"Eine wahnsinnige Begabung, andere Begabungen zu finden"

26.12.2009
Vor 142 Jahren wurde in Breslau Alfred Kempner geboren. Schon der junge Mann beeindruckte als Literaturkritiker. Später nannte er sich Alfred Kerr: Mit diesem Namen und als Theaterkritiker wurde er berühmt. Im S. Fischer-Verlag ist nun eine Sammlung seiner literaturkritischen Untersuchungen herausgekommen.
Als 20-Jähriger kam Alfred, Sohn des Breslauer Weinhändlers Emanuel Kempner, zum Studium nach Berlin. Bis ins Rentenalter würde er bleiben. Denn Berlin und Kerr, wie er sich seit 1893 nannte, passten gut zusammen: Die Stadt war im Umbruch von der königlichen Residenz zur Weltstadt, der junge Journalist belesen, aufstrebend und talentiert. Im Sommer 1894 schrieb der fast 75-jährige Theodor Fontane einen lobenden Brief an die "Breslauer Zeitung", für die Alfred Kerr "Berliner Briefe" und Kurzkritiken schrieb.

"Das war sein Ritterschlag, als Theodor Fontane sich seinem Herausgeber gegenüber lobend über ihn äußerte, und er schrieb später: Ich wachte auf und war berühmt."

Erzählt Herausgeberin Deborah Vietor-Engländer. Der Text, mit dem das Buch beginnt, erschien 1887 in der "Täglichen Rundschau" in Berlin: Eine Polemik gegen rückwärts gewandte Theaterkritik. Bald jedoch wurde Kerr zum leidenschaftlichen Entdecker und Förderer:

"Er hat beispielsweise sich mit Robert Musil hingesetzt, ist mit ihm jede Zeile des "Törleß" durchgegangen, hat ihm einen Verlag gesucht, und dann eine sehr wichtige Musil-Kritik im "Tag" geliefert, 1906. Er hat auf die Begabung von Else Lasker-Schüler hingewiesen, als es noch niemandem einfiel, und bis zum Schluss – noch 1945 entdeckte er Vercors, den Dichter der französischen Widerstandbewegung, "Das Schweigen der See", also er hatte eine wahnsinnige Begabung, andere Begabungen zu finden, und war auch in der Hinsicht sehr großzügig jungen Dichtern gegenüber."

Kerr "lebte in und mit der Literatur", wie Günther Rühle im Nachwort dieses sorgfältig edierten Bandes schreibt. Bei der Auswahl der Texte wurde die Herausgeberin Deborah Vietor-Engländer selbst zur Entdeckerin:

"Ich wollte zeigen, dass es einen ganz unbekannten Kerr gibt. Einen Literaturkritiker, nicht – wie man immer denkt – einen Theaterkritiker, denn kaum jemand weiß, dass er Lyrik, Opernlibretti, Reisebücher und dergleichen geschrieben hat. Ich wollte zeigen, dass er ein großer Literaturkritiker war, der sehr viele Entdeckungen gemacht hat, und ein außerordentlich Zukunftsgerichteter Mensch war."

Als der junge Dramatiker Gerhart Hauptmann auf den Plan trat, war es Kerr, der gegen alle Anfechtungen für ihn eintrat. Kerrs Rede zu Hauptmanns 60. Geburtstag 1922 war eine Liebeserklärung. Als die Nazis an der Macht waren, schwieg Hauptmann. Kerr, dessen Bücher am 10. Mai 1933 verbrannt wurden, war zutiefst empört:

"Er schreibt – und das ist ein Fluch, der es in sich hat: "Ich liebte den Menschen, den Freund, den Umleuchteten." Und dann schreibt er: "Dornen sollen wachsen, wo er noch hinwankt. Hier starb jemand vor seinem Tode. Sein Andenken soll verscharrt sein unter Disteln, sein Bild begraben in Staub." Das hat's in sich!"

Das Dokument eines gebrochenen Herzens. Hals über Kopf war Kerr 1933 nach dem Hinweis eines couragierten Polizisten geflohen. Frau und Kinder folgten ins Exil. Alfred Kerr schrieb:

"Wann endet das? Für uns Verbannte hat Rasten, Wurzeln wenig Sinn. Wir müssen fort ins Unbekannte, kein milder Seher sagt, wohin."

Alfred Kerr schrieb für Exilblätter, entwarf eine Doppelbiografie des englischen Premiers Benjamin Disraeli und des Exilanten Karl Marx. Er schrieb über Richard Strauss, James Joyce und über die eigene schwierige Ankunft in England. Alfred Kerr nahm sich 1948 – gerade zum ersten Besuch in Hamburg eingetroffen – nach einem Schlaganfall das Leben.

"Sucher und Selige, Moralisten und Büßer", diese "Literarische Erkundung" im nachgelassenen Werk, gehört in den Haushalt von Literaturfreunden und Theaterenthusiasten, von Exilforschern und Sprachliebhabern, kurz: in jeden. 1947 las Kerr bei der BBC einige Gedichte. Eines hieß: "An meine Tochter Puppie".

"Dieses ist mein Wille: Bald bin ich fern, den ew'gen Schatten nah. Dann ruf's noch einmal in die große Stille: Bonsoir, Papa!"

Rezensiert von Jens Brüning

Alfred Kerr: Sucher und Selige, Moralisten und Büßer.Literarische Ermittlungen. Band IV
Hrsg. von Margret Rühle + Deborah Vietor-Engländer
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2009
519 Seiten, 49 EUR