eher Unbekannter, hagelt es Kritik mit Verweis auf die Prominenten, die seit Jahrzehnten diese Auszeichnung verdient hätten, erhält aber mal solch ein Alter den Preis, wird oft gemäkelt, dass ihre großen Zeiten eigentlich doch vorbei seien. Muss sich Vargas Llosa auch solche Stimmen eventuell gefallen lassen, wie schätzen Sie sein aktuelles Werk ein?

Strausfeld: Ich glaube, in diesem Fall kann man ganz beruhigt sein. Im November erscheint ein neuer Roman von Vargas Llosa in Spanien, der heißt "Der Traum des Kelten" und zeigt Vargas Llosa wirklich wieder in der, ja, also mit einer solchen Kraft. Er geht wieder in den Urwald, er geht in den Dschungel vom Kongo und von Peru, und was er dort zutage fördert und welche Personen aus der Vergangenheit ausgegraben hat, das ist einfach sensationell. Nein, Vargas Llosa hat sich noch nicht ausgeschrieben. Der neue Roman wie gesagt, der im November in Spanien erscheinen wird, ist genau der lebende Beweis dafür, dass das absolut nicht zutrifft auf ihn.

Scholl: Der Peruaner Mario Vargas Llosa erhält in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur. Das war Michi Strausfeld. Sie hat den Autor und viele andere spanischsprachigen Schriftsteller dem deutschen Publikum bekannt gemacht. Schönen Dank, Frau Strausfeld, ja, und wir wünschen Ihnen, dass Sie Ihren Freund bald persönlich treffen und mit ihm anstoßen können auf diesen Preis!

Strausfeld: Das hoffe ich sehr, vielen Dank!