Eine Untersuchung der Naturgeschichte
Der Paläobiologe Simon Conway Morris stützt sich in "Jenseits des Zufalls" auf die Tatsache, dass sich in der Evolution permanent ähnliche Merkmale bei nichtverwandten Arten ausgebildet haben, etwa die Augen bei Mensch und Oktopus. Für den Christen Morris widerlegen Konvergenzen die totalitäre Herrschaft des Zufalls in der Evolution.
Im Evolutionsprozess musste menschliches Bewusstsein "nahezu unausweichlich" entstehen, und falls es höheres Leben im sonstigen All gibt, wird es dem irdischen gleichen - inklusive 37 Grad Körpertemperatur bei Aliens. Das behauptet der britische Paläobiologe Simon Conway Morris in "Jenseits des Zufalls". Er stützt sich auf die Tatsache, dass sich in der Evolution permanent ähnliche Merkmale bei nichtverwandten Arten ausgebildet haben, etwa die Augen bei Mensch und Oktopus, deren Entwicklung seit 550 Millionen Jahren getrennt verläuft. Dieses Phänomen heißt Konvergenz.
Für den bekennenden Christen Morris widerlegen Konvergenzen die totalitäre Herrschaft des Zufalls in der Evolution. Morris glaubt an einen großen Plan und setzt sich dabei von Ultra-Darwinisten wie Richard Dawkins genauso ab wie von unerbittlich bibelgläubigen Kreationisten. "Jenseits des Zufalls" ist eine gigantische Spekulation, die Naturwissenschaft letztlich mit Theologie versöhnen will – und ein überaus packender Durchgang durch die Geschichte der belebten Natur.
Natürlich wird es sich nie sauber beweisen lassen, ob der Homo sapiens mitsamt seinem stolzen Bewusstsein schon im Augenblick des Urknalls angelegt war – wie Simon Morris unterstellt. Aber Evolutionsbiologie ist (eben) halb Natur- und halb Geisteswissenschaft, sie kennt harte Fakten und den Streit um Deutungen. In "Jenseits des Zufalls" untersucht Morris die Naturgeschichte von der Synthetisierung der Proteine über das Sozialleben der Ameisen bis zur mutmaßlichen Alleinstellung der menschlichen Reflexivität unter drei Gesichtspunkten: Warum haben sich bestimmte Lebensformen im "Hyperraum" der molekularen Möglichkeiten überhaupt durchgesetzt? Welche Alternativen wären hier oder auf anderen Planeten machbar, welche nicht? Und wie kommt es zu den verblüffenden Konvergenzen in der Evolution?
Morris’ naturgeschichtliche Untersuchung, die beim Leser Kenntnisse auf dem Niveau eines Biologie-Leistungskurses voraussetzt, überzeugt durch Sachkundigkeit, Stilistik und Humor. Man wird hineingerissen in die Arena der Evolution, durchschweift von simplen Kohlenstoff-Verbindungen über die Photosynthese bis zum Werkzeuggebrauch der neukaledonischen Geradschnabelkrähe die Erdgeschichte und erlebt viel Abenteuerliches, Erstaunliches, Wunderbares. Das heißt, man profitiert von der Lektüre von "Jenseits des Zufalls" enorm, selbst wenn man Morris’ spekulative Grundthese anzweifelt: Dass nämlich "Evolution nicht frei flottiert, sondern eine Richtung hat" und dass Zufälle, in der klassischen Evolutionstheorie das A und O aller Prozesse, "auf lange Sicht keine große Auswirkung auf das entwicklungsgeschichtliche Endprodukt haben".
"Jenseits des Zufalls" bekämpft jeden materialistischen Reduktionismus mitsamt den modischen Mythen von der absoluten genetischen Determination des Lebens. Das ist sehr erfrischend, ändert indessen nichts daran, dass Morris seine eigene Evolutionsdeutung ziemlich gebetsmühlenhaft in den sonst fulminant abwechslungsreichen Text integriert. Ob das Schauspiel der Konvergenz eine Neubewertung evolutionärer Prozesse im Morrisschen Sinn nötig macht, werden Fachdiskussionen zeigen. Höchstwahrscheinlich hat sich in "Jenseits des Zufalls" kein neuer Charles Darwin oder Ernst Mayr Gehör verschafft. Wohl aber ein Wissenschaftler, der offensiv mit den Grenzen aller Naturwissenschaft umgeht, anstatt sie in starren Dogmen zu zementieren. Morris befürwortet eine "Aussöhnung zwischen der naturwissenschaft¬lichen Weltsicht und dem religiösen Instinkt" – und sein Buch ist ein bemerkenswerter Schritt dazu.
Rezensiert von Arno Orzessek
Simon Conway Morris: Jenseits des Zufalls,
Wir Menschen im einsamen Universum
Berlin University Press, 367 Seiten, 39,90 Euro
Für den bekennenden Christen Morris widerlegen Konvergenzen die totalitäre Herrschaft des Zufalls in der Evolution. Morris glaubt an einen großen Plan und setzt sich dabei von Ultra-Darwinisten wie Richard Dawkins genauso ab wie von unerbittlich bibelgläubigen Kreationisten. "Jenseits des Zufalls" ist eine gigantische Spekulation, die Naturwissenschaft letztlich mit Theologie versöhnen will – und ein überaus packender Durchgang durch die Geschichte der belebten Natur.
Natürlich wird es sich nie sauber beweisen lassen, ob der Homo sapiens mitsamt seinem stolzen Bewusstsein schon im Augenblick des Urknalls angelegt war – wie Simon Morris unterstellt. Aber Evolutionsbiologie ist (eben) halb Natur- und halb Geisteswissenschaft, sie kennt harte Fakten und den Streit um Deutungen. In "Jenseits des Zufalls" untersucht Morris die Naturgeschichte von der Synthetisierung der Proteine über das Sozialleben der Ameisen bis zur mutmaßlichen Alleinstellung der menschlichen Reflexivität unter drei Gesichtspunkten: Warum haben sich bestimmte Lebensformen im "Hyperraum" der molekularen Möglichkeiten überhaupt durchgesetzt? Welche Alternativen wären hier oder auf anderen Planeten machbar, welche nicht? Und wie kommt es zu den verblüffenden Konvergenzen in der Evolution?
Morris’ naturgeschichtliche Untersuchung, die beim Leser Kenntnisse auf dem Niveau eines Biologie-Leistungskurses voraussetzt, überzeugt durch Sachkundigkeit, Stilistik und Humor. Man wird hineingerissen in die Arena der Evolution, durchschweift von simplen Kohlenstoff-Verbindungen über die Photosynthese bis zum Werkzeuggebrauch der neukaledonischen Geradschnabelkrähe die Erdgeschichte und erlebt viel Abenteuerliches, Erstaunliches, Wunderbares. Das heißt, man profitiert von der Lektüre von "Jenseits des Zufalls" enorm, selbst wenn man Morris’ spekulative Grundthese anzweifelt: Dass nämlich "Evolution nicht frei flottiert, sondern eine Richtung hat" und dass Zufälle, in der klassischen Evolutionstheorie das A und O aller Prozesse, "auf lange Sicht keine große Auswirkung auf das entwicklungsgeschichtliche Endprodukt haben".
"Jenseits des Zufalls" bekämpft jeden materialistischen Reduktionismus mitsamt den modischen Mythen von der absoluten genetischen Determination des Lebens. Das ist sehr erfrischend, ändert indessen nichts daran, dass Morris seine eigene Evolutionsdeutung ziemlich gebetsmühlenhaft in den sonst fulminant abwechslungsreichen Text integriert. Ob das Schauspiel der Konvergenz eine Neubewertung evolutionärer Prozesse im Morrisschen Sinn nötig macht, werden Fachdiskussionen zeigen. Höchstwahrscheinlich hat sich in "Jenseits des Zufalls" kein neuer Charles Darwin oder Ernst Mayr Gehör verschafft. Wohl aber ein Wissenschaftler, der offensiv mit den Grenzen aller Naturwissenschaft umgeht, anstatt sie in starren Dogmen zu zementieren. Morris befürwortet eine "Aussöhnung zwischen der naturwissenschaft¬lichen Weltsicht und dem religiösen Instinkt" – und sein Buch ist ein bemerkenswerter Schritt dazu.
Rezensiert von Arno Orzessek
Simon Conway Morris: Jenseits des Zufalls,
Wir Menschen im einsamen Universum
Berlin University Press, 367 Seiten, 39,90 Euro