Eine Religion ohne Gott

Von Jochen R. Klicker |
Es mag Zufall sein, dass Deutschlands neuestes buddhistisches Zentrum ausgerechnet da entsteht, wo Luthers Familie ihre Wurzeln hatte. Doch einen Symbolwert hat es schon, wenn am historischen Ursprung des Protestantismus nun tibetische Gebetsfahnen wehen. Es sind vor allem junge Sinnsucher, die hier Abstand von der Welt finden wollen.
Yeshe: "Wir sind mitten in Deutschland, mitten im Herzen von Deutschland. Wir haben hier das große Glück, wir haben hier das Grundstück vor zweieinhalb Jahren gefunden, was völlig abgelegen ist, aber doch nicht zu abgelegen. In zehn Minuten sind wir in einer Kleinstadt, in Bad Salzungen. Das ist für uns ideal. Es ist Ruhe. Es ist ruhig. Es gibt keinen Autoverkehr. Die Leute, die hierher kommen, die kommen gezielt. Oder auch mal Wanderer, die vorbeikommen. Aber wir sind jetzt nicht hier total vergessen. Es ist 'ne richtig gute Infrastruktur. Eisenach ist 20 Minuten weg. Für uns ist es ideal hier."

So verortet die ordinierte Nonne Lama Yeshe Sangmo ihr "Karma Schedrup Tschöpel Ling", zu Deutsch "den Platz, an dem Buddhas Lehre durch Studium und Meditation verbreitet wird". Aber weil das hier im Wartburgkreis niemand versteht, haben die zehn Bewohnerinnen und Bewohner allenthalben dezente Hinweise mit dem Aufdruck "Kosmos" angebracht.

Yeshe: "Das ist noch ein Relikt aus DDR-Zeiten. Da hieß das "Kosmos" hier. Wir fanden das supertoll. Den Namen. Aber der wurde dann wieder verändert, der Name. Das heißt jetzt wieder "Hoffmannshöhe" und nicht mehr "Kosmos". Weil der Pfarrer im Ort – wir sind ja hier im Lutherstammort Möhra – der hat beantragt, dass es wieder Hoffmannshöhe heißt. Jetzt schreiben wir in Klammern immer noch Kosmos hinter, weil die Leute kennen’s halt als Kosmos. (…) Das war eigentlich ein ganz wichtiger Treffpunkt hier in dieser Gegend. Da sind hier Leute aus den verschiedenen umliegenden Dörfern hingewandert und haben sich hier getroffen und haben gefeiert. Sonntagnachmittage. Familienfeste. Das war für die so 'ne Art Sammelpunkt."

Das geographische Stichwort dazu lautet: Luther-Stammort Möhra. Seit Anfang des 14. Jahrhunderts lebten zahlreiche Familien, die den Namen Luther trugen, in und um Möhra – die Mehrzahl in passablen wirtschaftlichen Verhältnissen. Selbst heute – in der 17. Generation - sind es noch vier Familien. Sie stammen im Wesentlichen alle von Martin Luthers Onkel Hans dem Kleinen ab. Am Lutherplatz in Möhra steht noch immer das Luthersche Stammhaus, das der junge Martin während seiner Schulzeit von Eisenach aus oft besucht hat.

Viele frühe Ereignisse in Luthers Leben und damit auch der Reformation fanden hier statt – von seiner ersten Predigt vor seiner zahlreichen Verwandtschaft und den Bauern der Umgebung am 3. Mai 1521 über die fingierte Gefangennahme Luthers in Steinbach auf dem Weg von Worms nach Wittenberg bis zur Übersetzung des Neuen Testamentes 1521/22 auf der Wartburg.

Es mag Zufall sein, dass Deutschlands neuestes buddhistisches Zentrum ausgerechnet da entsteht, wo Martin Luthers Familie ihre Wurzeln hatte, wenige Kilometer von der Wartburg entfernt. Doch einen gewissen Symbolwert hat es schon, wenn just am historischen Ursprung des Protestantismus nun tibetische Gebetsfahnen wehen. Für Besucher, die auf Luthers Spuren durchs Land reisen wollen, ist das zumindest "gewöhnungsbedürftig".

Yeshe: "Jetzt kommen Leute, die wir schon seit langem kennen, denn wir reisen in Deutschland von Frankreich aus schon seit zehn Jahren. In fast allen deutschen Städten haben wir so kleine Zentren – oder auch manchmal größere Zentren – und die Leute aus den Städten, wenn die Ruhe brauchen, dann kommen sie hierher. Sie machen hier Zurückziehung, können unter Anleitung von uns meditieren."

Und die aus dem ganzen Bundesgebiet anreisenden Anhänger, die sich gerne "Bodhisattva" nennen, also "Lehrling auf dem Wege zur Erleuchtung", diese Klientel also setzt sich aus zumeist gut ausgebildeten jungen Erwachsenen zusammen, die nach spiritueller Wegweisung suchen, die sie jedoch in den christlichen Kirchen eher nicht finden. Dabei geht es den jungen Sinnsuchern gar nicht so sehr darum, irgendwelche "heiligen" Fähigkeiten zur Selbstoptimierung zu bekommen. Stattdessen kommt man eher, um etwas zu verlieren – nämlich die Anhaftung an die eigenen Wünsche, Leidenschaften und Begierden. Denn diese sind es, die Leid schaffen. Nur wer das ständige Kreisen um das eigene Ego aufgibt – Christen würden sagen: wer den Nächsten so liebt wie sich selbst -, kann sich als Teil eines großen Ganzen begreifen, das nicht mehr den eigenen Lüsten und Leidenschaften gehorcht.

Yeshe: "Das ist Teil des Alltags hier, wenn Leute hierher kommen, die gehen dann viel spazieren. Und in der Natur – das wissen wir ja – fallen gewisse Sachen ganz von alleine ab, da muss man gar nichts machen." (Lacht)

Yeshe Sangmo, die Nonne mit dem Titel eines Lama, berichtet, dass sowohl interessierte Besucher als auch engagierte "Lehrlinge" bereits viele Wünsche fahren lassen, sobald sie nur in das schlichte und stille Ambiente des Studienhauses von Möhra eintauchen.

Yeshe: "Die vielen Gedanken, oder immer neue Wünsche sich erfüllen, immer neue Anreize im Geist, (…) das fällt ja hier einfach flach, und das ist ja auch Absicht. Der Geist soll hier von ganz alleine einfach zur Ruhe kommen. – Im Tibetischen gibt es da ein klassisches Beispiel: Man hat Teeblätter und gießt heißes Wasser drauf. Und wenn man ungeduldig ist und unruhig, und mit dem Glas wackelt, dann wird das nichts mit dem Tee. Und wenn man die Blätter sich voll saugen lässt, dann sinken sie runter. Und oben drauf bleibt dann der Tee und den kann man trinken. Und so ähnlich ist das mit dem Geist. Wenn man den Geist einfach lässt, wie er ist, und gibt keine neuen Reize rein und ist nicht ungeduldig, dann setzt der sich und kommt so zur Weisheit."

Und das alles geschieht, ohne dass man einen Gott, ein Jenseits, eine Offenbarung, das ewige Leben oder die abendländische Metaphysik bemühen muss.

Yeshe: "Wir haben diesen Begriff "Gott" nicht. Unser zentraler Begriff ist eigentlich "Buddha-Natur". Dieses grundsätzlich Gesunde von all diesen Lebewesen. Und wenn man den Sinn des Lebens erfüllen will aus buddhistischer Sicht, dann ist das: In Kontakt zu kommen mit diesem Gesunden in uns. Und die Neurosen einfach wieder zu verlernen. Das ist es eigentlich. (...) Wir gehen den stufenweisen Weg. Das heißt: Wir gewöhnen uns langsam an die Vorstellung, dass dieses Ich nicht so solide ist, wie es scheint. Es braucht viel Übung – einmal in der Meditation und einmal in der Sichtweise -, um diesen Alltag, der scheinbar so sicher und so solide ist, ein bisschen zu durchlöchern. Und über Meditation und über das Arbeiten mit dieser Sichtweise macht man tatsächlich die Erfahrung: Es stimmt, was der Buddha gesagt hat."

Der hatte sich zunächst entschlossen, strengste Askese zu üben, er musste aber feststellen, dass diese Bemühungen ihm nicht dazu verhalfen, die äußere Erscheinungswelt zu überwinden. Nachdem er – fast verhungert – wieder Nahrung zu sich genommen und sich unter einem Feigenbaum zur Versenkungsübung niedergelassen hatte, erkannte er die Wahrheit des "Mittleren Weges", der alle Extreme meidet, und erreichte die Erleuchtung. Er verwirklichte in sich das "Nirwana", das "Verlöschen" von Gier, Hass und Verblendung und von allem "Anhaften" und Anklammern an das Dasein. Damit wurde er zu einem Buddha, zu einem "Erleuchteten", und war von allen Formen weltlicher Bindung, also von Leiden, Tod und Wiedergeburt, befreit. Er erkannte, dass der Glaube an einen unveränderlichen ewigen Wesenskern, an ein Ich, ein Irrglauben ist. Und er erläuterte, warum der Tod für ihn nur noch das Aufhören der Körperfunktionen bedeutete. Die umfassende Leere – mit zwei ee – als endgültiges Fernziel der Erlösungsreligion.

Yeshe: "Der Buddha sagt uns: Alles, was lebt, hat die Buddha-Natur. Auch ein Insekt – selbst wenn es uns schwer fällt, das zu glauben. Aber er sagt: Das ist so. Alles, was lebt, hat diese Grund-Natur. Die ist gesund. Wir sind von Hause aus gesund. Unser persönliches und kollektives Drama ist, dass wir dazu keinen Zugang mehr haben. Das heißt: Wir identifizieren uns im Allgemeinen über Neurosen … was wir alles nicht können und was die anderen alles nicht können… und daraus entstehen Depressionen. Krankheiten, Blockaden. Und der Buddha sagt: Das ist ein Drama, unser persönliches Drama. Eigentlich sind wir gesund, haben die Buddha-Natur. Und wir müssen lernen, die Schleier, die davor sind, die Neurosen, langsam zu durchschauen. Und das machen wir, indem wir wieder und immer wieder in unseren Geist gucken, wie wir reagieren, was wir machen. Und tatsächlich – das weiß ich aus über 20-jähriger Erfahrung – sieht man, dass alles bearbeitbar ist."

Wobei solches Bearbeiten ohne diese zentralen Begriffe und Vorstellungen des abendländischen Denkens wie "Gott" oder "Jenseits" auskommt. Stattdessen ist häufig von "Erleuchtung" die Rede. Sie bringt das Individuum, den Menschen, auf seinen "richtigen Weg" , indem sie ihn seine ursprüngliche gesunde Natur wiederentdecken lässt.