"Eine Schande für die Europäische Union"
Der Schriftsteller Zafer Senocak hat die Haltung der Europäischen Union zur Türkei als "politische Unmöglichkeit" kritisiert. Damit mache sich die EU "unseriös", sagte Senocak. "Sie können nicht mit einem Land Beitrittsgespräche beginnen und dann klar erklären, dass dieses Land nie Mitglied werden wird, wie jetzt Frankreich das tut", ergänzte er.
Marie Sagenschneider: Wenn in der Türkei demonstriert wird, dann aber richtig. Eine Million Menschen auf die Straße zu bringen, scheint nie ein Problem zu sein. Man erinnert sich noch gut an die Massenproteste gegen die Regierung Erdogan, der viele unterstellen, sie wolle die Türkei islamisieren. Auch das Militär drohte ja schon mit einem Putsch. Anlass war der Versuch Erdogans gewesen, seinen Außenminister Gül zum Staatspräsidenten wählen zu lassen. Gül, dessen Ehefrau, wie Erdogans Gattin ja auch, nie an offiziellen Staatsempfängen teilnehmen dürfen, weil sie nicht bereit sind, das Kopftuch abzulegen.
In der Türkei herrscht schließlich eine strikte Trennung von Staat und Religion, Atatürks Vermächtnis, als dessen Hüter der Staatspräsident gilt und das Militär. Der Zwist hatte sich so zugespitzt, dass Neuwahlen fällig wurden. Am Sonntag soll ein neues Parlament gewählt werden.
Und nun hat auch Erdogan unter Beweis gestellt, dass er die Massen mobilisieren kann. Fast eine Million Erdogan-Anhänger haben in dieser Woche in Istanbul kundgetan, dass sie den Kurs des Regierungschefs unterstützen. Ein Kurs, der eindeutig Richtung Europa weist. Wer verteidigt denn nun in der Türkei die europäischen Werte? Eine knifflige Frage, über die wir nun mit dem Schriftsteller Zafer Senocak sprechen, der zu uns ins Studio gekommen ist. Ich grüße Sie.
Zafer Senocak: Guten Morgen.
Sagenschneider: Was die Sache ja so kompliziert macht, ist, dass Ministerpräsident Erdogan die Türkei in den letzten Jahren ja doch sehr viel weiter Richtung Europa getrieben hat, als viele der säkular orientierten Regierungen in den Jahrzehnten davor. Ist also der Islamisierungsvorwurf, der ja immer wieder gegen Erdogan erhoben wird, ist der schlicht und ergreifend falsch, oder könnte das dicke Ende noch kommen?
Senocak: Ich glaube, es gibt kein dickes Ende. Aber der Vorwurf nährt sich natürlich von Eindrücken aus dem Alltag. Es ist nun mal so, dass Menschen, die einen westlichen Lebensstil pflegen, in der Türkei nicht überall wirklich zu Hause sind. Das muss man ganz klar sagen. Und der Westen des Landes, die Küsten, die Großstädte, ja, das ist schon sehr, sehr weit verwestlicht im Lebensstil. Die Alltagskultur ist nicht zu unterscheiden von Städten wie Barcelona zum Beispiel oder Athen, Istanbul ist keine andere Stadt als diese von der Alterskultur her, Izmir auch nicht.
Aber wenn Sie in den Osten des Landes gehen, in die Provinzen, dann gibt es eine andere Türkei. Und letztlich ist es eben ein Streit zwischen diesen beiden Teilen des Landes, der aber auf einem falschen Feld geführt wird. Es geht nämlich der Bürokratie und den Militärs nicht in erster Linie um die Verteidigung des Staates und der laizistischen Prinzipien gegenüber dem Islam, weil ein solcher Angriff gegenüber dem Staat findet nicht statt, das muss man klar feststellen.
Sondern es geht ihnen natürlich auch um Machterhalt. In den letzten Jahren durch die Reformen ist der Machtfaktor vor allem der Militärs schwer beschnitten worden. Dies hat schon zur Folge gehabt, dass es zum einen eine Sorge gibt, dass die nationalen Interessen des Landes nicht mehr so wahrgenommen werden wie früher, das kennt man ja bei allen Beitrittskandidaten in Europa.
Ähnliches entwickelt sich auch in der Türkei. Eine gewisse Steigerung des Nationalismus war ja immer ein Effekt des europäischen Beitritts in jedem Land. In der Türkei spitzt sich das deshalb zu, weil es eben diesen Kulturkonflikt gibt, der aber auch sehr stark künstlich gemacht ist, muss man sagen. Wenn man wirklich die Regierungspolitik anschaut und auch die Orientierung dieser Partei in den letzten fünf Jahren, die ja tatsächlich aus dem muslimischen Hintergrund kommt, aber sich geöffnet hat …
Sagenschneider: … der AKP von Erdogan …
Senocak: … ja, ja, es ist ja keine islamische Partei. Es wird ja immer, sogar in manchen Zeitungen steht immer "islamistisch". Das ist natürlich Quatsch. Das ist eine Partei, die ein sehr breites Spektrum abdeckt. In der Türkei könnte eine islamistische Partei nie 30, 40 Prozent bekommen. Völlige Illusion.
Sagenschneider: Die Gruppe, zu der ja auch, aus unserer Sicht immer ein bisschen skurril, aber zu der auch das Militär zählt, die sagen, wir sind hier die Hüter der Demokratie, das Erbe Atatürks, wir bestehen auf der Trennung von Staat und Religion. Das ist ja die Gruppe, die immer auch als die moderne galt in der Türkei. Wie modern ist denn die eigentlich dann heute noch?
Senocak: Ja, sie ist schon modern. Man muss schon sehen, also wir haben in Europa natürlich ein schwieriges Verhältnis zu dieser Gruppe aufgrund der, sagen wir mal, immer wieder aufkommenden nationalistischen Auswüchse. Aber im Kern sind die Prinzipien des Kemalismus natürlich modern. Und heute aktueller denn je. Weil schauen Sie mal in die arabische Welt, in die muslimische Welt, was für eine Krise dort stattfindet. Und die Modernisierung des Alltags, die Modernisierung der Kultur, die Befreiung der Frau aus den Fesseln der Tradition, das sind alles ganz aktuelle Punkte, die auch uns hier beschäftigen. Und das ist schon ernst gemeint.
Die Türkei hat sich auch wegen dieser Reform verändert. Das ist ja der Unterschied dieses Land gegenüber anderen muslimischen Ländern. Die Frage ist es, die entscheidende Frage ist, wie verteidigt man diese Werte? Verteidigt man sie mit Bajonetten, mit Druck, mit undemokratischen Mitteln? Oder findet man einen Weg innerhalb eines, einer offenen Gesellschaft mit einem offenen Diskurs, diese Werte zu verteidigen?
Und jetzt kommt nämlich das Interessante: Diese Partei versucht, also die Partei von Regierungschef Erdogan, AKP, versucht genau das. Sie haben entdeckt, dass im Grunde genommen durch eine Teilnahme am europäischen Projekt eine Absicherung des Systems stattfindet. Das heißt, im Grunde genommen wird das Militär durch Europa ersetzt. Etwas besseres kann ja nicht passieren. Die Kopenhagener Kriterien ersetzen sozusagen den Druck der Militärs, der über Jahrzehnte da war, und das Land entwickelt sich in eine offene Gesellschaft.
Das ist keine Illusion. Das ist ein Schritt, der nicht mehr so schwer zu machen ist, weil vieles schon da ist im Land, mittlerweile auch an Reformen, und auch ein Wille eigentlich in der breiten Bevölkerung. Ich glaube, am Sonntag wird man das sehen, dass dieser Teil, der sozusagen den Status quo, die Stagnation will, gar nicht so stark ist, wie das in den letzten Tagen so erschien. Ich glaube schon, dass der Wandel gewünscht wird. Es ist ja auch ein sehr junges, dynamisches Land. Und wenn dieser Wandel wirklich Erfolg haben sollte, dann wäre das für uns in Europa auch ein, von unschätzbarem Wert, weil letztlich belegt werden kann, dass ein Land, aus dieser Kultur stammend, seinen Platz in der Welt findet, selbstbewusst, aber eben auch kooperativ.
Das muss man ja auch sehen. Es gibt ja sehr viele kooperative Aspekte dieser Regierung. Wenn man an den Zypern-Konflikt denkt, der ja über Jahrzehnte wirklich aufgrund auch der türkischen Halsstarrigkeit stagnierte. Wir haben das alles ja geöffnet. Also, viele Tabuthemen haben sie geöffnet, und ich denke schon, dass Europa eben als ein Vehikel gesehen wird, um die Türkei in eine Demokratie überzuführen aufgrund des Kulturkonflikts im Land notwendig, dass das eine Balance hat. Und die Balance darf nicht mehr Militär und Machtapparate heißen, sondern eben europäische Einigung. Die Frage ist, ob wir es in Europa so begriffen haben.
Sagenschneider: Kann man sagen, Herr Senocak, dass die Türkei im Grunde jetzt auch mit Blick möglicherweise auf Sonntag vor der Frage steht, ob die Demokratisierung einer säkular ausgerichteten Bevölkerung in Einklang zu bringen ist mit der Säkularisierung der Muslime?
Senocak: Das kann man durchaus sagen, wobei die Säkularisierung der Muslime ist natürlich ein schwieriges Kapitel. Da muss noch sehr, sehr viel getan werden. Das kann auch nicht ein Ministerpräsident machen. Das können auch nicht Imame in Moscheen machen.
Das ist eine philosophische Frage. Und diese philosophische Frage liegt ja seit mindestens einem Jahrhundert brach. Man hatte ja Anfang des 20. Jahrhunderts schon Versuche unternommen, philosophisch auch, hier hineinzudenken in die Tradition, gegenüberzustellen, was ist der Unterschied zur Moderne, was ist die Rolle des Individuums, wie ist die Rolle zwischen den Geschlechtern.
Das sind alles Themen, die einen philosophischen Hintergrund brauchen und, nur, man kann es schon in Ansätzen in der Türkei sehen: Je offener eine Gesellschaft ist, je mehr demokratische Strukturen herrschen, umso mehr hat auch diese philosophische Entwicklung eine Chance. Das heißt, man kann sich eigentlich schon ausmalen, dass, wenn dieses Experiment gelingt, dass letztlich auch eine interessante Kultur daraus entsteht. Eine Kultur, die eben sich reibt und auseinandersetzt mit der Moderne und sich auch als solche entwickelt. In Ansätzen ist es ja in der türkischen Geschichte schon vorhanden. Also, das 20. Jahrhundert ist natürlich eine Auseinandersetzung mit der Moderne aufgrund der Tradition, das ist klar.
Sagenschneider: Was kann denn die von Ihnen schon angesprochenen europäische Union in dieser sehr schwierigen Phase ja auch für die Türkei tun, um der Türkei zu helfen? Oder ist das gar nicht möglich, weil eben die Haltungen gegenüber der Türkei in der EU so ambivalent sind und zum Teil ja auch so konträr?
Senocak: Ja, das ist aber genau das Problem. Also, man müsste eigentlich fragen, was sollte die EU nicht tun?
Sagenschneider: Was sollte sie nicht tun?
Senocak: Ja, weil was sie bisher getan hat, dieses Beitrittsgespräche beginnen und danach diskutieren, soll man sie reinlassen, soll man sie nicht reinlassen, das ist eine Unmöglichkeit. Das ist auch eine politische Unmöglichkeit. Damit macht sich auch die EU unseriös, selber.
Weil, sie können nicht mit einem Land Beitrittsgespräche beginnen und dann klar erklären, dass dieses Land nie Mitglied werden wird, wie jetzt Frankreich das tut. Das ist unseriös, das ist keine Politik und auch keine Staatspolitik, eine Schande eigentlich für die Europäische Union und es kommt ganz, ganz negativ in der Türkei an, muss man sagen. Vor allem bei den Massen, die sich europäisiert haben. Die Muslime sind viel cooler.
Sagenschneider: Die wenden sich dann wieder ab, weil sie sagen, wir werden nicht gewollt?
Senocak: Ja, ja, die sagen, was sind das eigentlich für Werte, die wir hier verteidigen und wer steht uns eigentlich bei?. Es gibt eine Einsamkeit der modernisierten Massen in der Türkei. Das muss man endlich mal sehen. Und das ist ganz gefährlich. Wenn die Einsamkeit dieser modernisierten Massen psychotische Strukturen annimmt durch diese Islam-Angst und so weiter, dann gibt es einen sehr starken Nationalismus und dieser ist dann letztendlich viel gefährlicher noch, als der islamische, politische Islam und der radikale Islam.
Sagenschneider: Und was glauben Sie, wie wird es laufen? Wird es eher von der Türkei selber rauskommen, dass da diese Entwicklung stattfindet? Denn von der EU, so sieht es ja aus, ist es nicht zu erwarten.
Senocak: Ja, also Zeichen dafür sind da. Es gibt ja einen enormen Wirtschaftsboom in der Türkei in den letzten Jahren. Man spricht ja auch nicht mehr so sehr über die arme Türkei, ist ja auch interessant. Früher vor zehn Jahren war das ja immer das große Thema, nicht? Das ist ein sehr armes Land, wie kann man das ... Das Land ist dynamisch. Jeder, der ein bisschen was von Wirtschaft versteht, auch die Wirtschaftsleute, sagen, das ist ein Land mit großer Zukunft. Es ist im Kreuzweg der Energiestraßen.
Es gibt also viel zu tun. Und ich glaube, die Türkei wird sich einfach selber attraktiver machen. Das ist auch der Weg, den … die Regierung ganz klar eingeschlagen hat. Die haben gesagt, ja gut, wenn es da Probleme gibt, wir machen weiter, wir glauben an diese Werte, wir glauben, dass es gut für uns ist. Wir machen das nicht, weil, um Europa zu gefallen, sondern wir brauchen diese Werte, dieses System, um unser Land zu entwickeln und eben auch Frieden zu ermöglichen in unserem Land zwischen den unterschiedlichen Orientierungen. Das ist glaube ich eine gute Einsicht, und auf diesem Wege kann die Türkei nur vorankommen.
Sagenschneider: Wer verteidigt in der Türkei europäische Werte? Darüber haben wir mit dem Schriftsteller Zafer Senocak gesprochen. Ich danke Ihnen.
In der Türkei herrscht schließlich eine strikte Trennung von Staat und Religion, Atatürks Vermächtnis, als dessen Hüter der Staatspräsident gilt und das Militär. Der Zwist hatte sich so zugespitzt, dass Neuwahlen fällig wurden. Am Sonntag soll ein neues Parlament gewählt werden.
Und nun hat auch Erdogan unter Beweis gestellt, dass er die Massen mobilisieren kann. Fast eine Million Erdogan-Anhänger haben in dieser Woche in Istanbul kundgetan, dass sie den Kurs des Regierungschefs unterstützen. Ein Kurs, der eindeutig Richtung Europa weist. Wer verteidigt denn nun in der Türkei die europäischen Werte? Eine knifflige Frage, über die wir nun mit dem Schriftsteller Zafer Senocak sprechen, der zu uns ins Studio gekommen ist. Ich grüße Sie.
Zafer Senocak: Guten Morgen.
Sagenschneider: Was die Sache ja so kompliziert macht, ist, dass Ministerpräsident Erdogan die Türkei in den letzten Jahren ja doch sehr viel weiter Richtung Europa getrieben hat, als viele der säkular orientierten Regierungen in den Jahrzehnten davor. Ist also der Islamisierungsvorwurf, der ja immer wieder gegen Erdogan erhoben wird, ist der schlicht und ergreifend falsch, oder könnte das dicke Ende noch kommen?
Senocak: Ich glaube, es gibt kein dickes Ende. Aber der Vorwurf nährt sich natürlich von Eindrücken aus dem Alltag. Es ist nun mal so, dass Menschen, die einen westlichen Lebensstil pflegen, in der Türkei nicht überall wirklich zu Hause sind. Das muss man ganz klar sagen. Und der Westen des Landes, die Küsten, die Großstädte, ja, das ist schon sehr, sehr weit verwestlicht im Lebensstil. Die Alltagskultur ist nicht zu unterscheiden von Städten wie Barcelona zum Beispiel oder Athen, Istanbul ist keine andere Stadt als diese von der Alterskultur her, Izmir auch nicht.
Aber wenn Sie in den Osten des Landes gehen, in die Provinzen, dann gibt es eine andere Türkei. Und letztlich ist es eben ein Streit zwischen diesen beiden Teilen des Landes, der aber auf einem falschen Feld geführt wird. Es geht nämlich der Bürokratie und den Militärs nicht in erster Linie um die Verteidigung des Staates und der laizistischen Prinzipien gegenüber dem Islam, weil ein solcher Angriff gegenüber dem Staat findet nicht statt, das muss man klar feststellen.
Sondern es geht ihnen natürlich auch um Machterhalt. In den letzten Jahren durch die Reformen ist der Machtfaktor vor allem der Militärs schwer beschnitten worden. Dies hat schon zur Folge gehabt, dass es zum einen eine Sorge gibt, dass die nationalen Interessen des Landes nicht mehr so wahrgenommen werden wie früher, das kennt man ja bei allen Beitrittskandidaten in Europa.
Ähnliches entwickelt sich auch in der Türkei. Eine gewisse Steigerung des Nationalismus war ja immer ein Effekt des europäischen Beitritts in jedem Land. In der Türkei spitzt sich das deshalb zu, weil es eben diesen Kulturkonflikt gibt, der aber auch sehr stark künstlich gemacht ist, muss man sagen. Wenn man wirklich die Regierungspolitik anschaut und auch die Orientierung dieser Partei in den letzten fünf Jahren, die ja tatsächlich aus dem muslimischen Hintergrund kommt, aber sich geöffnet hat …
Sagenschneider: … der AKP von Erdogan …
Senocak: … ja, ja, es ist ja keine islamische Partei. Es wird ja immer, sogar in manchen Zeitungen steht immer "islamistisch". Das ist natürlich Quatsch. Das ist eine Partei, die ein sehr breites Spektrum abdeckt. In der Türkei könnte eine islamistische Partei nie 30, 40 Prozent bekommen. Völlige Illusion.
Sagenschneider: Die Gruppe, zu der ja auch, aus unserer Sicht immer ein bisschen skurril, aber zu der auch das Militär zählt, die sagen, wir sind hier die Hüter der Demokratie, das Erbe Atatürks, wir bestehen auf der Trennung von Staat und Religion. Das ist ja die Gruppe, die immer auch als die moderne galt in der Türkei. Wie modern ist denn die eigentlich dann heute noch?
Senocak: Ja, sie ist schon modern. Man muss schon sehen, also wir haben in Europa natürlich ein schwieriges Verhältnis zu dieser Gruppe aufgrund der, sagen wir mal, immer wieder aufkommenden nationalistischen Auswüchse. Aber im Kern sind die Prinzipien des Kemalismus natürlich modern. Und heute aktueller denn je. Weil schauen Sie mal in die arabische Welt, in die muslimische Welt, was für eine Krise dort stattfindet. Und die Modernisierung des Alltags, die Modernisierung der Kultur, die Befreiung der Frau aus den Fesseln der Tradition, das sind alles ganz aktuelle Punkte, die auch uns hier beschäftigen. Und das ist schon ernst gemeint.
Die Türkei hat sich auch wegen dieser Reform verändert. Das ist ja der Unterschied dieses Land gegenüber anderen muslimischen Ländern. Die Frage ist es, die entscheidende Frage ist, wie verteidigt man diese Werte? Verteidigt man sie mit Bajonetten, mit Druck, mit undemokratischen Mitteln? Oder findet man einen Weg innerhalb eines, einer offenen Gesellschaft mit einem offenen Diskurs, diese Werte zu verteidigen?
Und jetzt kommt nämlich das Interessante: Diese Partei versucht, also die Partei von Regierungschef Erdogan, AKP, versucht genau das. Sie haben entdeckt, dass im Grunde genommen durch eine Teilnahme am europäischen Projekt eine Absicherung des Systems stattfindet. Das heißt, im Grunde genommen wird das Militär durch Europa ersetzt. Etwas besseres kann ja nicht passieren. Die Kopenhagener Kriterien ersetzen sozusagen den Druck der Militärs, der über Jahrzehnte da war, und das Land entwickelt sich in eine offene Gesellschaft.
Das ist keine Illusion. Das ist ein Schritt, der nicht mehr so schwer zu machen ist, weil vieles schon da ist im Land, mittlerweile auch an Reformen, und auch ein Wille eigentlich in der breiten Bevölkerung. Ich glaube, am Sonntag wird man das sehen, dass dieser Teil, der sozusagen den Status quo, die Stagnation will, gar nicht so stark ist, wie das in den letzten Tagen so erschien. Ich glaube schon, dass der Wandel gewünscht wird. Es ist ja auch ein sehr junges, dynamisches Land. Und wenn dieser Wandel wirklich Erfolg haben sollte, dann wäre das für uns in Europa auch ein, von unschätzbarem Wert, weil letztlich belegt werden kann, dass ein Land, aus dieser Kultur stammend, seinen Platz in der Welt findet, selbstbewusst, aber eben auch kooperativ.
Das muss man ja auch sehen. Es gibt ja sehr viele kooperative Aspekte dieser Regierung. Wenn man an den Zypern-Konflikt denkt, der ja über Jahrzehnte wirklich aufgrund auch der türkischen Halsstarrigkeit stagnierte. Wir haben das alles ja geöffnet. Also, viele Tabuthemen haben sie geöffnet, und ich denke schon, dass Europa eben als ein Vehikel gesehen wird, um die Türkei in eine Demokratie überzuführen aufgrund des Kulturkonflikts im Land notwendig, dass das eine Balance hat. Und die Balance darf nicht mehr Militär und Machtapparate heißen, sondern eben europäische Einigung. Die Frage ist, ob wir es in Europa so begriffen haben.
Sagenschneider: Kann man sagen, Herr Senocak, dass die Türkei im Grunde jetzt auch mit Blick möglicherweise auf Sonntag vor der Frage steht, ob die Demokratisierung einer säkular ausgerichteten Bevölkerung in Einklang zu bringen ist mit der Säkularisierung der Muslime?
Senocak: Das kann man durchaus sagen, wobei die Säkularisierung der Muslime ist natürlich ein schwieriges Kapitel. Da muss noch sehr, sehr viel getan werden. Das kann auch nicht ein Ministerpräsident machen. Das können auch nicht Imame in Moscheen machen.
Das ist eine philosophische Frage. Und diese philosophische Frage liegt ja seit mindestens einem Jahrhundert brach. Man hatte ja Anfang des 20. Jahrhunderts schon Versuche unternommen, philosophisch auch, hier hineinzudenken in die Tradition, gegenüberzustellen, was ist der Unterschied zur Moderne, was ist die Rolle des Individuums, wie ist die Rolle zwischen den Geschlechtern.
Das sind alles Themen, die einen philosophischen Hintergrund brauchen und, nur, man kann es schon in Ansätzen in der Türkei sehen: Je offener eine Gesellschaft ist, je mehr demokratische Strukturen herrschen, umso mehr hat auch diese philosophische Entwicklung eine Chance. Das heißt, man kann sich eigentlich schon ausmalen, dass, wenn dieses Experiment gelingt, dass letztlich auch eine interessante Kultur daraus entsteht. Eine Kultur, die eben sich reibt und auseinandersetzt mit der Moderne und sich auch als solche entwickelt. In Ansätzen ist es ja in der türkischen Geschichte schon vorhanden. Also, das 20. Jahrhundert ist natürlich eine Auseinandersetzung mit der Moderne aufgrund der Tradition, das ist klar.
Sagenschneider: Was kann denn die von Ihnen schon angesprochenen europäische Union in dieser sehr schwierigen Phase ja auch für die Türkei tun, um der Türkei zu helfen? Oder ist das gar nicht möglich, weil eben die Haltungen gegenüber der Türkei in der EU so ambivalent sind und zum Teil ja auch so konträr?
Senocak: Ja, das ist aber genau das Problem. Also, man müsste eigentlich fragen, was sollte die EU nicht tun?
Sagenschneider: Was sollte sie nicht tun?
Senocak: Ja, weil was sie bisher getan hat, dieses Beitrittsgespräche beginnen und danach diskutieren, soll man sie reinlassen, soll man sie nicht reinlassen, das ist eine Unmöglichkeit. Das ist auch eine politische Unmöglichkeit. Damit macht sich auch die EU unseriös, selber.
Weil, sie können nicht mit einem Land Beitrittsgespräche beginnen und dann klar erklären, dass dieses Land nie Mitglied werden wird, wie jetzt Frankreich das tut. Das ist unseriös, das ist keine Politik und auch keine Staatspolitik, eine Schande eigentlich für die Europäische Union und es kommt ganz, ganz negativ in der Türkei an, muss man sagen. Vor allem bei den Massen, die sich europäisiert haben. Die Muslime sind viel cooler.
Sagenschneider: Die wenden sich dann wieder ab, weil sie sagen, wir werden nicht gewollt?
Senocak: Ja, ja, die sagen, was sind das eigentlich für Werte, die wir hier verteidigen und wer steht uns eigentlich bei?. Es gibt eine Einsamkeit der modernisierten Massen in der Türkei. Das muss man endlich mal sehen. Und das ist ganz gefährlich. Wenn die Einsamkeit dieser modernisierten Massen psychotische Strukturen annimmt durch diese Islam-Angst und so weiter, dann gibt es einen sehr starken Nationalismus und dieser ist dann letztendlich viel gefährlicher noch, als der islamische, politische Islam und der radikale Islam.
Sagenschneider: Und was glauben Sie, wie wird es laufen? Wird es eher von der Türkei selber rauskommen, dass da diese Entwicklung stattfindet? Denn von der EU, so sieht es ja aus, ist es nicht zu erwarten.
Senocak: Ja, also Zeichen dafür sind da. Es gibt ja einen enormen Wirtschaftsboom in der Türkei in den letzten Jahren. Man spricht ja auch nicht mehr so sehr über die arme Türkei, ist ja auch interessant. Früher vor zehn Jahren war das ja immer das große Thema, nicht? Das ist ein sehr armes Land, wie kann man das ... Das Land ist dynamisch. Jeder, der ein bisschen was von Wirtschaft versteht, auch die Wirtschaftsleute, sagen, das ist ein Land mit großer Zukunft. Es ist im Kreuzweg der Energiestraßen.
Es gibt also viel zu tun. Und ich glaube, die Türkei wird sich einfach selber attraktiver machen. Das ist auch der Weg, den … die Regierung ganz klar eingeschlagen hat. Die haben gesagt, ja gut, wenn es da Probleme gibt, wir machen weiter, wir glauben an diese Werte, wir glauben, dass es gut für uns ist. Wir machen das nicht, weil, um Europa zu gefallen, sondern wir brauchen diese Werte, dieses System, um unser Land zu entwickeln und eben auch Frieden zu ermöglichen in unserem Land zwischen den unterschiedlichen Orientierungen. Das ist glaube ich eine gute Einsicht, und auf diesem Wege kann die Türkei nur vorankommen.
Sagenschneider: Wer verteidigt in der Türkei europäische Werte? Darüber haben wir mit dem Schriftsteller Zafer Senocak gesprochen. Ich danke Ihnen.