Eine Sache des Glaubens
Früher gab es in Baden-Württemberg etwas mehr Protestanten als Katholiken. Heute ist es umgekehrt. Unabhängig vom demographischen Wandel saßen an den Schalthebeln der Macht aber fast immer mehr Katholiken als Protestanten. Warum das so ist, untersucht Peter Hölzle im Länderreport.
Kirchenglocken
Zu den Besonderheiten, die Baden-Württemberg von anderen Bundesländern unterscheiden, gehört ein wenig beachtetes Charakteristikum. Politik und höhere Verwaltung werden im Südwesten derart stark von Katholiken dominiert, als mache dieser Bevölkerungsteil achtzig Prozent der Baden-Württemberger aus. Tatsächlich aber haben die Romgläubigen nur ein leichtes demographisches Übergewicht. Von den knapp elf Millionen Landeskindern sind laut Angaben der Kirchenleitungen etwas über vier Millionen katholisch und gut dreieinhalb Millionen evangelisch. Eberhard Leibing, einer der wenigen Protestanten, denen es gelang, in die Phalanx der katholischen Spitzenbeamtenschaft einzubrechen und dem Land in vielen hohen Ämtern zu dienen, zuletzt als Landtagsdirektor, bestätigt.
Leibing: "… dass vor allem in leitenden Funktionen ein überproportionaler Anteil von Katholiken vertreten ist. Nach meiner Beobachtung ist dies bis heute der Fall."
Sind die Katholiken klüger als die Evangelischen? Für Leibing ist die Unterrepräsentierung der Protestanten in der Spitzenbürokratie des Landes keine Frage mangelnder Intelligenz. Er hält andere Gründe für ausschlaggebend.
Leibing: "Da ist zunächst einmal die lange Regierungszeit der CDU seit über einem halben Jahrhundert. Und es war zum Zweiten die Integration der Vorderösterreicher nach Württemberg. Das hat dazugeführt, dass relativ viele Oberschwaben sich dann in Stuttgart wiederfanden. Und zum Dritten ist es die Tatsache, wir haben ja seit Reinhold Maier sechs Ministerpräsidenten - dass von den sechs Ministerpräsidenten vier katholisch waren und nur zwei evangelisch."
Leibing hat recht. Seit 54 Jahren gibt die CDU in Baden-Württemberg den Ton an. Nur in der ersten Regierung des 1952 gegründeten Landes war sie nicht vertreten. Aber diese von dem evangelischen Freidemokraten Reinhold Maier geführte Exekutive hielt sich nur ein Jahr und fünf Monate im Amt. Danach stellte die CDU den Ministerpräsidenten: über 17 Jahre in kleinen und über 16 Jahre in Großen Koalitionen. Und mehr als 20 Jahre regierte sie alleine.
Diese lang anhaltende christdemokratische Vorherrschaft stützt sich vor allem auf die katholischen Regionen des Landes. Hohenzollern, Oberschwaben und Südbaden – die beiden letztgenannten gehörten früher einmal in größeren Teilen zu Vorderösterreich – sind CDU-Bastionen, die bislang keine Opposition zu schleifen vermochte. Vor allem diese Hochburgen lassen in der CDU Baden-Württemberg das katholische Profil ungleich schärfer hervortreten als ihr protestantisches. Ex-Landtagsdirektor Leibing hält in Bezug auf die CDU fest:
"Sie ist natürlich schon sehr, sehr stark katholisch geprägt und spiegelt nicht diese große Glaubensvielfalt wieder, wie wir sie in Baden-Württemberg und in der ganzen Republik erleben."
Landtagsarchivar Günther Bradler, selbst katholischer Oberschwabe und intimer Kenner der politischen wie der konfessionellen Geographie des Südwestens, pflichtet dem Protestanten Leibing bei:
"Dass die katholische Seite sehr einflussreich war, ist seit der Ministerpräsidentschaft von Dr. Gebhard Müller, der 1953 als zweiter Ministerpräsident gewählt wurde, über seinen Nachfolger Kurt Georg Kiesinger, dann über dessen Nachfolger Dr. Hans Karl Filbinger sowie den Nachnachfolger von Filbinger, Erwin Teufel, in der Öffentlichkeit sicher bekannt und bewusst."
Nicht von ungefähr nahmen die vier von Bradler genannten katholischen Regierungschefs ihren Aufstieg über die südlichen Landesbezirke der CDU. Neben dieser Gemeinsamkeit verbindet sie noch eine andere. Als praktizierende Katholiken ließen sie keine Gelegenheit aus, ihre Glaubensüberzeugung demonstrativ zu zeigen.
Anders die beiden Protestanten an der Regierungsspitze. Weder Lothar Späth noch der derzeit amtierende Günther Oettinger, die ihre Karriere über den CDU-Bezirk Nordwürttemberg machten, haben sich je als bekennende Protestanten geoutet.
Solche Unterschiede im Glaubenseifer haben Auswirkungen auf die Regierungsmacht. Nochmals Leibing:
"Zunächst müssen wir natürlich feststellen, dass in Sonderheit in der katholischen Kirche, die ich gerne als Kirche des Gehorsams bezeichnen würde im Gegensatz zur evangelischen Kirche als die Kirche der Freiheit, ein ausgeprägter Korpsgeist herrscht. Dieser wird gepflegt vom Ministrantendasein über Internate, über Schulen bis zu den Korporationen."
In letzteren sieht Leibing nachgerade die Reservebank der baden-württembergischen Spitzenbürokratie.
Leibing: "Der Cartell-Verband, die KV und 'Unitas', das sind streng katholische Studentenverbindungen. Und aus diesen Studentenverbindungen rekrutiert sich natürlich ein großer Teil des Führungspersonals nicht zuletzt auch in der Landesverwaltung."
Der Cartell-Verband, geschrieben einmal mit CV für farbentragende und das andere Mal mit KV für nichtfarbentragende katholische Verbindungen, diente schon in der Frühzeit der Bundespolitik zusammen mit der gleichfalls nichtfarbentragenden katholischen 'Unitas' als 'Probierstube' für höhere Beamtenkarrieren. Der Landtagsarchivar Bradler nennt wie auf Knopfdruck Namen:
"Gebhard Müller wie auch Kurt Georg Kiesinger, beide Mitglieder der nichtfarbentragenden Tübinger Studentenverbindung KV Alamannia, brachten eine Reihe von Beamten in wichtige Positionen in der Landesverwaltung, was seither angehalten hat. Eine ganz zentrale Rolle in der Stuttgarter Ministerialbürokratie spielen die lieben alten Herrn von KV Alamannia Tübingen sowie auch von CV Westphalia und Cheruskia, ebenfalls Tübingen. Also ich denke an meinen ersten Landtagsdirektor, Dr. Anton Böhringer und den späteren Landtagsdirektor, Dr. Winfried Grupp, ebenfalls ein KV-Alamanne aus Tübingen."
Man kann so fortfahren und noch viele Namen guter Katholiken nennen. Nur nach der Gegenseite braucht man nicht fragen. Es gibt zwar auch evangelische Studentenverbindungen, aber deren Vertreter sind in der baden-württembergischen Staatsverwaltung dünn gesät.
Kein Vergleich also mit dem engmaschigen katholischen Netzwerk, das Politik und Verwaltung Baden-Württembergs umgarnt und beileibe nicht nur aus Verbindungen gestrickt ist. Auch andere "Kirchenfreunde", die aus der Messdienerschaft und den Reihen der katholischen Vertriebenen stammen, weben am Machtgeflecht mit. Eindrucksvoll lässt sich das an der Schaltstelle des Regierungshandelns, dem Staatsministerium, zeigen.
Dort, in der Villa Reitzenstein, am Sitz des Ministerpräsidenten und der Landesregierung, auf einem der sieben Hügel Stuttgarts, laufen die Fäden der Macht zusammen. Der, der sie bündelt und bisweilen auch wieder entwirrt, ist der beamtete Staatssekretär. Über ihn sagt Eberhard Leibing:
"In der Tat ist das Staatsministerium als Institution und dort der Amtschef eine zentrale Figur mit einer besonderen Einflussmöglichkeit und mit einer besonderen Macht ausgestattet."
Aber Leibing sagt noch mehr und Aufschlussreiches: "Der Zeitraum, den ich überschauen kann, das heißt die letzten fünfunddreißig Jahre, da kannte ich alle Amtschefs im Staatsministerium. Die waren ausnahmslos katholisch, beziehungsweise sind katholisch. Da ist nicht ein Evangelischer dabei."
Die katholischen Strippenzieher in der Villa Reitzenstein hießen in dieser Zeit Gustav Wabro, Lorenz Menz und Rudolf Böhmler. Böhmlers Wechsel zur Bundesbank machte eine Neubesetzung notwendig. Der Mitte Juli ernannte Hubert Wicker ist selbstredend auch katholisch. Einige der Genannten sind freilich nicht nur das. Lorenz Menz, der über zwölf Jahre das Staatsministerium mit diskretem Charme und hoher Effizienz managte, hatte den besonderen Stallgeruch, den man seit Gebhard Müllers und Kurt Georg Kiesingers Zeiten in der Landesverwaltung so schätzt.
Bradler: "Lorenz Menz ist ebenfalls Mitglied und alter Herr der KV Alamannia Tübingen","
sagt Landtagsarchivar Bradler, der auch die Verbindung kennt, die Gustav Wabro, einen anderen langjährigen Staatssekretär, in seine einflussreichen Ämter hievte:
""Die Zahl der katholischen Vertriebenen in Baden-Württemberg hat das Gewicht des katholischen Bevölkerungsteiles enorm verändert. Als eine ganz wichtige politische Persönlichkeit wäre Staatssekretär Gustav Wabro aus Südmähren zu nennen, der, soweit ich sehe, die meisten Staatssekretärsposten in den Landesregierungen von Baden-Württemberg seit 1952 eingenommen hat."
Auch der kürzlich zum Bundesbanker avancierte Rudolf Böhmler ist nicht einfach nur katholisch. Böhmler ist mehr. Schon seine Herkunft aus dem rabenschwarzen Schwäbisch-Gmünd hebt ihn aus der Masse der Normalkatholiken heraus. Und erst recht tut dies sein kirchennaher Hintergrund. Beides ist im Staatsministerium gern gesehen. Hinzu tritt im Fall Böhmler noch ein anderes Spezifikum. Böhmler kam nicht allein. Ministerien-Insider Jandl merkt deshalb so süffisant wie sibyllinisch an:
"Schwäbisch Gmünd hat einen starken Stoßtrupp in der Landesverwaltung."
Etwas Licht in das Dunkel dieses Rätsels um den Gmünder Stoßtrupp
bringt Landtagsarchivar Bradler mit dem Hinweis:
Bradler: "Bei Böhmler wird zumindest in der Tagespresse immer das katholische Umfeld, die Ministranten und Chorknaben von Schwäbisch Gmünd, markant erwähnt."
Dem lässt sich nicht widersprechen. Und Böhmler hat in den sechs Jahren als Amtschef im Staatsministerium ganze Arbeit geleistet. Die Villa Reitzenstein ist durchsetzt mit Böhmler-Boys. Die finden sich inzwischen aber auch in anderen Spitzenpositionen der Landesverwaltung. Hermann Strampfer ist vom Staatsministerium aus zum Regierungspräsidenten in Tübingen aufgestiegen. Thomas Halder und Maximilian Munding haben vom selben Sprungbrett aus ähnliche Gipfel erreicht. Halder ist Ministerialdirektor im Sozialministerium, Munding im Ministerium für ländlichen Raum. Es lohnt sich also Mitglied der Gmünder Ministranten-Seilschaft zu sein.
Es lohnt sich aber auch einfach nur katholisch zu sein. Von den elf Ministern der derzeitigen Regierung sind es acht, von den acht Staatssekretären sind es fünf und von den zehn Ministerialdirektoren sind es sieben. Protestanten kommen hingegen nur als Minderheit, meist sogar nur als kleine Minderheit vor, auch wenn sie derzeit wieder einmal den Ministerpräsidenten stellen.
Aber es kann nicht nur am ausgeprägten katholischen Korpsgeist und am engmaschigen Netzwerk aus katholischen Verbänden, Korporationen und ehemaligen Chorknaben liegen, warum die 'Rechtgläubigen', wie sich die Katholiken gern selber nennen, gegenüber den 'Wüstgläubigen', wie sie mitunter immer noch die Evangelischen titulieren, in Politik und Verwaltung so massiv überrepräsentiert sind. Ralf Jandl, Kenner des Innenlebens mehrerer Ministerialverwaltungen, hält eine einleuchtende Erklärung parat:
"Der Katholik ist etwas elastischer als der Protestant. Der Protestant protestiert eher einmal, sagt: 'Das geht nicht'. Für mich war diese Haltung am besten verkörpert durch den alten, verehrten Kultusminister Hahn, der nicht die geringste Abweichung vom optimalen Weg zuließ."
Der Theologieprofessor Wilhelm Hahn, lange Jahre CDU-Kultusminister und stellvertretender Ministerpräsident, ist in mehrerlei Hinsicht ein exemplarischer Fall – nicht nur als sperriger Paradeprotestant, sondern auch als von der katholischen Kirche erfolgreich verhinderter baden-württembergischer Ministerpräsident. Wie das zuging, weiß Landtagsarchivar Bradler:
"Mir ist vor allem in Erinnerung der Eilbrief des Freiburger Erzdiözesan-
Generalvikars an den damaligen Landtagspräsidenten von Baden-Württemberg, Dr. Franz Gurk, vom 1. Dezember 1966 im Vorfeld der Nachfolgefrage, als Ministerpräsident Kiesinger zum Bundeskanzler designiert war und nach Bonn ging. Der Generalvikar der Erzdiözese Freiburg schreibt:
'Sehr geehrter Herr Präsident!
Vertraulich möchte ich Ihnen mitteilen, dass hier jedermann der Auffassung ist, daß ein evangelischer Theologe, der nicht einmal aus dem Lande stammt, als Ministerpräsident nicht tragbar ist. Wir hoffen, dass die katholischen Abgeordneten in der CDU dem nicht zustimmen.
Mit besten Grüßen
Ihr sehr ergebener
Föhr
Generalvikar"
Die "besten Grüße" des Generalvikars an die Politik verfehlten ihre Wirkung nicht. Da damals wie heute zwei Drittel der CDU-Landtagsabgeordneten katholisch sind, muss ein evangelischer Ministerpräsidentenkandidat über außergewöhnlichen Rückhalt in der CDU-Fraktion verfügen, um gewählt zu werden. Wilhelm Hahn wurde nicht gewählt. Für ihn erwies sich der Konfessionsgraben infolge des "vertraulichen" Fingerzeiges des Freiburger Generalvikars als zu tief. Statt seiner wurde Hans Karl Filbinger Ministerpräsident. Der hatte das richtige Gesangbuch, das katholische.
Auch für Günther Oettinger, den amtierenden Regierungschef, wäre neben anderen Gründen die 'falsche', - sprich: die evangelische Konfession um ein Haar zum Verhängnis geworden. Als sein tiefkatholischer Vorgänger Erwin Teufel gewahr wurde, dass es schwer werden würde, seinen ungeliebten 'ewigen' Kronprinzen Oettinger als Nachfolger zu verhindern, präsentierte er eine Mitbewerberin um das Amt des Ministerpräsidenten. Die war zwar wie weiland Wilhelm Hahn auch kein Landeskind, aber sie hatte im Gegensatz zu Hahn und Oettinger den 'rechten' Glauben. Die Niederrheinerin Annette Schavan ist Katholikin und auch noch Theologin, scheiterte also nicht am Einspruch der katholischen Kirche, wohl aber an dem der christdemokratischen Basis. Die entschied sich in einer Art Urwahl für Oettinger und gegen Schavan.
All dies legt die Frage nahe: Was bewegt das katholische Milieu im Südwesten, Politik und Verwaltung möglichst weitgehend zu dominieren? Die Antwort hängt nicht nur mit Machtstreben zusammen. Auch historische Traumata spielen eine Rolle. Welche, das legt der Journalist und Historiker Karl Moersch dar:
"Bei Württemberg war es so, dass ja Württemberg unter Napoleon eben um die neuwürttembergischen, meistens katholisch besiedelten Gebiete erweitert worden ist. Aber dann geschah etwas, was die Neuwürttemberger den Altwürttembergern eigentlich nie verziehen haben, bis eigentlich nach 1945: Die Ministerien in Stuttgart haben ihr Personal unter den alten evangelischen Familien ausgesucht. Die Verwaltungsamtmänner waren nur zum ganz geringen Teil katholisch. In Baden war die Sache etwas kurioser. Da war ja mit dem Großherzogtum Baden ein gewisses Übergewicht der katholischen Bevölkerung immer noch da. Und es kam hinzu, dass der Großherzog von Baden evangelisch war, und die Beamtenschaft war natürlich weitgehend evangelisch. Und dieser Zustand hat sich über die NS-Zeit hinaus im Prinzip erhalten."
Wo Mehrheiten Minderheiten regieren und erst recht wo Minderheiten über Mehrheiten bestimmen, ist politisches Fingerspitzengefühl oberstes Gebot allen politischen Handels. Keine Frage: Sowohl im überwiegend evangelischen Württemberg als auch im überwiegend katholischen Baden sprang die protestantisch dominierte Beamtenelite mit dem andersgläubigen Bevölkerungsteil, gleichviel, ob er nun Mehrheit oder Minderheit war, bisweilen rüde um. Groll und Verbitterung bei den Katholiken in Oberschwaben und Südbaden waren die Folgen dieses Regiments – und verbunden damit das Gelüst auf Revanche. Die kam nach dem Krieg. Karl Moersch erinnert sich an ein Gespräch mit Baden-Württembergs zweitem Ministerpräsidenten:
"Da sagte mir Gebhard Müller: 'Eins war klar, jetzt sind auch wir Katholiken mal dran gewesen.' Und dann hat er konsequent das gemacht, was früher die Evangelischen gemacht hatten. Die Leute, die seine Vertrauten waren, sind vorwiegend zum Zug gekommen."
Was heißt hier "dran gewesen". Die Katholiken sind immer noch dran. Ihre Strippenzieher arbeiten strategisch, effizient und vor allem lautlos. Was von ihrem Netzwerk hier sichtbar gemacht wurde, ist nur die Spitze des Kirchturms.
Zu den Besonderheiten, die Baden-Württemberg von anderen Bundesländern unterscheiden, gehört ein wenig beachtetes Charakteristikum. Politik und höhere Verwaltung werden im Südwesten derart stark von Katholiken dominiert, als mache dieser Bevölkerungsteil achtzig Prozent der Baden-Württemberger aus. Tatsächlich aber haben die Romgläubigen nur ein leichtes demographisches Übergewicht. Von den knapp elf Millionen Landeskindern sind laut Angaben der Kirchenleitungen etwas über vier Millionen katholisch und gut dreieinhalb Millionen evangelisch. Eberhard Leibing, einer der wenigen Protestanten, denen es gelang, in die Phalanx der katholischen Spitzenbeamtenschaft einzubrechen und dem Land in vielen hohen Ämtern zu dienen, zuletzt als Landtagsdirektor, bestätigt.
Leibing: "… dass vor allem in leitenden Funktionen ein überproportionaler Anteil von Katholiken vertreten ist. Nach meiner Beobachtung ist dies bis heute der Fall."
Sind die Katholiken klüger als die Evangelischen? Für Leibing ist die Unterrepräsentierung der Protestanten in der Spitzenbürokratie des Landes keine Frage mangelnder Intelligenz. Er hält andere Gründe für ausschlaggebend.
Leibing: "Da ist zunächst einmal die lange Regierungszeit der CDU seit über einem halben Jahrhundert. Und es war zum Zweiten die Integration der Vorderösterreicher nach Württemberg. Das hat dazugeführt, dass relativ viele Oberschwaben sich dann in Stuttgart wiederfanden. Und zum Dritten ist es die Tatsache, wir haben ja seit Reinhold Maier sechs Ministerpräsidenten - dass von den sechs Ministerpräsidenten vier katholisch waren und nur zwei evangelisch."
Leibing hat recht. Seit 54 Jahren gibt die CDU in Baden-Württemberg den Ton an. Nur in der ersten Regierung des 1952 gegründeten Landes war sie nicht vertreten. Aber diese von dem evangelischen Freidemokraten Reinhold Maier geführte Exekutive hielt sich nur ein Jahr und fünf Monate im Amt. Danach stellte die CDU den Ministerpräsidenten: über 17 Jahre in kleinen und über 16 Jahre in Großen Koalitionen. Und mehr als 20 Jahre regierte sie alleine.
Diese lang anhaltende christdemokratische Vorherrschaft stützt sich vor allem auf die katholischen Regionen des Landes. Hohenzollern, Oberschwaben und Südbaden – die beiden letztgenannten gehörten früher einmal in größeren Teilen zu Vorderösterreich – sind CDU-Bastionen, die bislang keine Opposition zu schleifen vermochte. Vor allem diese Hochburgen lassen in der CDU Baden-Württemberg das katholische Profil ungleich schärfer hervortreten als ihr protestantisches. Ex-Landtagsdirektor Leibing hält in Bezug auf die CDU fest:
"Sie ist natürlich schon sehr, sehr stark katholisch geprägt und spiegelt nicht diese große Glaubensvielfalt wieder, wie wir sie in Baden-Württemberg und in der ganzen Republik erleben."
Landtagsarchivar Günther Bradler, selbst katholischer Oberschwabe und intimer Kenner der politischen wie der konfessionellen Geographie des Südwestens, pflichtet dem Protestanten Leibing bei:
"Dass die katholische Seite sehr einflussreich war, ist seit der Ministerpräsidentschaft von Dr. Gebhard Müller, der 1953 als zweiter Ministerpräsident gewählt wurde, über seinen Nachfolger Kurt Georg Kiesinger, dann über dessen Nachfolger Dr. Hans Karl Filbinger sowie den Nachnachfolger von Filbinger, Erwin Teufel, in der Öffentlichkeit sicher bekannt und bewusst."
Nicht von ungefähr nahmen die vier von Bradler genannten katholischen Regierungschefs ihren Aufstieg über die südlichen Landesbezirke der CDU. Neben dieser Gemeinsamkeit verbindet sie noch eine andere. Als praktizierende Katholiken ließen sie keine Gelegenheit aus, ihre Glaubensüberzeugung demonstrativ zu zeigen.
Anders die beiden Protestanten an der Regierungsspitze. Weder Lothar Späth noch der derzeit amtierende Günther Oettinger, die ihre Karriere über den CDU-Bezirk Nordwürttemberg machten, haben sich je als bekennende Protestanten geoutet.
Solche Unterschiede im Glaubenseifer haben Auswirkungen auf die Regierungsmacht. Nochmals Leibing:
"Zunächst müssen wir natürlich feststellen, dass in Sonderheit in der katholischen Kirche, die ich gerne als Kirche des Gehorsams bezeichnen würde im Gegensatz zur evangelischen Kirche als die Kirche der Freiheit, ein ausgeprägter Korpsgeist herrscht. Dieser wird gepflegt vom Ministrantendasein über Internate, über Schulen bis zu den Korporationen."
In letzteren sieht Leibing nachgerade die Reservebank der baden-württembergischen Spitzenbürokratie.
Leibing: "Der Cartell-Verband, die KV und 'Unitas', das sind streng katholische Studentenverbindungen. Und aus diesen Studentenverbindungen rekrutiert sich natürlich ein großer Teil des Führungspersonals nicht zuletzt auch in der Landesverwaltung."
Der Cartell-Verband, geschrieben einmal mit CV für farbentragende und das andere Mal mit KV für nichtfarbentragende katholische Verbindungen, diente schon in der Frühzeit der Bundespolitik zusammen mit der gleichfalls nichtfarbentragenden katholischen 'Unitas' als 'Probierstube' für höhere Beamtenkarrieren. Der Landtagsarchivar Bradler nennt wie auf Knopfdruck Namen:
"Gebhard Müller wie auch Kurt Georg Kiesinger, beide Mitglieder der nichtfarbentragenden Tübinger Studentenverbindung KV Alamannia, brachten eine Reihe von Beamten in wichtige Positionen in der Landesverwaltung, was seither angehalten hat. Eine ganz zentrale Rolle in der Stuttgarter Ministerialbürokratie spielen die lieben alten Herrn von KV Alamannia Tübingen sowie auch von CV Westphalia und Cheruskia, ebenfalls Tübingen. Also ich denke an meinen ersten Landtagsdirektor, Dr. Anton Böhringer und den späteren Landtagsdirektor, Dr. Winfried Grupp, ebenfalls ein KV-Alamanne aus Tübingen."
Man kann so fortfahren und noch viele Namen guter Katholiken nennen. Nur nach der Gegenseite braucht man nicht fragen. Es gibt zwar auch evangelische Studentenverbindungen, aber deren Vertreter sind in der baden-württembergischen Staatsverwaltung dünn gesät.
Kein Vergleich also mit dem engmaschigen katholischen Netzwerk, das Politik und Verwaltung Baden-Württembergs umgarnt und beileibe nicht nur aus Verbindungen gestrickt ist. Auch andere "Kirchenfreunde", die aus der Messdienerschaft und den Reihen der katholischen Vertriebenen stammen, weben am Machtgeflecht mit. Eindrucksvoll lässt sich das an der Schaltstelle des Regierungshandelns, dem Staatsministerium, zeigen.
Dort, in der Villa Reitzenstein, am Sitz des Ministerpräsidenten und der Landesregierung, auf einem der sieben Hügel Stuttgarts, laufen die Fäden der Macht zusammen. Der, der sie bündelt und bisweilen auch wieder entwirrt, ist der beamtete Staatssekretär. Über ihn sagt Eberhard Leibing:
"In der Tat ist das Staatsministerium als Institution und dort der Amtschef eine zentrale Figur mit einer besonderen Einflussmöglichkeit und mit einer besonderen Macht ausgestattet."
Aber Leibing sagt noch mehr und Aufschlussreiches: "Der Zeitraum, den ich überschauen kann, das heißt die letzten fünfunddreißig Jahre, da kannte ich alle Amtschefs im Staatsministerium. Die waren ausnahmslos katholisch, beziehungsweise sind katholisch. Da ist nicht ein Evangelischer dabei."
Die katholischen Strippenzieher in der Villa Reitzenstein hießen in dieser Zeit Gustav Wabro, Lorenz Menz und Rudolf Böhmler. Böhmlers Wechsel zur Bundesbank machte eine Neubesetzung notwendig. Der Mitte Juli ernannte Hubert Wicker ist selbstredend auch katholisch. Einige der Genannten sind freilich nicht nur das. Lorenz Menz, der über zwölf Jahre das Staatsministerium mit diskretem Charme und hoher Effizienz managte, hatte den besonderen Stallgeruch, den man seit Gebhard Müllers und Kurt Georg Kiesingers Zeiten in der Landesverwaltung so schätzt.
Bradler: "Lorenz Menz ist ebenfalls Mitglied und alter Herr der KV Alamannia Tübingen","
sagt Landtagsarchivar Bradler, der auch die Verbindung kennt, die Gustav Wabro, einen anderen langjährigen Staatssekretär, in seine einflussreichen Ämter hievte:
""Die Zahl der katholischen Vertriebenen in Baden-Württemberg hat das Gewicht des katholischen Bevölkerungsteiles enorm verändert. Als eine ganz wichtige politische Persönlichkeit wäre Staatssekretär Gustav Wabro aus Südmähren zu nennen, der, soweit ich sehe, die meisten Staatssekretärsposten in den Landesregierungen von Baden-Württemberg seit 1952 eingenommen hat."
Auch der kürzlich zum Bundesbanker avancierte Rudolf Böhmler ist nicht einfach nur katholisch. Böhmler ist mehr. Schon seine Herkunft aus dem rabenschwarzen Schwäbisch-Gmünd hebt ihn aus der Masse der Normalkatholiken heraus. Und erst recht tut dies sein kirchennaher Hintergrund. Beides ist im Staatsministerium gern gesehen. Hinzu tritt im Fall Böhmler noch ein anderes Spezifikum. Böhmler kam nicht allein. Ministerien-Insider Jandl merkt deshalb so süffisant wie sibyllinisch an:
"Schwäbisch Gmünd hat einen starken Stoßtrupp in der Landesverwaltung."
Etwas Licht in das Dunkel dieses Rätsels um den Gmünder Stoßtrupp
bringt Landtagsarchivar Bradler mit dem Hinweis:
Bradler: "Bei Böhmler wird zumindest in der Tagespresse immer das katholische Umfeld, die Ministranten und Chorknaben von Schwäbisch Gmünd, markant erwähnt."
Dem lässt sich nicht widersprechen. Und Böhmler hat in den sechs Jahren als Amtschef im Staatsministerium ganze Arbeit geleistet. Die Villa Reitzenstein ist durchsetzt mit Böhmler-Boys. Die finden sich inzwischen aber auch in anderen Spitzenpositionen der Landesverwaltung. Hermann Strampfer ist vom Staatsministerium aus zum Regierungspräsidenten in Tübingen aufgestiegen. Thomas Halder und Maximilian Munding haben vom selben Sprungbrett aus ähnliche Gipfel erreicht. Halder ist Ministerialdirektor im Sozialministerium, Munding im Ministerium für ländlichen Raum. Es lohnt sich also Mitglied der Gmünder Ministranten-Seilschaft zu sein.
Es lohnt sich aber auch einfach nur katholisch zu sein. Von den elf Ministern der derzeitigen Regierung sind es acht, von den acht Staatssekretären sind es fünf und von den zehn Ministerialdirektoren sind es sieben. Protestanten kommen hingegen nur als Minderheit, meist sogar nur als kleine Minderheit vor, auch wenn sie derzeit wieder einmal den Ministerpräsidenten stellen.
Aber es kann nicht nur am ausgeprägten katholischen Korpsgeist und am engmaschigen Netzwerk aus katholischen Verbänden, Korporationen und ehemaligen Chorknaben liegen, warum die 'Rechtgläubigen', wie sich die Katholiken gern selber nennen, gegenüber den 'Wüstgläubigen', wie sie mitunter immer noch die Evangelischen titulieren, in Politik und Verwaltung so massiv überrepräsentiert sind. Ralf Jandl, Kenner des Innenlebens mehrerer Ministerialverwaltungen, hält eine einleuchtende Erklärung parat:
"Der Katholik ist etwas elastischer als der Protestant. Der Protestant protestiert eher einmal, sagt: 'Das geht nicht'. Für mich war diese Haltung am besten verkörpert durch den alten, verehrten Kultusminister Hahn, der nicht die geringste Abweichung vom optimalen Weg zuließ."
Der Theologieprofessor Wilhelm Hahn, lange Jahre CDU-Kultusminister und stellvertretender Ministerpräsident, ist in mehrerlei Hinsicht ein exemplarischer Fall – nicht nur als sperriger Paradeprotestant, sondern auch als von der katholischen Kirche erfolgreich verhinderter baden-württembergischer Ministerpräsident. Wie das zuging, weiß Landtagsarchivar Bradler:
"Mir ist vor allem in Erinnerung der Eilbrief des Freiburger Erzdiözesan-
Generalvikars an den damaligen Landtagspräsidenten von Baden-Württemberg, Dr. Franz Gurk, vom 1. Dezember 1966 im Vorfeld der Nachfolgefrage, als Ministerpräsident Kiesinger zum Bundeskanzler designiert war und nach Bonn ging. Der Generalvikar der Erzdiözese Freiburg schreibt:
'Sehr geehrter Herr Präsident!
Vertraulich möchte ich Ihnen mitteilen, dass hier jedermann der Auffassung ist, daß ein evangelischer Theologe, der nicht einmal aus dem Lande stammt, als Ministerpräsident nicht tragbar ist. Wir hoffen, dass die katholischen Abgeordneten in der CDU dem nicht zustimmen.
Mit besten Grüßen
Ihr sehr ergebener
Föhr
Generalvikar"
Die "besten Grüße" des Generalvikars an die Politik verfehlten ihre Wirkung nicht. Da damals wie heute zwei Drittel der CDU-Landtagsabgeordneten katholisch sind, muss ein evangelischer Ministerpräsidentenkandidat über außergewöhnlichen Rückhalt in der CDU-Fraktion verfügen, um gewählt zu werden. Wilhelm Hahn wurde nicht gewählt. Für ihn erwies sich der Konfessionsgraben infolge des "vertraulichen" Fingerzeiges des Freiburger Generalvikars als zu tief. Statt seiner wurde Hans Karl Filbinger Ministerpräsident. Der hatte das richtige Gesangbuch, das katholische.
Auch für Günther Oettinger, den amtierenden Regierungschef, wäre neben anderen Gründen die 'falsche', - sprich: die evangelische Konfession um ein Haar zum Verhängnis geworden. Als sein tiefkatholischer Vorgänger Erwin Teufel gewahr wurde, dass es schwer werden würde, seinen ungeliebten 'ewigen' Kronprinzen Oettinger als Nachfolger zu verhindern, präsentierte er eine Mitbewerberin um das Amt des Ministerpräsidenten. Die war zwar wie weiland Wilhelm Hahn auch kein Landeskind, aber sie hatte im Gegensatz zu Hahn und Oettinger den 'rechten' Glauben. Die Niederrheinerin Annette Schavan ist Katholikin und auch noch Theologin, scheiterte also nicht am Einspruch der katholischen Kirche, wohl aber an dem der christdemokratischen Basis. Die entschied sich in einer Art Urwahl für Oettinger und gegen Schavan.
All dies legt die Frage nahe: Was bewegt das katholische Milieu im Südwesten, Politik und Verwaltung möglichst weitgehend zu dominieren? Die Antwort hängt nicht nur mit Machtstreben zusammen. Auch historische Traumata spielen eine Rolle. Welche, das legt der Journalist und Historiker Karl Moersch dar:
"Bei Württemberg war es so, dass ja Württemberg unter Napoleon eben um die neuwürttembergischen, meistens katholisch besiedelten Gebiete erweitert worden ist. Aber dann geschah etwas, was die Neuwürttemberger den Altwürttembergern eigentlich nie verziehen haben, bis eigentlich nach 1945: Die Ministerien in Stuttgart haben ihr Personal unter den alten evangelischen Familien ausgesucht. Die Verwaltungsamtmänner waren nur zum ganz geringen Teil katholisch. In Baden war die Sache etwas kurioser. Da war ja mit dem Großherzogtum Baden ein gewisses Übergewicht der katholischen Bevölkerung immer noch da. Und es kam hinzu, dass der Großherzog von Baden evangelisch war, und die Beamtenschaft war natürlich weitgehend evangelisch. Und dieser Zustand hat sich über die NS-Zeit hinaus im Prinzip erhalten."
Wo Mehrheiten Minderheiten regieren und erst recht wo Minderheiten über Mehrheiten bestimmen, ist politisches Fingerspitzengefühl oberstes Gebot allen politischen Handels. Keine Frage: Sowohl im überwiegend evangelischen Württemberg als auch im überwiegend katholischen Baden sprang die protestantisch dominierte Beamtenelite mit dem andersgläubigen Bevölkerungsteil, gleichviel, ob er nun Mehrheit oder Minderheit war, bisweilen rüde um. Groll und Verbitterung bei den Katholiken in Oberschwaben und Südbaden waren die Folgen dieses Regiments – und verbunden damit das Gelüst auf Revanche. Die kam nach dem Krieg. Karl Moersch erinnert sich an ein Gespräch mit Baden-Württembergs zweitem Ministerpräsidenten:
"Da sagte mir Gebhard Müller: 'Eins war klar, jetzt sind auch wir Katholiken mal dran gewesen.' Und dann hat er konsequent das gemacht, was früher die Evangelischen gemacht hatten. Die Leute, die seine Vertrauten waren, sind vorwiegend zum Zug gekommen."
Was heißt hier "dran gewesen". Die Katholiken sind immer noch dran. Ihre Strippenzieher arbeiten strategisch, effizient und vor allem lautlos. Was von ihrem Netzwerk hier sichtbar gemacht wurde, ist nur die Spitze des Kirchturms.