Eine Reise durch den europäischen Kontinent

Rezensiert von Elke Nicolini · 28.10.2005
Ein Jahr lang ist der holländische Journalist und Schriftsteller Geert Mak 1999 durch Europa gereist. Erkenntnisdrang und der Wunsch, das Fremde zu begreifen, haben ihn dazu getrieben, mehr als zwanzig Länder zu besuchen. Dabei spürt er der Geschichte des jeweiligen Landes nach und vermittelt einen lebhaften Eindruck über den Ist-Zustand.
"In diesem Jahr des Herumreisens durch Europa hatte ich den Eindruck, alte Farbschichten abzuschaben. Stärker als je zuvor wurde mir bewusst, dass Generation um Generation eine Kruste der Distanz und der Entfremdung zwischen Ost- und Westeuropäern gewachsen war. "

So heißt es im Prolog des 944-Seiten-starken Buches. Es macht weder aus dem Herzenswunsch des Autors, Europa möge zusammenwachsen einen Hehl, noch aus der traurigen Tatsache, dass es klaftertiefe Risse und ein geradezu unvorstellbares Gefälle gibt. Entstanden ist dieses Kompendium aus einem Auftrag des NRC/Handelsblad. Die Redaktion schickte ihren Reporter ein Jahr lang auf die Reise und brachte täglich einen Beitrag von ihm auf der Titelseite. Auf dieser Grundlage schrieb er das jetzt auf Deutsch vorliegende Buch, das 2004 in Holland erschien, wo es begeistert aufgenommen wurde. Im Untertitel heißt es: "Eine Reise durch das 20. Jahrhundert". Jeden Monat behandelt es einen historischen Abschnitt, während die Reise zu den entsprechenden Städten und Landschaften geht. Selbstverständlich gehört auch ein Besuch von Istanbul dazu, einem der schönsten Orte der Welt, wie der Autor schreibt, der kein Gegner des türkischen EU-Beitritts ist.

"Dies ist Moslemland, und doch könnte die barocke Ladengalerie, in der ich esse, ebenso gut in Brüssel oder in Mailand stehen. Istanbul ist wie Odessa eine Stadt, die mir ihren unterschiedlichen Identitäten ins Reine kommen muss, ohne sich für die eine oder andere zu entscheiden. "

Im ersten Kapitel heißen die Stationen, von Amsterdam ausgehend, Paris, London, Berlin, Wien. Der Blick geht weit zurück, bis in die Zeit vor der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, wobei neben dem Historischen immer auch das Augenblickliche eine Rolle spielt… etwa der hochmoderne Pariser Nahverkehr, der Bettler an der Metrostation, die Dreyfus- Affäre, der Antisemitismus. Geert Mak erinnert an die hoffnungsfrohe Stimmung zur Pariser Weltausstellung 1889: Man erwartete ein Jahrhundert der Gerechtigkeit und menschlichen Großzügigkeit, der Sanftmut und Solidarität, wie der französische Präsident und sein Handelsminister es formulierten. Doch es kam bekanntlich anders. Die Städtenamen des Februar-Kapitels sprechen eine beredte Sprache: Wien, Ypern, Cassel, Verdun und Versailles. Die Geschichtserzählung geht dem Ersten Weltkrieg nach. Sie besticht durch kluge Einsichten in die historischen Hintergründe, die der Autor aus der Fachliteratur gewinnt und die Schilderungen von Zeitzeugen. Neben Ernst Jünger, Käthe Kollwitz und anderen kommt Harold Nicolson zu Wort. Der junge britische Diplomat beriet die drei Sieger nach dem Krieg, als es galt, den Kuchen Europa neu zu verteilen. Am Tage der Unterzeichnung des Versailler Vertrags, vermerkt er im Tagebuch: "Das Ganze ist zu widerlich gewesen. Zu Bett, krank vor Lebensekel." Mit einer riesigen Hypothek ging Europa in die Zwanzigerjahre.

"Eine friedliche Landschaft verwandelt sich in ein Schlachtfeld, und kurze Zeit später sieht es wieder so aus, als sei nichts geschehen. Ich fahre über die N 43 von Sedan ans Meer, durch sanft glühende Rapsfelder und kleine Dörfer, Haus für Haus versteckt in tiefen, üppig wuchernden Vorgärten. Die Kastanien blühen, die Kühe stehen bis zum Bauch in den Butterblumen. Irgendwo in der Nähe von Luxemburg ist diese Straße wie ein kleiner Fluss entsprungen. Und nun windet sie sich durch Felder, Wiesen und stille Maigret-Städtchen. "

Das ist ein Abschnitt der nie vollendeten Maginot-Linie, eine Verteidigungsanlage, die Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg errichtet hatte, um sein Land vor einem neuerlichen deutschen Angriff zu schützen. Doch wurde der Bau wegen Geldmangels vor der belgischen Grenze gestoppt, sodass die Deutschen die Linie nur zu umgehen brauchten. Und schon befinden wir uns in der Epoche der Naziherrschaft. In Schweden aber, herrschten andere Zustände. 1938 wird das berühmte schwedische Konsensmodell geboren, nach dem Motto: keine reichen Individuen, aber reiche Konzerne. Während eines Stadtbummels konstatiert der Autor:

"Fast achtzig Jahre ist hier nüchterne Vernunft an der Macht gewesen, und das ist in Stockholm überall erkennbar.... Obdachlose, Prostituierte und Drogensüchtige werden kontrolliert und angemessen untergebracht. Fahrradschlösser sind hier dünner als anderswo in Europa. Alle kleiden sich mehr oder weniger gleich, fast niemand trägt etwas Elegantes, aber auch das gehört zu einer agrarisch geprägten Kultur. Hier und da hebt sich jemand von den anderen ab, aber hauptsächlich durch seinen oder ihren Blick. Das sind die Erfolgreichen, das spürt man, anzusehen ist es ihnen kaum. "

Geert Mak sieht und erkennt schon viel, wenn er durch die Straßen einer Stadt geht. Er hat darüber hinaus Gedenkstätten und Museen besucht, Dokumente in örtlichen Archiven studiert. Geschichts- und Erinnerungsbücher gehören ebenso wie Werke der Schönen Literatur zu seinen Quellen, aus denen er zum Teil zitiert. Das heutige Bild aber runden vor allem die Menschen ab, mit denen er an den verschiedenen Orten gesprochen hat. Nachdrücklich weist der Autor auf die Rolle des historischen Gepäcks für das Selbstverständnis der Nationen und Volksgruppen hin, gleich ob sie es mit Leichtigkeit schultern oder unendlich schwer an ihm zu tragen haben: Spanien, das auf seinen Bürgerkrieg und die Franco-Zeit zurückschaut; Großbritannien, das den Verlust seines Empires verschmerzen musste; Belgien, das nur schwer seine Identität finden konnte und heute mit seiner Hauptstadt Brüssel fast ein Synonym für die EU ist; Holland, das dem Autor, wenn er zwischendurch mal wieder zu Hause ist geradezu monströs vorkommt in seiner Wohlhabenheit – um nur einige Beispiele zu nennen.

Natürlich nimmt der Zweite Weltkrieg einen weiten Raum ein. Schließlich sind die allermeisten Länder in Europa von ihm gezeichnet. Das gilt für Polen, Russland, für die baltischen Länder, die damalige Tschechoslowakei, für Ungarn, die Ukraine und für viele weitere. Die erbarmungslose deutsche Kriegsmaschine, die den Westen überrollte und sich weit in Osteuropa hineinfraß. All die überfallenen, zutiefst gekränkten und versehrten Nationen. Die Judenmorde, überall, wo Deutsche Gebiet erobert hatten. Akribisch verzeichnet das Buch, wie unterschiedlich die heimischen Ordnungskräfte in den verschiedenen Ländern auf die Befehle reagierten, Juden zu verhaften, sie den Mördern auszuliefern. Von all dem erzählt der Autor, verwebt es mit den Eindrücken, die er heute an den geschichtsträchtigen Orten gewinnt. So weiß er im August aus Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, neben der historischen Erzählung um die kriegsentscheidende Schlacht im Winter 1941/42, Verblüffendes zu berichten:

"Es ist eine typische Reihensiedlung, ein schmaler bebauter Streifen am Fluss, nur ein paar Straßen breit, aber fast hundert Kilometer lang, eine endlose Folge von Wohnblocks, Fabriken, Kraftwerden, grau und eintönig. Jenseits dieses Streifens dehnt sich in beiden Richtungen die Steppe bis weit hinter den Horizont, eine heiße, staubige Ebene, die an Texas oder Arizona erinnert; man sieht unermessliche Kornfelder, vereinzelte Bäume, Telfondrähte, hier und dort einen Schuppen, der bestimmt eine klappernde, lose in den Angeln hängende Tür hat. Manchmal tauchen ein paar ungeheure Bulldozer und Bagger auf, die eine neue Straße anlegen oder einen Bewässerungskanal graben. Die Mentalität ist die von Las Vegas: Man baut, reißt ab und zieht weiter.... Ich mache eine Fahrt mit der Stadtbahn...Was auffällt, ist die Art, wie vor allem viele junge Menschen sich in Szene setzen. Nirgendwo sonst im ehemaligen Ostblock habe ich so viel selbst gemachte Eleganz gesehen, so viele Frauen mit phantastischer, gewagter Kleidung, Kreationen, die sogar in Paris, London oder Mailand auffallen würden. "

In Wolgograd (Stalingrad) besuchte Geert Mak auch den einige Monate zuvor angelegten deutschen Soldatenfriedhof. Er sollte feierlich eingeweiht werden, doch sagten die russischen Instanzen wegen der NATO-Bombenangriffe auf Belgrad ab. Nun vertrocknen die frisch gepflanzten Bäume, die Kränze mit "Grüßen aus der Heimat" werden vom heißen Wind durch die Gegend gerollt. Und man möchte beim Lesen seufzen, ach, Europa!

Und immer wieder führt ihn seine Reise nach Berlin, denn hier fanden die entscheidenden Ereignisse statt, mit denen er sich im Buch ausführlich auseinandersetzt: Die Kriegserklärung Kaiser Wilhelms, die Inflation, Hitlers Aufstieg, die Wannsee-Konferenz, der Bau der Mauer, der Fall der Mauer. Als der Autor wieder einmal in Berlin weilt, schreibt er:

"Seit gestern, dem 24. März, greift nun die NATO ein. Die Deutschen betrachten die Intervention als "humanitären" Krieg. In den Nachrichten sehe ich, wie Flugzeuge mit dem Eisernen Kreuz auf die Startbahn schwenken, schwer bewaffnet, bereit zum Bombardement von Belgrad oder serbischen Zielen im Kosovo. Die Bild-Zeitung wird den Verkäufern aus den Händen gerissen. Die Titelseite ist mit den Farben der deutschen Fahne umrandet. "

Zum Ende des Jahres 1999 bereiste Geert Mak auch das Gebiet der Jugoslawienkriege: Novi Sad, Srebreníca, Sarajevo. Und es klingt sehr traurig, was er zu berichten weiß. Trümmer, Armut und Hoffnungslosigkeit beherrschen die Szene.
Dazu Menschen aus dem Westen, wie von einem anderen Stern

"Legionen westlicher Helfer haben sich Sarajevos und des übrigen Bosniens angenommen. Sie fahren mit ihren protzigen, sündhaft teuren Land Cruisern durch die Stadt, telefonieren mit ihren Handys um die ganze Welt, bevölkern das Holiday Inn Hotel, wo die Übernachtung dreihundertfünfzig Mark kostet. Sie sind die Herolde des reichen Europas und Amerikas, die humanitären Aktivisten und flotten nation builders, die Medienhelden, die von einem Ziel zum nächsten springen. "

Heute seien die Helfer zum größten Teil aus dem früheren Jugoslawien fortgezogen, so der Autor in seinem Epilog, den er für die deutsche Ausgabe dieses Jahr verfasst hat. Das Land aber sei immer noch ein Trümmerhaufen, doch konzentriere sich jetzt alles auf Afghanistan und den Irak.

Dieses fesselnde Buch, so klug und empathisch, dessen viele Seiten man wie im Fluge verschlingt, und an dessen Ende man eine Menge über Europa dazugelernt hat, schließt mit dem Appell, einen gemeinsamen kulturellen, politischen und vor allem demokratischen Raum entstehen zu lassen.

"Denn über eines muss man sich im Klaren sein: Europa hat nur diese eine Chance. "

Geert Mak: In Europa - Eine Reise durch das 20. Jahrhundert
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke und Gregor Seferens
Siedler Verlag, München 2005