Eine "theaterhafte Inszenierung"

Moderation: Joachim Scholl · 22.07.2005
Der Journalist und Drehbuchautor der Serie "Das Kanzleramt", Martin E. Süskind, Martin E. Süskind hat die Geheimnistuerei um die Entscheidung des Bundespräsidenten über Neuwahlen als theaterhafte Inszenierung bezeichnet. Es sei unnötig gewesen, den Termin erst so kurz vor der Ansprache bekannt zu geben. Sowohl das Prozedere wie auch die Rede selbst hätten sich in erster Linie an das Bundesverfassungsgericht gerichtet.
Scholl: Nun ist es also raus: der Bundestag wird aufgelöst, Neuwahlen sind anberaumt mit dem Vorbehalt des möglichen Einspruches des Bundesverfassungsgerichts. Horst Köhler hat sich für seine Entscheidung die Zeit genommen, die ihm laut Verfassung zustand, nämlich 21 Tage, aber trotzdem machte er es ungewöhnlich spannend, was den Zeitpunkt der Verkündigung anbetraf. Buchstäblich ließ der Präsident die Journalisten gestern im Regen stehen, stundenlang wurde das Bundespräsidialamt belagert, kein Mucks bis endlich gegen Nachmittag die erlösende Meldung kam. Martin E. Süskind, alter Fahrensmann im politischen Geschäft, was für ein Stück wurde denn da gestern gespielt?

Süskind: Das war interessant, die Geheimnistuerei bis zuletzt war natürlich unnötig, was den Termin angeht. Es kommt mit so ein bisschen vor, dass bestimmte Berater gesagt haben, wir wollen den Spannungsbogen dann doch halten und die Geschichte so lange ausnutzen, bis wir uns eben äußern müssen und der gestrige Termin oder spätestens der heutige Tag wären der letzte Termin gewesen, an denen der Bundespräsident diese Entscheidung hätte treffen können, damit innerhalb von 60 Tagen, nämlich dann am 18. September, gewählt werden kann.

Scholl: Wie haben Sie die Rede empfunden, wie hat der Bundespräsident auf Sie gewirkt?

Süskind: Ich fand den Bundespräsidenten ungewöhnlich ernst und angespannt, er hat sich diese Rede sehr sorgsam ausarbeiten lassen und alles vermieden, was möglicherweise dem Bundesverfassungsgericht als ein Indiz darauf hätte erscheinen können, dass er seine Entscheidung möglicherweise mit Zweifeln behaftet trifft. Es wurde von ihm nichts gesagt, was möglicherweise bei der Verhandlung, die ja nun kommt vor dem Verfassungsgericht, wenn die beiden Klagen eingereicht werden, so ausgelegt werden könnte, als hätte er Zweifel und das ist ganz wichtig.

Scholl: Die Rede war sozusagen judikativ abgesichert.

Süskind: Absolut.

Scholl: Ich habe allerdings zwischendurch wirklich Schwierigkeiten gehabt, sie zu verstehen in diesem Sinne, wenn man also diese Formulierung des Bundesverfassungsgerichts von 1983 nicht so parat hat, dann war das glaube ich ganz schön schwierig für normale Menschen, oder?

Süskind: Da haben Sie völlig Recht. Wer sich mit dieser Frage noch nicht wirklich im Detail beschäftigt hatte, stand gestern mit großem Erstaunen und eigentlich ganz verständnislos vor dieser Darbietung, denn es wurde wirklich nicht dem Bürger, dem Volk in normalen Worten erklärt, was nun passiert oder warum es passiert ist, sondern es wurde im Grunde mit der Adresse Karlsruhe, Verfassungsgericht in Formulierungen vom Bundespräsidenten geredet, die in der Tat die Entscheidung von 1983, wo Herr Kohl schon mal ein solches Manöver inszeniert hatte, sehr genau aufnahm, damit eben die jetzige Entscheidung auch gerichtsfest war. Nein, es war eigentlich am Volke vorbei in Richtung der Verfassungsinstitutionen geredet.

Scholl: Über einen einfachen Satz bin ich dann aber doch erschrocken. Der Bundespräsident hat auch die Plagen aufgezählt, die uns momentan in Deutschland so heimsuchen: Arbeitslosigkeit und dann kam der schlichte Satz "wir werden immer älter", da dachte ich: ist das jetzt eine Plage? Das ist doch eigentlich schön. Wer hat ihm denn diesen Satz da reingeschrieben?

Süskind: Da hat er den Zusatz, der normalerweise jeder Politiker, wenn er über die Alterspyramide spricht, noch sagen müssen: und wir sind natürlich dankbar dafür, dass wir älter werden, unterlassen. Mir ist es auch aufgefallen, aber ich fand es sozusagen in seiner Schlichtheit dann doch nicht störend.

Scholl: Kommen wir zurück auf das politische Ritual, wenn man es so nennen kann, diese 21 Tage, dieser Verlängerung der Spannung. Sie können sich als Journalist natürlich vorstellen, wie es auch in unserer Redaktion gestern aussah: Man saß vor dem Computer und wartete und überlegte hin und her, was machen wir, wenn die Entscheidung so fällt, wenn sie um 20.15 ist, um 10 Uhr morgens - ich denke, tausenden von Journalisten in allen Redaktionen dieser Republik ging es genauso und oft ist der Seufzer gefallen: was soll denn das, was soll denn dieses Theater? Und selbst gestern im Fernsehen habe ich einen moderaten Fernsehmann, wie Peter Hahne, der ja auch christliche Kolumnen in der Bild am Sonntag schreibt und eigentlich alles liebt, was lebt, also auch den Bundespräsidenten, wirklich unwirsch knibbern hören: also, dass er uns jetzt hier so im Regen stehen lässt - wirklich wortwörtlich, man sah also strömenden Dauerregen in Berlin - das ist uns allen ein Rätsel. Sie sagten vorhin, die Berater haben sich das ausgedacht - Horst Köhler ist eigentlich nicht so der Typ, bei dem man denkt, er hat groß Sinn fürs Dramatische; Sie kennen diese Bundespräsidenten nun in- und auswendig, Sie haben Bücher darüber geschrieben - hat er da selber mitgespielt?

Süskind: Das kann ich nicht sagen. Natürlich, es war unnötig. Wir müssen zweierlei voneinander scheiden: dass er diese Frist ausnützt, möglichst bis zuletzt, war im Sinne einer positiven Entscheidung, was die Neuwahlen angeht, notwendig, denn die 60-Tage-Frist beginnt ja erst, nachdem er die Entscheidung gefällt hat und es sollte der 18. September als Wahltermin unbedingt angesteuert werden. Das ist, wenn man so will, der erste Sonntag, nachdem nirgendwo mehr in der Bundesrepublik Freien sind.

Scholl: Das ist ja auch laut Artikel 39 klar geregelt. Nur hätte man ja auch vor drei Tagen schon sagen können: Okay Leute, am Donnerstagabend um 20 Uhr gehen wir auf Sendung und dann könnt ihr euch in aller Ruhe vorbereiten.

Süskind: Man hätte von Anfang an sagen können, am Donnerstagabend, dem 21. Juli werde ich das verkünden, bereitet euch vor, wie die Entscheidung ausfallen wird, ist offen. Das Risiko der Kommentierung haben Sie immer noch, aber ich werde es dann und dann. Dann wäre diese in der Tat etwas theaterhafte Inszenierung unnötig gewesen. Aber fragen Sie mich nicht. Ich denke, dass der Grund war, überhaupt nichts zu sagen, um wiederum den anderen Verfassungsinstitutionen, insbesondere Karlsruhe, nicht den mindesten Anlass zu geben, sich möglicherweise am Verfahren aufzuhängen.

Scholl: Gleichzeitig hat die Öffentlichkeit die letzten 21 Tage so getan, als ob die Entscheidung längst gefallen sei. Die Parteien haben während Köhlers Bedenkzeit bereits laut ihre Nägel für den Wahlkampf eingeschlagen, so als wäre die Entscheidung doch letzten Endes nur eine Formalität und präsidiales Protokoll.

Süskind: Das ist natürlich notwendig. Wenn Sie einen Wahlkampf innerhalb von zwei, drei Monaten organisieren müssen, dann müssen Sie loslegen wie die Feuerwehr und Sie müssen auf die Gefahr hin loslegen, dass es nicht dazu kommt. Dass die Parteien sofort anfingen, ihre Listenparteitage zu machen, also die Aufstellung der künftigen Kandidaten, hat wiederum mit dem Parteiengesetz zu tun, das heißt, die mussten bestimmte Fristen wahren auf die Gefahr hin, dass es nicht zu dieser Neuwahl kommt. Aber ich und die meisten hätten hohe Summen darauf verwettet, dass der Bundespräsident bei dieser Sachlage, die ja noch eindeutiger war, als sie vor zwanzig Jahren in der vergleichbaren Situation von Helmut Kohl gewesen ist, dass er sich für Neuwahlen entscheiden würde. Es kann natürlich immer noch dazu kommen, dass alle Mühe der Parteien, die sich jetzt auf die Neuwahl einrichten, umsonst gewesen ist, denn das Verfassungsgericht kann theoretisch noch am 17. September sagen: nein, morgen wird nicht gewählt.

Scholl: In einem Artikel, der heute in der Frankfurter Rundschau ist, heißt es, dass Köhler eigentlich des Kanzlers Spielfigur sei. Sie haben gerade erläutert, dass er diese Zeit ausgenutzt hat und währenddessen ist das politische Leben ganz normal weitergegangen, als sei die Entscheidung schon gefallen. Laut Verfassung ist die Auflösung des Bundestages die einzige wirkliche Exekutive, die er hat, hier hat er Macht zu sagen ja oder nein, gleichzeitig hat man das Gefühl Spielfigur oder nicht, hat er wirklich diese Freiheit, gegen den Strich zu bürsten?

Süskind: Er hat sie dann doch wieder nur in eingeschränktem Maße. Er hätte sagen können nein, aber er würde so etwas nicht tun auf die Gefahr hin, dass die Institution seines Amtes möglicherweise beschädigt oder sogar ins Lächerliche gezogen wird. Wenn der Bundeskanzler ihm dann unterlegt mit einer wie auch immer fingierten Vertrauensfrage - und das hat das Bundesverfassungsrecht ja vor zwanzig Jahren dann auch schon so gesehen - wenn der Bundeskanzler dem Bundespräsident signalisiert, ich glaube nicht mehr an eine stetige verlässliche Mehrheit im Bundestag und bitte dich deshalb nach dieser verlorenen Vertrauensfrage den Bundestag aufzulösen, dann hat der Bundespräsident im Zusammenhang dessen, was in der Rechtsprechung dazu gesagt wurde, eigentlich sehr wenig Möglichkeiten, dem zu widersprechen, es sei denn, er ist ganz fest davon überzeugt, dass seine Argumente die besseren sind und wozu sollte Köhler eine solche Haltung einnehmen, der doch selber, als er noch politisch tätig war und auch in seinen Reden als Bundespräsident immer wieder gesagt hat, Deutschland braucht eine Erneuerung und Reformen. Es war also auch ganz im politischen Sinne dieses Bundespräsidenten.

Scholl: Eine letzte Frage an den Drehbuchautor der TV-Serie Kanzleramt: Hätte Sie das gestrige Procedere als Autor inspiriert, wäre das ein dramatischer Stoff?

Süskind: Ich hätte es natürlich genau andersrum inszeniert. Ich hätte gesagt, der Bundespräsident widerspricht, der Kanzler kommt in Schwierigkeiten, er muss zurücktreten und es beginnt eine Kette von Verwicklungen, die hochspannend ist. So hätte ich es gemacht, aber da ist eben die Fiktion und nicht die Wirklichkeit.