"Eine sehr grausame Realität"

Moderation: Susanne Führer · 01.12.2011
Während in West- und Mitteleuropa die Zahl der Neuinfektionen mit HIV stagniert oder sogar zurückgeht, nimmt sie in der Ukraine dramatisch zu. Was sind die Gründe? Ein Gespräch mit Karsten Hein, der zwei Dokumentarfilme über Aids in dem osteuropäischen Land gedreht hat.
Susanne Führer: Die Ukraine liegt nach heutigen Entfernungsmaßstäben sozusagen um die Ecke. Sie grenzt ja an Polen und damit an die EU. Doch was den Umgang mit Aids angeht, scheint die Ukraine auf einem anderen Planeten zu liegen. Während in West- und Mitteleuropa die Zahl der Neuinfektionen mit HIV stagniert oder sogar zurückgeht, nimmt sie in der Ukraine dramatisch zu, so schnell wie nirgends sonst in Europa. Über die Gründe will ich nun mit Karsten Hein sprechen. Er hat zwei Dokumentarfilme über Aids in der Ukraine gedreht, und er engagiert sich auch in einem Hilfsprojekt dort. Guten Morgen, Herr Hein!

Karsten Hein: Hallo!

Führer: Ja, wie ist denn eigentlich jetzt genau die Lage in der Ukraine, kann man das sagen?

Hein: Man kann die Zahlen sagen, ja. Also wir haben jetzt hier vom Aids-Zentrum Donezk die Zahlen von 2010, da gab es einen Anstieg von 3,3 Prozent bei den Neuinfektionen, das sind 20.000, aufs Land gerechnet. Das ist ehrlich gesagt sogar mehr, als wir befürchtet hatten, und im Bezirk Donezk mit viereinhalb Millionen Einwohnern leben jetzt 41.500 Menschen mit der HIV-Infektion, das ist ungefähr ein Prozent, wenn man die Dunkelziffer dazurechnet. Davon sind ungefähr 25.000 im Moment in medizinischer Behandlung, Bedarf wäre 30.000. 4000 sind in Behandlung mit antiretroviraler Therapie, aber das reicht natürlich bei weitem nicht. Aber mehr Medikamente gibt es einfach nicht.*)

Führer: Und warum nicht?

Hein: Ich habe gestern Abend mit unserem Gastarzt, Kostja Solodenko aus Donezk, darüber gesprochen – sie wissen das nicht. Es gibt keine Informationen, es ist nichts Offizielles, es gibt sie einfach nicht. Die Selbsthilfeorganisation, das All-Ukraine Network der Menschen mit HIV und Aids, haben versucht, auf eigene Faust eine Lieferung ins Land zu bekommen. Das ist erstens als Konterbande an der Grenze beschlagnahmt worden und wurde zweitens sogar angedroht, verbrannt zu werden.

Führer: Sie haben gerade gesagt, für Donezk, Herr Hein, ungefähr ein Prozent der Menschen sind infiziert, kann man das auf die Ukraine hochrechnen, und wenn ja, wäre das dann eine hohe Zahl?

Hein: Mit den Hochrechnungen ist es immer so eine Sache, weil wie bemisst man die Dunkelziffer oder wie schätzt man die Dunkelziffer? Aber die Epidemiologen dort gehen davon aus, dass das mindestens der Fall ist, und ja, das ist eine hohe Zahl. Das heißt, dass die Epidemie dort das sogenannte generalisierte Stadium erreicht hat, also dass die Infektion über die hauptbetroffenen Gruppen hinaus ist.

Führer: Warum ist das so dramatisch in der Ukraine? Warum wächst dort die Anzahl der Infizierten schneller als irgendwo sonst in Europa?

Hein: Ich habe keine allumfassende Antwort, aber einige Faktoren, die eine Rolle spielen. Es ist im Moment in der Ukraine sehr, sehr hart, zu überleben, also sehr viele Leute, die arbeiten, arbeiten in zwei oder drei Jobs. Dass Ärzte nachts in der Apotheke noch arbeiten oder ein Zimmer untervermieten oder wie auch immer, um auf den Lebensunterhalt zu kommen, ist ziemlich normal. Das heißt, die Leute haben auch ein bisschen andere Sorgen, als sich um die Probleme des Nächsten zu kümmern, vielleicht, oder sich irgendwie in irgendeiner Weise zu engagieren. Es gibt keine nennenswerte berichterstattende Presse, es gibt keine Öffentlichkeit, es gibt einen sehr schwachen – ich sage mal – sehr schwachen gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt. So in dieser Richtung würde ich eher denken.

Führer: Sie waren vor einigen Jahren schon einmal zu Gast bei uns im "Radiofeuilleton", da lief Ihr Dokumentarfilm "Am Rande" über Aids in der Ukraine an dem Tag auf ARTE, und aus diesem Anlass hatten wir da mit Ihnen gesprochen, und da haben Sie gesagt: Am Anfang war Aids oder HIV eben "nur" in den Kreisen der Drogenabhängigen, der Heroinabhängigen verbreitet. Aber das kann ja jetzt nicht mehr so sein, außer man sagt: In der Ukraine ist die Heroinsucht so verbreitet.

Hein: Ist sie tatsächlich. Sie haben die höchste Zahl an Injektionsdrogen-Benutzern osteuropaweit, also sehr hoch. Das ist übrigens auch die Grundlage für die Aidsepidemie, die epidemisch verbreitete Drogenabhängigkeit dort.

Führer: Trotzdem stelle ich mir vor, dass jetzt so viele Familien betroffen sein müssen, das müsste doch zu einem öffentlichen Thema werden, zu einem politischen, in der Gesellschaft diskutierten Thema.

Hein: Es ist tatsächlich nicht so. Ich weiß, es geht in so eine Richtung Mentalitätsbeschreibung, aber es ist tatsächlich so, dass, solange es der Andere hat, kratzt es einen nicht so, da ist man froh, dass man davongekommen ist, genau so, wie man das sehr oft hört von Aids-Patienten, die noch keine Medikamente bekommen, dass die beten, dass der nächste stirbt sozusagen, damit sie dann dessen Medikamente übernehmen können. Und wenn man es dann selber hat, dann ist man halt mit Kämpfen genug beschäftigt, sich und seine Verwandten irgendwie überhaupt da durchzubringen.

Führer: Ich spreche auch eher von einem staatlichen Versagen. Oder auch nicht Versagen, also ich meine ...

Hein: Ja, genau. Na ja, man muss – um diese Seite dann zu verstehen, sage ich immer eine Zahl als erstes: Im ukrainischen Parlament sitzt im Moment kein Abgeordneter, der nicht mindestens Dollarmillionär ist. In der ukrainischen (…) sitzen nur Millionäre.

Führer: Warum das?

Hein: Weil man sich in die Wahllisten der ukrainischen Parteien einkaufen kann, und weil das bedeutet, dass dort die Leute sitzen, die es sich leisten können. Und diese Menschen haben mit den im Wesentlichen Armutskrankheiten – HIV, Aids, Tuberkulose und so weiter – einfach nichts zu tun.

Führer: Der Dokumentarfilmer Karsten Hein ist zu Gast in Deutschlandradio Kultur. Wir sprechen aus Anlass des Weltaidstages über Aids in der Ukraine, wo die Ansteckungsraten so hoch sind wie nirgendwo sonst in Europa. Herr Hein, wir haben gerade schon kurz Ihren Film erwähnt, "Am Rande", vor drei Jahren gedreht. Sie haben den auch in der Ukraine selbst gezeigt, das ist ein wirklich erschütternder Film über die Lage der Infizierten und der Aids-Kranken. Wie haben denn ihre ukrainischen Zuschauer auf den Film reagiert.

Hein: Sehr unterschiedlich, also man kann sagen, dass es polarisiert hat. Es gab staatliche Stellen, die sich furchtbar aufgeregt haben über den Film – nachvollziehbarerweise –, und es gab sehr viele Selbsthilfeorganisationen, die sich geradezu bedankt haben und bei mir Kopien der russischen Fassung des Films sich abgeholt haben, die sie jetzt verteilen, weil sie sonst in dieser Weise keine Darstellung der Situation hatten, also beides.

Führer: In diesem Film wird ja öfter erwähnt, dass über HIV und Aids nicht gesprochen werde in der Ukraine. Hat sich denn das geändert?

Hein: Es gibt Spots, also es gibt Öffentlichkeitskampagnen, die im wesentlichen Safer-Sex-Kampagnen sind ...

Führer: Immerhin!

Hein: Immerhin, ja.

Führer: Das hat sich dann doch geändert.

Hein: Immerhin, ja. Was daraus folgt, also was zum Beispiel den Umgang der Menschen miteinander angeht, also wie zum Beispiel der Kondomgebrauch dann tatsächlich ist, habe ich meine Zweifel. Ich würde denken, dass zum Beispiel das, was wir aus Gesprächen mit Prostituierten wissen, ist, dass der gewöhnliche ukrainische Freier nach wie vor auf Kondome verzichtet. Was sich wirklich verändert hat, sind die kleinen Sachen, das kann man wirklich sagen. Also unsere Klinikpartnerschaft gibt es jetzt wirklich seit 2006 mit dem Zentrum in Donezk, also mit dem Auguste-Viktoria-Klinikum Berlin und dem Aidszentrum Donezk. Und wir haben einen Ärzteaustausch, gerade ist auch wieder unser Gastarzt mit Hilfe der Rosa-Luxemburg-Stiftung hier, und da hat sich auf wissenschaftlicher, auf medizinischer Ebene tatsächlich was stabilisiert, was wirklich erhaltenswert ist. Und auf dieser Ebene der kleinen Schritte kann man wirklich arbeiten. In der Ukraine gibt es keine Strukturen, die Integrität gewährleisten im Moment, aber es gibt natürlich wie überall integere Menschen, und mit denen kann man arbeiten, und in deren Umfeld kann man wirklich dann auch Dinge bewegen.

Führer: Das heißt, Sie geben Wissen weiter, und Sie geben auch Geld weiter, Spenden, oder?

Hein: Genau, wir machen auch Hilfstransporte seit diesem Jahr jetzt genau, mit medizinischen Gütern.

Führer: Ein großes Problem in der ukrainischen Gesellschaft scheint ja zu sein, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch in der Ukraine eine ganze Generation sozusagen plötzlich vor dem Nichts stand, und Sie haben in diesem – jetzt vom mir schon zweimal erwähnten – Interview damals gesagt, eine ganze Gesellschaftsschicht ist verwahrlost, und wenn sich die Perspektivlosigkeit für die Jugend nicht ändert, dann wird sich auch an der Heroin- und damit Aids- und TBC-Epidemie auch nichts ändern.

Hein: Ja, ist so. Also die einzigen oder die positivsten Anzeichen, die wir gerade sehen in der Ukraine, sind tatsächlich gerade unter Studenten, die durchaus auch im Geiste der Occupy-Bewegung jetzt Politik machen, das ist wirklich hoffnungsvoll. Die sind letztendlich aber auch genau so abgelöst von der Lebenswirklichkeit der von Drogensucht und Alkoholismus und – wie auch immer – tuberkulose-geprägten Milieus. Und diese Menschen – man hat richtig das Gefühl, die sind über, auf die verzichtet die ukrainische Gesellschaft, auf die verzichtet der ukrainische Staat. Also es gibt sehr, sehr viele Leute auch, die in dem Bereich arbeiten, die letztendlich davon ausgehen, ja, dann sterben da halt noch ein paar Millionen von, das Land ist eh so unproduktiv, die vermisst keiner. Das Leben da ist hart, das ist wirklich eine sehr grausame Realität.

Führer: Herr Karsten Hein hat zwei Dokumentarfilme über Aids in der Ukraine gedreht und engagiert sich in einem Hilfsprojekt für die Aids-Kranken dort. Ich danke für Ihren Besuch im Studio!

Hein: Danke Ihnen!

*) Redaktioneller Hinweis: Die verschriftete Fassung weicht an dieser Stelle von der gesendeten Fassung ab.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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