Eine undurchsichtige Gesellschaft

Von Sabina Matthay · 13.04.2011
Die südafghanische Stadt Kandahar war lange Zeit unter Kontrolle der radikalislamischen Taliban. Jetzt hat ein Bruder des afghanischen Präsidenten Karzai dort das Sagen. Als Geschäftsmann hat er ein Vermögen gemacht hat, als integer gilt er nicht.
Mehrmals täglich ziehen die Konvois von afghanischer Armee und Internationaler Schutztruppe ISAF in gepanzerten Fahrzeugen durch die Hauptstadt der gleichnamigen südafghanischen Provinz – Präsenz zeigen im Herzen des Aufstands. Der ist noch längst nicht bezwungen. Gerade war die Stadt wieder Schauplatz eines Angriffs der Taliban. Das Ziel diesmal: ein Ausbildungszentrum für afghanische Polizisten und Soldaten.

Ein ausgeklügelter Überfall: Erst griffen schwer bewaffnete Kämpfer die Anlage an. Dann explodierte eine Autobombe vor dem Gelände. Sie war an Bord eines Krankenwagens versteckt. Die Opfer: Vier afghanische Geheimdienstler, ein Polizist, ein Soldat. Bei einer ähnlich raffinierten Attacke der Taliban auf die Polizeizentrale von Kandahar im Februar waren mindestens 19 Menschen gestorben. Das lässt zweifeln an den oft beschworenen Fortschritten beim Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte. Und doch gibt Khan Mohammad, der Polizeichef der Provinz, sich gelassen.

"Erobert haben die Taliban die Polizeizentrale damals nicht. Schon möglich, dass es wieder solche Angriffe gibt, aber nicht viele. Denn die Aufständischen haben keine sicheren Rückzugsgebiete mehr."

Die Provinz Kandahar, in der die Taliban-Bewegung einst entstand, in der ihr Anführer Mullah Omar geboren wurde, ist eines der Haupteinsatzgebiete der US-Truppen, die im letzten Jahr massiv aufgestockt wurden, um den Aufstand in Afghanistan zu bekämpfen. Seither hat sich die Sicherheitslage in der Region zum Besseren verändert, stellt Provinz-Gouverneur Toryalai Wesa, fest:

"Die Bewegungsfreiheit ist hervorragend. Früher bin ich in die meisten Distrikte geflogen, heute fahre ich mit dem Auto dorthin: nach Jaray, Spin Boldak, Panjway, Dand, Argandab."

Wo der afghanische Staat bis vor kurzem nicht vertreten war, zieht nach dem Zurückdrängen der Taliban nun wieder eine öffentliche Verwaltung ein, sagt Toryalai Wesa. Die Infrastruktur der Rebellen, ihre Gerichte und Gefängnisse, ihre Unterschlüpfe und Waffenlager sind nach seinen Worten zerstört. Bezirkschefs, Richter, Lehrer können arbeiten, weil afghanische und ausländische Sicherheitskräfte die Gebiete halten.

Von überall in der Provinz kommen die Patienten ins Mirwais-Hospital in Kandahar-Stadt. Meist mit Taxis und Kleinlastern, Ambulanzen gibt es kaum.
Die verschrammten Schwingtüren im Hospital sind mit Postern beklebt, die eine rot durchgestrichene Kalaschnikow zeigen – niemand soll Waffen in das Regionalkrankenhaus bringen. Die Zahl derer, die mit Konfliktverletzungen hierher kommen, ist letztes Jahr sprunghaft gestiegen, sagt Klinikleiter Doktor Mohammad Daoud.

"2010 waren es doppelt so viele Patienten mit Kriegsverletzungen wie im Jahr davor. 2009 führten wir jeden Monat 600 Operationen durch, 2010 waren es 1100. Davon 80 Prozent Notfälle."
400 Betten hat die Klinik, die vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz unterstützt wird. Einhundert Ärzte arbeiten hier. Jetzt im Frühjahr halten ihre Überstunden sich noch in Grenzen – keine Überraschung, die Kampfsaison kommt meist erst im Mai in Schwung, wenn die Fußsoldaten der Taliban die Mohnernte beendet haben. Aber schon jetzt sind die meisten Betten der Intensivstation des Mirwais-Hospitals belegt.

Pfleger Ehsan stellt die Patienten vor: ein Zehnjähriger, ein paar junge Männer, ein Greis – ein einziger Typhus-Patient, die anderen verletzt bei Sprengstoffexplosionen oder durch Gewehrschüsse.

"Der hier ist letzte Nacht angeschossen worden, sagt Ehsan und macht vor dem Bett eines bleichen Mannes halt. Sein rechter Arm ist eingegipst, durch den linken wird der Verletzte intravenös ernährt. Die Taliban haben ihn angeschossen, Bauchverletzung, aber jetzt ist er stabil."

Der Mann war als Fahrer für die Bezirksverwaltung von Arghandab unterwegs. Die Kontrolle über den Distrikt haben die Aufständischen zwar abgeben müssen, doch Kämpfer liegen dort immer noch im Hinterhalt.

Es sind vor allem Zivilisten, die ins Mirwais Hospital eingeliefert werden.
Menschen, die ins Kreuzfeuer der Gefechte zwischen Internationaler Schutztruppe und Aufständischen geraten, die bei Luftschlägen der ISAF verletzt werden oder bei der Explosion von Bomben, die die Rebellen eigentlich Soldaten zugedacht hatten.

Oft sind auch Polizisten unter den Verletzten, sagt Dr Daoud. Dass er schon Kämpfer behandelt hat, kann er nicht ausschließen. Sie tragen keine Uniform und das Klinikpersonal fragt ohnehin nicht:

"Wir wollen nicht wissen, ob es Rebellen oder Talibs oder Soldaten sind. Unsere Aufgabe ist es, Patienten zu behandeln. Die Tür steht allen Menschen in Afghanistan offen."

Auf dem Gelände hinter dem Krankenhaus steht ein Kühlcontainer, in dem die Leichen ausländischer Rebellen aufbewahrt werden. Kämpfer aus Usbekistan, Tadjikistan, Saudi-Arabien, heißt es. Anders als die meisten öffentlichen Einrichtungen von Kandahar-Stadt war das Mirwais-Hospital noch nie Ziel von Angriffen, anders als viele öffentliche Bedienstete sind die Ärzte und Pfleger noch nie bedroht worden. Doch für Ehsan steht fest: Es bleibt gefährlich in Kandahar, auf dem Land und in der Stadt:

"Das Gefühl der Verunsicherung ist allgegenwärtig."

Entwicklungshelfer beklagen, dass ein nachhaltiger Aufbau in Kandahar nach wie vor nicht möglich sei. Ausländer kommen selten raus aus ihren stark gesicherten Unterkünften, einheimische Kollegen werden eingeschüchtert.-
Trotz militärischer Erfolge im umkämpften Süden bleibt auch der ISAF-Oberkommandierende General Petraeus vorsichtig:

"Die Taliban wollen einige ihrer wichtigen Zufluchtsorte zurückerobern, die sie im Herbst eingebüßt haben. Vor allem die rund um Kandahar sowie Taliban-Chef Mullah Omars Heimatort und die Bezirke Jaray und Panjway."

Die Fortschritte der Aufstandsbekämpfung in Afghanistan sind nach Petraeus Worten immer noch umkehrbar. Der ISAF-Chef weiß, dass der Feind nicht nur militärisch zurückgedrängt werden muss, sondern dass ihm auch die Sympathien der Bevölkerung abgenommen werden müssen. In Kandahar ist das noch nicht gelungen. Bei den jüngsten Ausschreitungen nach den Koranverbrennungen in den USA stürmten hunderte junge Männer durch die Straßen der Stadt, schwenkten die schwarze Fahne der Taliban und skandierten Sprechchöre zu Ehren von Rebellen-Chef Mullah Omar.

Mitten in Kandahar residiert der Mann, an dem hier niemand vorbeikommt. Ahmad Wali Karzai erläutert Besuchern gern das Familienphoto in seinem Salon. Doch in Kandahar muss niemand daran erinnert werden, dass der Chef des Provinzrates der jüngere Halbbruder des afghanischen Präsidenten ist.
Er selbst erklärt seinen Einfluss lieber mit dem Umstand, dass die Karzais zum paschtunischen Popolzai-Stamm gehören, einem Unterclan der Durrani, aus dem viele afghanische Könige hervorgegangen sind.

Als Brücke zwischen dem Volk und der Regierung beschreibt der bullige Mann mit dem sorgfältig gestutzten Schnäuzer seine Funktion. Noch sei Afghanistan eben nicht reif für eine moderne Demokratie.

Mehrere dutzend Stammesälteste warten an diesem Tag in Wali Karzais Vorzimmer darauf, zu ihm vorgelassen zu werden. Seit seiner Rückkehr aus den USA 2001 hat er seinen politischen Einfluss in ein Wirtschaftsimperium umgemünzt. Immobilien-, Logistik-, Bauunternehmen gehören dazu, die vor allem für das ausländische Militär arbeiten und international finanzierte Aufbauprojekte umsetzen.

Wali bestreitet, dass er an dem Geldsegen aus dem Ausland teil hat: Niemals habe er Aufträge erhalten, auch niemand, der ihm nahestehe - sagt er. Doch den Karzais gehört die Asia Group International, ein Konzern, der auch große Wachschutzunternehmen umfasst, legitimer Mantel für Milizen.

Dass Wali Karzai auch vom Opiumhandel profitiert, dass er auf der Gehaltsliste des CIA steht, dass er einen Schnitt von jeder größeren Transaktion in Kandahar erhält – all das weißt er zurück.

Wieder und wieder bezeichnen Gesprächspartner in Kandahar den jüngeren Halbbruder von Präsident Karzai als eigennützig und korrupt. Und als so mächtig, dass niemand ihn offen kritisieren mag, schon gar nicht in ein Mikrophon hinein.

Das Dilemma für die internationale Gemeinschaft: Wali Karzais Macht und Einfluss machen ihn einerseits zu einem effektiven Partner in Kandahar.
Doch der Oligarch, der sich auf Kosten der Mehrheit bereichert, untergräbt die Unterstützung für den ohnehin schon schwachen afghanischen Staat und stärkt die Sympathien für die Taliban.