Eine ungewöhnliche Begegnung

Von Johannes Kaiser · 22.11.2008
James R. Gaines geht in seinem Buch "Das musikalische Opfer" der Frage nach, was Johann Sebastian Bach im Jahr 1747 dazu bewogen haben könnte, die beschwerliche Reise von Leipzig nach Potsdam anzutreten. Schließlich waren Bach und Friedrich der Große zwei Persönlichkeiten, die unterschiedlicher hätten kaum sein können.
Wohl kaum ein anderes Werk im reichhaltigen Schaffen Johann Sebastian Bachs hat eine so denkwürdige, spannungsgeladene und dramatische Vorgeschichte wie "Das musikalische Opfer", das der Komponist nach einem Treffen mit Friedrich dem Großen zwei Jahre vor seinem Tod schrieb. Allein schon der Name gibt ausreichend Anlass zu Spekulationen, denn das Wort Opfer hat eine doppelte Bedeutung: Man ist selbst ein Opfer oder bringt ein Opfer dar. Es ist bis heute ein Rätsel und auch James Gaines hat es nicht gelöst, warum sich der 72-jährige Johann Sebastian Bach 1747 auf die beschwerliche Reise von Leipzig nach Potsdam begab, um sich mit einem Mann zu treffen, der alles verkörperte, was ihm selbst zuwider war, was er aus tiefstem Herzen verabscheute. Der Komponist folgte wohl der Bitte seines Sohnes Carl Philipp Emanuel, des ersten Cembalisten am Hofe Friedrichs des Großen, dem sein Arbeitgeber mehrfach zu verstehen gegeben hatte, dass er den alten Bach kennenlernen wollte. Ein merkwürdiger Wunsch, denn der Preuße war nicht nur ein politischer Gegner des sächsischen Königs, der Bach schätzte und schützte, sondern zudem ein Vertreter der Aufklärung, die weder mit Bachs Gott etwas im Sinne hatte, vielmehr ihn abzuschaffen suchte noch die musikalischen Vorstellungen des Komponisten schätzte, sich vielmehr unverhohlen darüber lustig machte, wie James Gaines gleich zu Beginn seines Buches über das ungewöhnliche Treffen des Komponisten und des Königs anmerkt:

"Bach stand für die Kirchenmusik und vor allem für den ‚Kunstvollen Kontrapunkt’ in Kanon und Fuge, eine jahrhundertealte musikalische Tradition ... Friedrich und die Angehörigen seiner Generation wollten davon nichts wissen. Für sie war der Kontrapunkt das letzte Überbleibsel einer überholten Ästhetik, der sie das ‚Natürliche und Anmutige’ in der Musik entgegenstellten, worunter sie das Vergnügen am eingängigen Lied, die harmonische Ausschmückung einer einzigen Melodielinie verstanden. Für Bach war dieser neue, ‚galante’ Stil mit seinen lieblichen Figuren und seiner modischen Anmut nichts als eine große Leere... Für Friedrich bestand der Zweck der Musik darin, ‚angenehm’ zu wirken ... Er verabscheute Musik, die ...’nach der Kirche schmeckt’, und nannte Bachs Choräle ‚dummes Zeug’."

Im Potsdamer Schloss trafen denn auch an jenem Abend 1747 zwei Welten aufeinander, die sich fremder kaum sein konnten und aus genau diesem Grund hat der amerikanische Autor James Gaines denn auch diese Konfrontation zum Thema seines Buches gewählt.

"In der Musik wie auf fast allen anderen geistigen Gebieten wurden tausend Jahre alte Einsichten, Denkgewohnheiten und Ideen gegen Grundsätze und Denkhaltungen ausgetaucht, die noch heute, dreihundert Jahre später, in Entwicklung begriffen sind und uns noch immer Fragen aufgeben."

Wer nach solchen Sätzen vermutet, James Gaines Gegenüberstellung des Komponisten und des Königs würde nun zur theoretisch-philosophischen Abhandlung über die Glaubenssuche des Barock und die Vernunftwelt der Aufklärung, wird angenehm überrascht. Der amerikanische Journalist führt uns vielmehr in aller Ausführlichkeit in die außergewöhnlichen Biographien der beiden Männer ein, um so indirekt seine These zu belegen. Dabei meidet er alle glamouröse Verzierung und Verklärung, verfolgt kapitelweise abwechselnd beide in ihrem Kampf um Anerkennung und Selbstverwirklichung.

Das schwerere Los hatte sicherlich Friedrich gezogen, den dessen Vater Friedrich Wilhelm war ein manisch-depressiver Herrscher, der zu irrationalen Gewaltausbrüchen gegenüber seinen Untergegeben ebenso wie gegenüber seinen eigenen Kindern neigte. Er schlug seinen Sohn bis aufs Blut, verbot dem von Musik wie Literatur gleichermaßen begeisterten Jungen bei Strafe das geliebte Flötenspiel sowie die Bücher, schickte seine Lehrer in die Verbannung. Friedrichs wiederkehrende Rebellion brach der Vater mit der Einkerkerung des eigenen Sohnes sowie der Hinrichtung seines besten Freundes. Der Prinz unterwarf sich dem Vater, begann eine Karriere als Offizier, wurde ein begeisterter Soldat. Doch zugleich umgab sich der durchaus begabte Flötenspieler mit exzellenten Musikern, förderte die Künste, baute ein extrem teures Opernhaus, lockte bedeutende Denker der Aufklärung nach Berlin, schätzte insbesondere Voltaire.

"Er proklamierte eine Politik absoluter Toleranz, ... brachte eine Justizreform in Gang, ... schaffte die Folter ab, außer in Fällen von Hochverrat und Mord, und schränkte die Pressezensur stark ein. Er verbesserte die Wohlfahrtseinrichtungen und ihre Verwaltung ..., ließ verlauten, dass er sich als ‚ der erste Diener des Staates’ sehe."

Das Bild Friedrichs des Großen als aufgeklärter Monarch kennt man gut. Weniger bekannt ist seine politische Verschlagenheit, die der Autor in vielen verblüffenden Details vorführt. Im Unterschied zu seinem Vater beherrschte Friedrich das Ränkespiel der Diplomatie sehr geschickt, war ein verschlagener und hinterhältiger Opportunist, der mit allen Mittel versuchte, sein Herrschaftsgebiet auszuweiten, sein Macht zu erweitern. So scheute er denn auch vor keinem Krieg zurück, hielt sich ein großes, sehr diszipliniertes, schlagkräftiges Heer. Doch bei allen militärischen Erfolgen fand er keinen Seelenfrieden:

"‚zuletzt machte ihn der Krieg zu einem verbitterten, hoffnungslosen Misanthropen’."

So entwickelte Friedrich der Große schließlich bei aller Aufgeklärtheit dieselbe Menschenverachtung und denselben Zynismus wie sein Vater.
Ganz anders Johann Sebastian Bach, der Zeit seines Lebens viele Demütigungen erleiden musste, dessen Fähigkeiten selten geschätzt und noch seltener belohnt wurden und der dennoch bis zuletzt ein offenkundig lebenslustiger Mensch blieb, der das Weib ebenso schätzte wie den Wein und den Gesang, dabei aber nie vergaß, zu wessen Ehren er komponierte. Er hat seine Musik zum Lobe Gottes geschrieben und das war für ihn keine leere Floskel, wie James Gaines immer wieder anhand von ausführlichen Zitaten aus Briefen belegt. Bach war ein zutiefst gläubiger Mensch und seine Musik ist davon durchdrungen. Allerdings hieß das für ihn keineswegs, dass ihm nun der Himmel die Idee schickte. Seine Kompositionen waren vielmehr Ergebnis harter Arbeit und großen Fleißes. Umso weniger war Bach gewillt, sich der Obrigkeit zu unterwerfen. Angesichts der heutigen Verehrung erscheint es kaum vorstellbar, wie wenig der Komponist von seinen Zeitgenossen geschätzt und verstanden wurde. Seine Arbeitgeber machten ihm das Leben recht sauer, zogen ihm oftmals weitaus schlechtere Musiker und Komponisten vor, worüber er sich wiederholt bitter beschwerte. Genutzt hat es ihm nichts. Es hat ihn aber auch nicht davon abgehalten, weiterhin zu komponieren und zwar zu Gottes Ruhm und Ehre. Ihn fürchtete er, keine weltliche Macht.
Es ist eben diese Haltung, dass es mehr gibt, als Verstand und Vernunft zu erfassen vermögen, die James Gaines zu seiner Gegenüberstellung des Königs und des Komponisten veranlasst hat, der Welt der Aufklärung und der Welt der Romantik, wie er sie nennt:

"‚.. die eine warnt uns vor der Gefahr, dass das Licht der Vernunft blind machen kann für eine tiefere Art von Erleuchtung; die andere weist uns daraufhin, was geschehen kann, wenn wir uns den Mythen überlassen. Da es keine ein für allemal gültige Einigung zwischen ihnen gibt, besteht die Spannung fort – zwischen Vernunft und Glauben, zwischen ratio und sensus, zwischen Friedrich und Bach ... Bachs Musik behauptet es nicht – und doch gelingt es ihr, keinen Zweifel daran zu lassen, dass die Welt mehr ist als ein tickendes Uhrwerk."

James R. Gaines: Das musikalische Opfer. Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung
Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser
Eichborn Verlag München 2008, 350 Seiten, 34 Euro