Eine Spurensuche im Irak

Was vom IS bleibt

08:31 Minuten
Aufsicht auf benutzte Patronenhülsen im grauen Sand.
Patronen im Sand nach einem Gefecht mit dem IS bei Mosul, unweit des Dorfes Bashika. © picture-alliance/EPA/Amel Pain
Von Alexander Bühler · 12.08.2019
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Der IS ist niedergeschlagen. Doch die Wunden, die das Kalifat-Regime geschlagen hat, klaffen noch immer - insbesondere in den einstigen Frontgebieten und unter den Jesiden, die von den Gotteskriegern misshandelt, entführt und vergewaltigt wurden.
Ich begleite eine Patrouille durch das Dorf Bashika im Irak. Jesiden, die ihr Dorf vor potentiellen Angreifern des Islamischen Staats schützen wollen. Angeblich ist der schon längst besiegt. Doch hier, gerade einmal zehn oder 20 Kilometer von der ehemaligen IS-Hauptstadt Mossul entfernt, kann man das nicht wirklich glauben. Zu nahe waren die Feinde, sagt einer der lokalen Jesidenführer, Abu Dara:
"Zwei, drei Kilometer und dieses Dorf hier. Das ist, sagen wir, unsere Grenze, hier bis zur Hauptstraße, bis Sheikhan und Mossul. Ungefähr zwölf Kilometer entfernt. Da sind fünf Dörfer, alle ISIS. Die haben uns alles genommen. Jetzt sitzen sie wie die Heiligen zuhause. Das lässt uns nicht los."

Vom IS verschleppt, ermordet und versklavt

Zu hunderttausenden wurden die Jesiden von IS-Kämpfern verschleppt, ermordet, versklavt. Und gerade in dieser Nacht fühlen sich die Bewohner der Kleinstadt Bashika daran erinnert. Denn zwei Brüder aus einem Nachbardorf haben sich nach einer Wirtshausschlägerei gegenseitig bezichtigt, IS-Kämpfer gewesen zu sein.
Die Polizei brauchte nur im Computer nachzuschauen, um die beiden auf einer Liste von IS-Leuten zu finden. Genauso wie 15 weitere Männer, die von beiden benannten wurden. Allerdings unter dem Druck von Prügel und möglicherweise Folter.

Die Räumung der Minenfelder läuft - langsam

Später am Abend stellt Abu Dara mir einen jungen Mann vor, einen Minenentschärfer. Er soll in Bashika die gefährlichen Hinterlassenschaften des IS beseitigen. Denn der IS hat systematisch bei seinem Rückzug Orte vermint, um zu verhindern, dass sich die Vertriebenen wieder neu ansiedeln.
In Sinjar beispielsweise, wo die meisten Jesiden lebten, sind die Räumtrupps immer noch dabei, die Region - langsam - zu säubern. "Allein in einem Sommer haben die 34 Tonnen rausgenommen", erzählt Abu Dara. "1700 Minen allein in Bashikka. Dann kamen die Peshmerga hierher und sagten, mehr dürfe er nicht. Viel steht noch hier. Viel."
Im Großen und Ganzen hatten die Bewohner von Bashika Glück, sie konnten rechtzeitig vor der Invasion durch den IS fliehen. Zwar waren ihre Häuser und Geschäfte bei ihrer Rückkehr geplündert. Aber sie haben überlebt.

Vergewaltigung und Versklavung

Doch können sie auch wieder Frieden finden? Oder hat es der IS geschafft, mit der Vergewaltigung und Versklavung der jesidischen Frauen das soziale Gefüge zu zerstören, frage ich Abu Dara. Der wendet sich an den Sprengstoffexperten, der selbst ein junger Familienvater ist: "Die Frauen, die der IS entführt und versklavt hat, was machen wir mit den Kindern, die sie von ISIS bekommen haben?"
"Ihre Zukunft ist ungewiss", antwortet der Sprengstoffexperte. "Ich werde nichts riskieren. Wenn Vater und Mutter Jesiden sind, dann nehmen wir sie auf. Aber wenn wir nicht wissen, wer ihr Vater ist, wird es schwierig. Dann müssen wir eine Lösung finden. Wir könnten sie in ein Waisenhaus geben oder nach Europa schicken. Davon können die Kinder profitieren. Europa wird sie aufnehmen, sie erziehen und nach fünf bis sechs Jahren werden sie alles vergessen haben."
Und ein weiterer Mann ergänzt: "Abu Dara, es kommt noch ein Problem mit dem Pass dazu: Wenn man zugibt, dass das Kind einen muslimischen Vater hat, wird es Muslim. Nicht Jeside."

Jesiden fühlen sich bedroht

Der irakische Staat mag die Jesiden nicht. Ihre Glaubensgemeinschaft, ihre Religion, ist nicht anerkannt. Und gerade bei den Kindern zeigt sich, wie fest die Fronten sind. Die jesidischen Führer fühlen sich bedroht - und wollen nichts von diesen Kindern wissen.
In Lalish, ihrem höchsten Heiligtum, spreche ich einen religiösen Führer, er heißt Lochman, darauf an. Nur über den Tempel will Lochman mit mir sprechen.

Dieses Wissen rattert er herunter:
Ein Gebäude mit spitz zulaufendem, konischen Dach in der irakischen Steppe.
Das Grab von Scheich Adi in Lalish, das zentrale Heiligtum der Jesiden in Irak.© picture-alliance/imageBROKER/Michael Runkel
"Der Tempel ist 4000 Jahre alt. Die Jesidische Religion ist eine Naturreligion. Wenn Jesidi beten, dann zum Sonnenlicht, zum Licht Gottes. Und wir sagen, ich möchte, dass es allen Menschen gut geht. Zweimal täglich, vor Sonnenaufgang und vor Sonnenuntergang. In Lalesh taufen wir die Leute wieder, die bei ISIS waren. Das Licht des Feuers bezieht sich auf das Licht der Sonne, also das Licht Gottes. Deswegen zünden wir jeden Tag 365 Kerzen vor Sonnenaufgang an, damit das Licht der Sonne auf den Tempel fällt."

Misstrauen zwischen Muslimen und Jesiden

Der IS verballhornte die Sonnenanbeter in Feuerteufel, die es zu töten gelte. Doch tatsächlich waren die Jesiden auch schon vorher vielen Muslimen suspekt. Und die jesidischen Führer geben das Misstrauen zurück.
"Das ist unmöglich für die Jesiden", erzählt ein alter Mann. "Die IS-Kämpfer kommen, rauben Frauen, machen ihr ein Kind. Das Kind und sein Vater, sie sind muslimisch. Nach unserer Religion können wir das Kind nicht aufnehmen, es ist unser Feind! Aber der jesidische Rat will es aufnehmen."
So sagt es der oberste jesidische Rat in einem Urteil - das er wenige Tage später schon wieder zurücknehmen muss.

Von IS-Soldaten verkauft

"Wir waren im Auto, als wir gefangen genommen wurden und ISIS brachte uns zuerst nach Syrien, dort blieben wir einen Monate lang in einer Art Lager. Dann brachte man uns nach Mossul, genauer gesagt Hamam Ali, wo man unseren Vater von uns trennte."
Khalida, so heißt das Mädchen, das hier erzählt, war jahrelang eine Sklavin des IS.
"Wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist. Dann war ich ein paar Tage mit meiner Mutter zusammen, bis man sie auch von uns trennte. Ich blieb alleine mit den anderen Kindern zurück, dann wurden wir von einem IS-Soldaten verkauft. Einer verkaufte mich an den nächsten."
Khalida sagt, sie könnte von vielen Grausamkeiten erzählen, von ihrer Schwester, die immer noch eine Sklavin sei, von einem anderen Kind, das vor ihren Augen massakriert worden sei.

Der Hass im Irak

Zusammen mit dem winzigen Rest ihrer Familie, ihrem Onkel und seinem Sohn - und ihrer Schwester - will sie nach Australien auswandern. Zu groß, zu alt ist der Hass im Irak. Wer die Landkarte der Ethnien und Religionen betrachtet, erkennt, dass der Anteil kleinerer Gruppen seit Jahren schmilzt.
Und es trifft immer die, die gerade auf der Verliererseite stehen. Etwa diese sunnitischen Bauernjungen, die der IS rekrutiert hatte. Sie verstecken sich in einem Flüchtlingslager. Denn obwohl sie ihre Strafe abgesessen haben, werden sie von schiitischen Milizen, den Hashd al-Shabi, gesucht.
"Kinder waren mit uns im Gefängnis", erzählt ein Bauernjunge. "Sie haben eines getötet und sein Bild auf Facebook veröffentlicht. Anderen haben sie Arme und Beine gebrochen - sie waren 15 Jahre alt. Die Hashd al-Shabi hielten einen 16- oder 17-Jährigen über zwei Wochen gefangen gehalten, dann haben sie ihn ermordet. Das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen, im Dorf Sharet al-Imam. Ich kam gerade durch und sah das."
Wie soll es jetzt weitergehen?
"Wir haben keine Zukunft", antwortet der Junge. "Keine Arbeit. Keine Schule, wir können nicht zu unseren Familien."

Im Teufelskreislauf der Gewalt

Schiiten gegen Sunniten gegen Kurden gegen Jesiden gegen Turkmenen gegen Christen – und so weiter, und so weiter. Die Gruppen reiben sich im Kampf gegeneinander auf.
Ein Gesprächspartner prophezeit mir: Vom Krieg geht es in die Konsolidierungsphase, dann wieder in die Schützengräben, und schließlich wieder in den offenen Krieg.
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