Eine Talmudseite am Tag ist genug

Von Gerald Beyrodt |
Wer sich in Deutschland zum Judentum fortbilden will, stößt schnell an Grenzen. Das ist in Jerusalem natürlich anders. Wer eine moderne Talmudschule sucht - für Juden und auch Nicht-Juden, für Männer und Frauen aus der ganzen Welt - findet sie dort
Keine Seminararbeiten, keine Scheine und keine Noten. Stattdessen zu zweit über Talmudseiten brüten, sich gegenseitig die Sätze vorlesen, kommentieren, streiten. So lernen jüdische Studenten in einer Jeschiwa – einer Talmudschule. In der Conservative Yeshiva in Jerusalem eignen sich Juden aus der ganzen Welt bessere Kenntnisse ihrer Religion an. Der Direktor Rabbiner Daniel Goldfarb:

"”Wir arbeiten wie andere Talmudschulen, in dem Sinn, dass wir traditionelle jüdische Texte studieren. An vier Vormittagen in der Woche lesen wir zu zweit Talmud, denn das ist einfach der klassische jüdische Text. Jüdische Philosophie, jüdisches Gesetz und Sitten sind aus dem Talmud abgeleitet.""

Doch es gibt große Unterschiede zu den traditionellen Talmudschulen. Dort lernen ausschließlich Männer die traditionellen Gesetze und beten vor. An der Conservative Yeshiva lernen und beten Männer und Frauen hingegen gemeinsam.

So ist das Wort "konservativ" für deutsche Ohren etwas irreführend, denn die so genannte Conservative Yeshiva ist in Wirklichkeit sehr viel progressiver als die traditionellen Talmudschulen. Daniel Goldfarb:

"Ein Unterschied betrifft die Rolle der Frau. Auch die Frage, ob Homosexuelle Rabbiner oder Kantoren sein können. Wir finden, dass man die klassischen Texte auf solche Fragen hin untersuchen muss, und nach Wegen suchen muss, die Menschen innerhalb der Möglichkeiten des traditionellen jüdischen Gesetzes willkommen zu heißen. Ich bin sehr froh, dass wir solche Wege gefunden haben."
An der Conservative Yeshiva sind Rabbinerinnen eine Selbstverständlichkeit, Schwule und Lesben trifft man häufig. Das offene, liberale Klima macht es für viele möglich, sich wieder ihrem Judentum zuzuwenden und sich größeres Wissen anzueignen - mit sechzig genauso wie mit zwanzig. Der 22-jährige Joseph aus Manchester hat gerade sein Studium abgeschlossen und will demnächst Buchhalter werden. Vorher steht die Frage seinem Programm, wie er es denn mit seinem Judentum halten möchte.
"Ich bin in England zwar jüdisch aufgewachsen, aber ich halte mich nicht an besonders viele jüdische Regeln. Man erzählt uns ja gerne, was wir alles tun sollen und wann wir es tun sollen. Aber ich weiß häufig gar nicht, welche Texte die Basis für die Verhaltensregeln sind."

Zum Beispiel predigen viele Rabbiner, dass Juden am Schabbat keinen elektrischen Strom benutzen sollen, nicht Auto, Fahrrad oder Zug fahren sollen. Joseph fragt sich, ob solche Regeln noch zeitgemäß sind. Heute brauche man doch Technik für fast alles. An der Conservative Yeshiva hat er zum Beispiel Kurse über jüdische Ethik, über das "Dilemma des Fleischessens" und Hebräischunterricht belegt. Die Frage nach dem Schabbatregeln hat die 27-jährige Tamara Wolf aus New Jersey schon schon für sich beantwortet.

"Ich finde, Schabbat sollte ein Tag sein, den man mit seinen Freunden und seiner Familie verbringt. Was soll schlecht daran sein, wenn ich in mein Auto steige und meine Großeltern besuche? Solche Regeln haben einfach keinen Sinn, finde ich."

Das Talmudstudium an der Conservative Yeshiva hat Tamara Wolf gut gefallen. Denn der Talmud zeige doch selbst, wie Regeln über die Jahrhunderte entstanden, wie kontrovers sie diskutiert wurden und wie veränderbar sie seien. Auch das jüdische Gesetz, die Halacha, sei sehr flexibel.

Die gesamte jüdische Tradition können die Studenten an der Conservative Yeshiva nicht kennen lernen. Denn allein der Talmud ist so lang wie der Große Brockhaus, und mehr als eine Talmudseite ist am Tag nicht zu schaffen. Der Direktor Daniel Goldfarb:

"Viele Teilnehmer merken bei uns erst mal, was sie alles nicht wissen. Wer die jüdische Literatur nicht sehr gut kennt, der merkt nicht, welches Wissen ihm fehlt."

Jüdisches Wissen auffüllen kann man an der Conservative Yeshiva mit einem ganzen Studienjahr, mit Sommerkursen, mit einigen Wochen oder Monaten in Jerusalem oder auch mit Onlinekursen am eigenen Computer im Heimatland.