Eine untergegangene Welt

09.06.2008
Der italienische Schriftsteller Alberto Vigevani beschreibt in seinen Erzählungen die Welt des jüdischen Großbürgertums in der Zwischenkriegszeit, die er selbst erlebt hat. In "Das Ende der Sonntage" wird immer sonntags zur Belustigung der Kinder ein Gaukler bestellt. In die zunehmend spürbare Bedrohung mischt sich der Abschied von der Kindheit.
Bestechend ist vor allem die Atmosphäre: Schon in den ersten Sätzen von Alberto Vigevanis Erzählungen verbreitet sich eine schwebend-melancholische Stimmung, so als betrachte man alte Fotos, die längst vergilbt sind und an den Rändern eingerissen. Er bewege sich "im rutschigen Labyrinth der Erinnerungen", heißt es an einer Stelle, und tatsächlich beschwören beide Geschichten eine untergegangene Welt herauf. Es ist die Welt des jüdischen Großbürgertums in der Zwischenkriegszeit mit ihren eleganten Wohnungen in der Mailänder Innenstadt, den kosmopolitischen Anbindungen und den kultivierten Freizeitbeschäftigungen.

Alberto Vigevani, 1918 in Mailand geboren, aus einer emilianischen Familien gebürtig, bis zu seinem Tod 1999 als Buchhändler, Verleger und Schriftsteller mit Literatur befasst, war in seiner Kindheit Teil dieser Sphäre, und es ist die Perspektive des allmählich heranwachsenden Kindes, die er in beiden Erzählungen einnimmt.

In "Das Ende der Sonntage" erzählt er von den Besuchen bei einer Großtante, wo zur Belustigung der Neffen- und Nichtenschar allwöchentlich ein Gaukler bestellt wird, ein gewisser Herr Cavallini. Die Kinder lieben diesen Mann, der mit einer Mischung aus schmierigem Komödiantentum, echtem schauspielerischem Können und genialer Verwandlungskunst Zaubertricks und kleine Theaterstücke zum Besten gibt. Sagenumwobenes Arkanum ist sein Kostümfundus, um dessentwillen sogar schon Leute aus Hollywood anreisten, wie die kleinen Zuschauer einander zuflüstern.

Von Sonntag zu Sonntag verändert der schmächtige Herr Cavallini seine Vorstellung, nur der letzte Programmpunkt bleibt immer gleich: eine darstellerische Umsetzung des berühmten italienischen Kinderverses "Die muntere Therese". In diese Darbietung, in der das Mädchen Therese mit lüsternem Vernichtungsdrang einen Schmetterling fängt und der Schmetterling seine gesamte Überzeugungskraft aufbieten muss, um wieder freizukommen, mischt sich bereits die Ahnung des herannahenden Zivilisationsbruches.

Die untergründige Bedrohung vermengt sich gleichzeitig mit dem allmählichen Abschied von der Kindheit, der sich auch durch die Ankunft der ätherischen Cousine Maria Luisa ankündigt. Ein Kostümfest ist geplant, aber dazu kommt es nicht mehr: Herr Cavallini, der zu der besagten Cousine eine besondere Zuneigung gefasst hat, schießt sich mit einem Revolver in die Brust und überlebt nur knapp, der Erzähler, seine Cousins und Cousinen entwachsen den Sonntagsvergnügungen.

"Das Ende der Sonntage" ist eine berührende Geschichte über die Erfahrung der Vergänglichkeit: Das Paradies der Kindheit verdichtet sich immer wieder in bestimmten Lichtverhältnissen, Gerüchen und Geschmäckern. Herr Cavallini ist eine Art Bindeglied, weder den Kindern, noch den Erwachsenen zugehörig, schillernd und ewig entgleitend.

Für die zweite Erzählung "Brief an Herrn Alzheryan" wählt Vigevani die Form des Briefes. Der mittlerweile erwachsene Ich-Erzähler wendet sich an seinen längst verstorbenen Patenonkel, einen Mandanten seines Vaters und wohlhabender Finanzier, der quer durch Europa unterwegs war und regelmäßig in den Grandhotels der Metropolen abstieg. Auch in dieser Geschichte versetzt sich Vigevani in die Kinderrolle zurück und betrachtet die Geschehnisse aus der Froschperspektive.

Vieles an den Gepflogenheiten der Erwachsenen ist dem kleinen Jungen unverständlich und bekommt etwas Geheimnisvolles. Herr Alzheryan besitzt eine besonders starke Aura: Mit formvollendeter Eleganz erledigt er seine Geschäfte und scheint kaum je vom Alltag berührt. Seinen Patensohn bedenkt er mit den schönsten Geschenken. In unaufdringlicher Weise bleibt er die gesamte Kindheit hindurch gegenwärtig, bis er eines Tages den mittlerweile jugendlichen Erzähler und dessen Vater in einem Hotel in Locarno empfängt und schon vom Tode gezeichnet ist.

In "Brief an Herrn Alzheryan" thematisiert Vigevani den Prozess des Erinnern und Heraufbeschwörens fortwährend; es handelt sich mehr um ein Umkreisen versunkener Bilder als um ein lineares Erzählen. Dennoch entsteht ein prägnantes Bild dieses Mannes, der stärker als andere die Zeichen der Zeit zu interpretieren weiß und das Ende seiner Gesellschaftsklasse bereits ahnt.

Dass Vigevani Erzählungen einen so großen Zauber entfalten, liegt zum einen an den Sujets, zum anderen aber auch an seiner klangvollen Sprache. Von Marianne Schneider in ein melodiös-elegantes Deutsch übertragen, stellt sich auch in der Übersetzung das Gefühl einer kammermusikalischen Komposition ein. Genauso formvollendet wie Herr Alzheryan seinen Hut lüftet, entspinnt Alberto Vigevani seine Erinnerungstableaus.


Rezensiert von Maike Albath

Alberto Vigevani, Ende der Sonntage. Zwei Erzählungen.
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider.
Friedenauer Presse 2008. Erzählungen.
144 Seiten, 16 Euro