Eine transatlantische Amour fou

07.05.2012
In diesem Liebesthriller schildert Andrea de Carlo die spannungsreiche Begegnung eines italienischen Schriftstellers mit einer Amerikanerin. Im Mittelpunkt stehen der erotisierte Kampf der Geschlechter - und die Kulturkonflikte zwischen alter und neuer Welt.
Die Geschichte beginnt mit einem Crash: Kurz hinter der Autobahnausfahrt Mailand Südwest krachen zwei schwere Autos aufeinander, ein schwarzer Mercedes und ein Jaguar. Drei Menschen sind in den Unfall involviert. In dem Mercedes sitzt der Mailänder Anwalt Stefano und seine amerikanische Freundin Clare, in dem Jaguar der bekannte italienische Schriftsteller Daniel Deserti, der den Unfall verschuldet hat. Er war betrunken.

Die Geschichte geht zunächst ihren üblichen Gang: Man begutachtet den Blechschaden am Auto, tauscht die Versicherungs- und Telefonnummern aus, verabschiedet sich missgelaunt. Wie in all seinen Romanen lässt sich der italienische Bestsellerautor Andrea de Carlo auch in seinem neuesten Buch "Sie und Er" ziemlich viel Zeit für die Entwicklung von Dramen und Tragödien. Nahezu unauffällig treiben sie zunächst auf der Oberfläche des Alltags dahin.

So dauert es auch in diesem Roman mehrere hundert Seiten, bis sich zeigt, dass den Schriftsteller Daniel Deserti und die Amerikanerin Clare mehr als ein kleiner Zufallsflirt verbindet. Sehr viel mehr sogar - eine wilde, schicksalshafte Amour fou.

Andrea de Carlo ist ein Spezialist für das Genre des sogenannten Liebesthrillers, genauer gesagt, des transatlantischen Liebesthrillers. Mehrere seiner Romane spannen sich zwischen Amerika, wo de Carlo selbst mehrere Jahre lang lebte, und Italien aus und unterfüttern den erotisierten Kampf der Geschlechter mit Kulturkonflikten zwischen alter und neuer Welt.

Auch die Amerikanerin Clare, die mehrere Jahre in einem idyllischen Landhaus in Ligurien lebte und nur dem Anwalt Stefano zuliebe in die Geschäftsmetropole Mailand zog, hadert mit dem Prestigegehabe der Mailänder Bourgeoisie. Von Stefano fühlt sie sich weniger geliebt denn benötigt, um die Kulisse der Wohnung zu ergänzen, die er mit ihr gemeinsam beziehen will.

Clare zögert. Sie wartet auf etwas in ihrem Leben, von dem sie nicht genau sagen könnte, was es eigentlich ist: der richtige Beruf, der richtige Wohnort, der richtige Mann. In dieser Stimmung ist sie empfänglich für die Avancen Daniel Desertis. Sie treffen sich in der Bar, plaudern miteinander, vor allem aber streiten sie von Beginn an unerbittlich miteinander.

Diese zur Schau getragene Abwehr ist allerdings nichts anderes als das beste Indiz für ihre unerhörte Anziehungskraft: Ein klassisches Motiv der Literatur. Erhöht wird die erotische Spannung zwischen dem Italiener und der Amerikanerin durch den fast unbewegten Protokollstil de Carlos. Dieser verdankt sich zum einen der Zeitform des Präsenz, zum anderen der drehbuchhaften Organisation des Romans. Er ist in eine Vielzahl szenischer Kapitel eingeteilt und ließe sich vom Blatt weg in verfilmen.

Diese äußerliche Nüchternheit täuscht und eben darin liegt der Reiz der Lektüre. Denn das Protokoll geht plötzlich über in ein wildes Furioso. Andrea de Carlos Roman endet wie er begann, mit einem gewaltigen Crash; mit einer rasanten Verfolgungsjagd der Liebenden quer über den Atlantik.

Besprochen von Ursula März

Andrea de Carlo: Sie und Er
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Diogenes Verlag 2012
641 Seiten, 22,90 Euro
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