Eine Verkettung von Verhängnissen

06.05.2013
Carlos María Domínguez Buch beginnt mit einem Selbstmord. Im weiteren Verlauf zeigt der argentinische Schriftsteller auf, wie sein Held den Verlust seines Freundes zu verarbeiten sucht - und dabei auf ein Rätsel nach dem anderen stößt und schließlich eine Reise nach Uruguay antritt.
"Wie dumm der Tod ist, sieht man daran, dass er keine Unterschiede macht, auf einem Selbstmord jedoch lasten alle möglichen Gedanken", sinniert der Icherzähler in Carlos María Domínguez Roman "Der verlorene Freund" vor sich hin. Der Freitod seines Freundes, mit dem ihn die Kultiviertheit, insbesondere die Liebe zur Kunst, verband und der sich ohne erkennbaren Anlass eines Nachmittags aus dem Fenster stürzte, wird zum Ausgangspunkt einer immer verworrener werdenden Recherche. Die Zahl der Akteure in diesem Spiel könnte ein eher kleinformatiges Drama vermuten lassen: Eine Tochter, eine Schwester, eine aktuelle und eine frühere Freundin des Verstorbenen sind die Personen, die dem Icherzähler bei seiner Suche helfen können.

Mit jedem Schritt, den er tut, stößt er dabei jedoch auf ein neues Rätsel, eine Verzweigung, einen neuen Gang im Gewölbe dieses auf den ersten Blick ganz unspektakulären Lebens eines älteren Mannes, der früher als Notar gearbeitet hatte. Als die Tochter des Toten dem Icherzähler dessen Computer übergibt und dieser versucht, in den dort enthaltenen Dateien und Dokumenten eine Erklärung zu finden, kommt er per E-Mail in Kontakt mit der früheren Freundin seines Freundes. Es ergeben sich Hinweise, eine offenbar ziemlich unheilvolle Rolle scheint ein Grabkreuz aus Holz zu spielen, das dem Verstorbenen einmal gehört hatte.

Der Icherzähler macht sich auf in jenes abgewrackte Dorf im Norden Uruguays, von dessen Friedhof das Kreuz stammte. Stück für Stück enthüllt sich ihm eine schier unglaubliche Geschichte, so verrückt, wie sie nur das Leben schreiben kann. Eine Verkettung von Verhängnissen, die in einem kriminalistischen Sinn jenen Selbstmord nicht restlos aufklärt, innerhalb der Logik des Erfahrens und Erzählens aber ein klares Motiv für einen solchen Schritt freilegt.

Dieses Erzählen ist bei Carlos María Domínguez ein Vorgang von größter Kunstfertigkeit. An einer Stelle des Romans erwähnt er wie beiläufig den russischen Schriftsteller Isaak Babel, in Wahrheit eine ehrfurchtsvolle Verneigung vor einem Großen, bei dem Domínguez mindestens dies gelernt hat: das Verdichten, das Intensivieren, das Präzisieren des Sprachmaterials, auf dass es zu seiner höchstmöglichen Wirksamkeit gelange.

Das betrifft in gleicher Weise die haargenaue Komposition der Geschichte als auch die Feinarbeit an jedem einzelnen Satz oder die reiche Bilderwelt, die dieser Autor aufruft. Wenn es immer wieder literarische Texte gibt, die allein durch ihren Umfang und ihre Epochenhaltigkeit auf eine gewisse Monumentalität zielen, ist hier das Gegenteil zu bestaunen, zu bewundern: ein großer und fein gearbeiteter Roman im kleinen Format.

Besprochen von Gregor Ziolkowski


Carlos María Domínguez: "Der verlorene Freund"
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
166 Seiten, 17,95 Euro
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