Eine überfällige Wiederentdeckung

27.09.2007
Zum 80. Geburtstag von Ernst Augustin erscheint dessen Buch "Mamma" in einer Neuauflage. Unter dem neuen Titel "Schönes Abendland" zeichnet Augustin eine amüsante und zuweilen satirisch-bösartige deutsche Sittengeschichte. Mit spitzer Feder nimmt er den Handel, das Militär und die Ärzteschaft aufs Korn.
Ende Oktober wird er 80. So könnte man seinen jetzt erneut herausgekommenen Roman "Schönes Abendland" als Geburtstagsgeschenk an sich selbst, aber auch für uns verstehen, denn er ist eine geringfügig überarbeite Fassung des bereits vor 37 Jahren erschienenen Buches "Mamma". Wer das alte Buch nicht kennt, wird jetzt am neuen Alten das Vergnügen haben, einen Schriftsteller zu entdecken, der trotz vieler Ehrungen nie wirklich bekannt geworden ist. Zu Unrecht, wie jetzt noch einmal nachdrücklich "Schönes Abendland" beweist - ein Schelmenroman, eine amüsante, bisweilen satirisch-bösartige deutsche Sittengeschichte, ein Kulturgemälde in satten, prallen Farben, hinreißend erzählt mit großem Schwung, in süffisantem Ton, voll fantastischer Geschichten.

Das Buch beginnt mit einer alten Legende – angesiedelt irgendwo im Mittelalter: drei Männer, ein Kaufmann, ein General und ein Arzt sind zum Tod durch die eiserne Jungfrau verurteilt. Der Erzähler verschweigt uns jedoch warum. Er begleitet ihre letzten Schritte.

Szenenwechsel. Deutschland irgendwann Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Eine Mutter begiert Drillinge, drei charakterlich völlig verschiedene Kinder. Jedes von ihnen erzählt nun in Ich-Form seine Geschichte. So zerfällt das Buch in drei Kapitel, deren Inhalte sich bisweilen berühren, weil die Protagonisten nun mal Brüder sind und deswegen häufiger aufeinandertreffen, aber ansonsten wenig miteinander zu tun haben. Die Berufe, die sie ergriffen haben, Kaufmann, General und Arzt führen sie in völlig verschiedene Milieus. Sie geben Ernst Augustin die Möglichkeit, sich dreimal abenteuerliche Lebensläufe auszudenken.

Sani zeigt schon in seiner Kindheit Händlertalent. Geschickt versteht er es, sich beim Tausch von Kolonialbildern für Sammelalben mit Raritäten Ansehen und ein üppiges Taschengeld zu verschaffen. Er weiß, wie man selbst den unscheinbarsten Waren Glanz verleiht, vermag den Leuten Dinge schönzureden. Vermeintliche Niederlagen verwandelt er in Siege. Unfreiwillig wird er zum erfolgreichen Importeur schwedischen Branntweins. Als er in Russland beim Pelzhandel betrogen worden ist, weiß er daraus Vorteil zu schlagen. Der Tuchhandel schließlich macht ihn reich und bringt ihm eine Frau. Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer.

Kulle, nicht gerade der Hellste, aber kräftig und durchsetzungsfähig, nutzt auf seine Art und Weise Situationen zu seinem Vorteil. Beim Militär jedenfalls steigt er rasch die Karriereleiter hinauf, denn im rechten Moment weiß er sich geschickt einzuschleimen. So kommt er frühzeitig zu Generalsehren. Augustins Schilderungen der Verhältnisse kann man nur als Satire auf preußische Offiziersmentalität verstehen – er schreibt wie Otto Dix malt: karikaturenhaft überzeichnet, spöttisch-bissig.

Bleibt noch Beffchen übrig, der sich zwar nicht besonders erfolgreich als Medizinstudent versucht, aber seine Umgebung so geschickt täuscht, dass ihn alle für einen fähigen Mediziner halten. Die Katastrophe ist vorbestimmt. Ernst Augustin, immerhin approbierter Arzt gibt hier seiner Fantasie die Sporen. Die Operation, die er beschreibt, ist von hanebüchener Absurdität, hat Slapstick-Charakter.

Im Prinzip gilt das für alle Geschichten, die er uns im Buch auftischt. Selbst der Titel "Schönes Abendland" lässt sich eigentlich nur als pure Ironie verstehen. Es sind amüsante Schnurren, rasant aneinandergereiht. In weniger Sätzen entwirft Ernst Augustin ganze Seelenlandschaften. Für diesen Roman gilt denn auch wie für alle seine Bücher: Sie sind Erkundungen der menschlichen Psyche. Das liegt bei einem ausgebildeten Arzt, Neurologen und Psychiater, der sich damit auch Zeit seines Lebens seinen Lebensunterhalt verdient hat, durchaus nahe. Diese Erfahrungen sind in seine Romane mit eingegangen. Eine überfällige Wiederentdeckung eines großen Erzählers.

Rezensiert von Johannes Kaiser

Ernst Augustin: Schönes Abendland
C.H. Beck Verlag 2007 München
436 Seiten, 22,90 Euro