Eine zweifelhafte Errungenschaft

Rezensiert von Alexander Schuller · 22.06.2007
Für Fareed Zakaria ist der historische Sieg der Demokratie ein zweischneidiges Schwert. In seinem Buch "Das Ende der Freiheit. Wieviel Demokratie verträgt der Mensch?" vertritt er die These, dass einerseits die Demokratie für das Mehrheitsprinzip steht, andererseits für die Freiheit. Aber beide Prinzipien widersprechen sich.
Am Anfang aller Revolution steht die Gewalt. Fareed Zakaria macht das deutlich:

"Das Volk verleibt sich die ganze Herrlichkeit und Machtvollkommenheit des einstigen königlichen Souveräns ein. Im Namen von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit ernennt es sich zur obersten Instanz. Die Freiheit hängt nicht mehr von Königs Gnaden ab, sondern von den Launen der Bürgerschaft."

Man kann die Französische Revolution, die Aufklärung überhaupt, als den Versuch verstehen, der Moderne eine Ideologie zu entwerfen, ihr, auf den Vorgaben der Antike die Zukunft zu sichern. Über allem schwebte die Idee von der Herrschaft des Volkes, der Demokratie. Das war ein Missverständnis. Die athenische Demokratie – darauf beriefen sich die Revolutionäre - war nämlich nur sehr bedingt eine Demokratie. Große Teile der Bevölkerung, die Frauen, die Sklaven, waren ausgeschlossen, und die Entscheidungen der Volksversammlung verstießen oft genug gegen die Menschenrechte. Eigentlich handelte es sich bei der Athener Demokratie um eine große, chaotische Wohngemeinschaft, in der Recht bekam, der am besten reden konnte.

Die Ideale der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – klingen ziemlich athenisch, sind es aber im Kontext der Moderne ganz und gar nicht. In dieser Utopie – das wollten jedenfalls die Aufklärer von 1789 - sollte der Staat die Gleichheit, die Wirtschaft die Brüderlichkeit, der Mensch schließlich die Freiheit verwirklichen. Inzwischen, nach mehr als 200 Jahren, haben sowohl der Nationalismus als auch der Sozialismus – unter Verzicht auf Freiheit - ihre Modelle von Gleichheit und Brüderlichkeit erprobt. Beide Modelle sind - blutig – misslungen. Genau betrachtet ist die Aufklärung schon 1789 mit dem Ausbruch der Französischen Revolution gescheitert. Massenmord und Tugendterror waren von Anfang an ihre Begleiter.

Heute dominiert das Vokabular der dritten und wohl letzten Ressource der Aufklärung, der Freiheit: Menschenrechte, Selbstverwirklichung, Meinungsfreiheit. So zumindest kann man die Ansprüche der modernen Demokratie verstehen. Es geht um kulturelle Integration, um – sexuelle, ethnische, politische – Minderheiten, um den Verfall der Familie, um Identitäts- und Bindungsverluste, um Wahlmüdigkeit und Parteienverdrossenheit. Zugleich wird immer deutlicher, dass die Aufklärung eine fixe Idee des Westens darstellt und dass dieser Westen längst nicht mehr Herr des ideologischen oder macht-politischen Geschehens ist: Afrika und sein Hunger nach Nahrung, China und sein Hunger nach Öl, die ideologische und demographische Eroberung des Westens durch den Islam, 9/11 als Erkenntnisschock. Und sind nicht die Versuche der Amerikaner, die Welt "safe for democracy" zu machen, erkennbar gescheitert?

Amitai Etzioni, der alte, weise, in Köln geborene amerikanische Soziologe meint, dass Überleben wichtiger sei als Demokratie. Ist Demokratie überhaupt noch ein Zukunftsmodell? Immer deutlicher und immer häufiger wird diese Frage gestellt. Nicht nur polemisch oder verzweifelt, sondern seriös, akademisch, nüchtern. Das Buch des Fareed Zakaria setzt die Kritik der letzten 200 Jahre fort und bringt sie auf den Nenner.

Zakaria stellt fest, dass die Demokratie, so wie wir sie kennen, eigentlich erst ein Produkt des 20. Jahrhunderts sei.

"Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sind Rechtsgleichheit und die Freiheit des Einzelnen sowohl in Großbritannien als auch in weiten Teilen der USA gewährleistet. Als demokratisch kann man gleichwohl keines der beiden Länder bezeichnen. Vor der britischen Wahlreform von 1832 sind nur 1,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung stimmberechtigt. Das Reformgesetz erhöht diesen Anteil auf 2,7 Prozent. Im Jahr 1867 wird 6,4 Prozent der Briten das Wahlrecht zugestanden, ab 1884 gerade einmal 12,1 Prozent. Erst 1930 erfüllt England mit der Einbeziehung der Frauen aus heutiger Sicht das zentrale Demokratiekriterium: allgemeines Wahlrecht für alle volljährigen Bürger. Trotzdem gilt Großbritannien als Musterland des konstitutionellen Liberalismus, als Rechtsstaat und Hort der Freiheit. Geringfügig demokratischer sind die USA, wenn auch nicht in dem Maß, wie allgemein angenommen wird. Jahrzehntelang ruft man ausschließlich Grundbesitzer weißer Hautfarbe zu den Urnen. Noch 1824, rund fünfzig Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit, sind 95 Prozent der erwachsenen Amerikaner von der Präsidentschaftswahl ausgeschlossen."

Für Zakaria ist der historische Sieg der Demokratie ein zwiespältiger Gewinn. Einerseits steht Demokratie für das Mehrheitsprinzip, andererseits für die Freiheit. Aber beide Prinzipien widersprechen sich. Das ist die zentrale These seines Buches. Zwischen dem, was Demokratie will und dem was Demokratie tut, gibt es nicht nur einen realen, sondern einen grundsätzlichen Widerspruch. Was Demokratie will, ist Allmacht, und Allmacht verdichtet sich schnell zu Terror, zu Totalitarismus. Die beiden Prinzipien der Aufklärung, Gleichheit und Freiheit schließen sich – in den historischen Prozess gebracht – zunehmend gegenseitig aus. Mehr noch: Demokratie lähmt und vernichtet schließlich nicht nur den politischen Gegner, sondern auch den politischen Diskurs. Das kennt man als Volksdemokratie. Am radikalsten und ganz und gar politisch zeigt sich dieser gleiche Gedanke in dem Leninschen Verbot der innerparteilichen Fraktionsbildung. Ähnlich und täglich erleben auch wir diesen Vorgang. Parteien, Kirchen, Gewerkschaften sind gedanklich erloschen. Verschreckter und anmaßender Konformismus beherrscht die Öffentlichkeit.

"Der Punkt an dem sich Verfassungsliberalismus und Demokratie aneinander reiben, ist die Reichweite der Staatsgewalt: Der Konstitutionalismus sucht die Macht im Zaum zu halten; die Demokratie dagegen, sie zu konzentrieren und zu gebrauchen. Vielen Liberalen des 18. und 19. Jahrhunderts gilt letztere deshalb als Gefahr für die Freiheit. Der absolute Hoheitsanspruch vom Volk gewählter Regierungen veranlasst diese zur Zentralisierung der Amtsgewalt - (…) oft mit verheerenden Folgen. Das Endergebnis ist eine demokratisch legitimierte Tyrannei."

Offenbar sind nicht nur die beiden Prinzipien der Aufklärung, Gleichheit und Brüderlichkeit, gefährlich, sondern, wer hätte das gedacht, auch die Freiheit ist es. Das gesamte Erbe der Aufklärung scheint – irgendwie – vergiftet zu sein.

""Bei flüchtiger Betrachtung mag die Schwächung der Aristokratie im Sinne der Rechtsgleichheit als Fortschritt erscheinen. Die Aufklärungsphilosophen Voltaire und Diderot etwa schwärmen von der "Rationalisierung" und "Modernisierung" der Staatsführung."

Zakaria macht diese Bemerkung mit linker Hand, aber die Implikationen reichen weit. "Rationalisierung", "Modernisierung" und "Globalisierung" sind für uns inzwischen Worte des Schreckens. Letztlich geht es in der Politik gar nicht um Politik, möglicherweise auch nicht um Macht oder um Ideologien oder Institutionen, sondern um uns, um unser Selbstbild, um unsere – wenn man dieses seltene Wort benützen darf – um unsere Seele. Vielleicht war jenes widerliche 9/11 auch eine Frage. Sie rührt an unsere Seele und fragt nach unserem Weltbild. Sie fragt nach unseren Ängsten und nach unseren Hoffnungen. Sie fragt nach unserer Zukunft.

Fareed Zakaria: Das Ende der Freiheit. Wieviel Demokratie verträgt der Mensch?
DTV, München/2007