"Eine Quelle unter vielen"
Das Internet-Lexikon Wikipedia wird zehn Jahre alt. Journalisten sollten die Seite zwar nicht als "Wahrheitsfundus" überschätzen, aber zur Vorrecherche und für einen ersten Überblick über ein Thema nutzen, sagt der Leipziger Medienwissenschaftler Michael Haller.
Dieter Kassel: Am kommenden Samstag wird die Internetenzyklopädie Wikipedia zehn Jahre alt. Als damals, 2001, ein paar Leute in den USA die Idee umsetzten, die Idee von einem Lexikon, das nicht nur jeder kostenlos lesen, sondern in dem auch jeder kostenlos etwas schreiben kann, da hat das zunächst kaum jemand ernst genommen. Diese Zeiten allerdings, wir wissen das, sind längst vorbei. Heute ist die Wikipedia mit ihren Angeboten in über 250 Sprachen und insgesamt mehreren Millionen Artikeln eine der wichtigsten Informationsquellen für Internetnutzer auf der ganzen Welt, und sie ist auch zu einem wichtigen Recherche-Instrument für Journalisten geworden. Über diesen Aspekt wollen wir jetzt mit Michael Haller sprechen, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für praktische Journalismusforschung, und bis September 2010 auch Professor für Journalistik an der Universität Leipzig. Schönen guten Tag, Herr Haller!
Michael Haller: Ja, guten Tag, Herr Kassel!
Kassel: Wie wichtig ist denn Wikipedia heutzutage für Journalisten?
Haller: Es ist für sich informierende – ob nun auch schon gleich richtig recherchierende Journalisten – eine der wichtigeren Ressourcen geworden. Ich denke auch, dass berufserfahrene Journalisten auch den richtigen Umgang mit Wikipedia beherrschen, also Wikipedia nicht für ein Orakel halten, für einen Wahrheitsfundus, sondern eben für eine Quelle unter vielen.
Kassel: Wenn man in der Wikipedia, in der deutschsprachigen Wikipedia den Begriff Recherche nachsieht, dann findet man auch ein Zitat von Ihnen, Herr Haller, da steht dann nämlich: "Das Recherchieren ist im engeren Sinne ein Verfahren zur Beschaffung und Beurteilung von Aussagen, die ohne dieses Verfahren nicht preisgegeben, also nicht publik würden." Das heißt doch, dass eigentlich Wikipedia für eine echte Recherche nicht tauglich ist, denn das, was da steht, das ist ja so oder so publik.
Haller: Genau. Also Sie müssen sich den recherchierenden Journalisten vorstellen, dass er, bevor er an kritische, nicht öffentliche Informationen kommt, sich zu erst mal eine Übersicht verschaffen sollte. Genau eine Übersicht darüber, was weiß man eigentlich darüber? Und dass gemeinhin verfügbare Alltagswissen, aber auch schon das definierte Begriffswissen reicht ja über das hinaus, was man so im Kopf herumträgt. Jeder von uns kennt die Situation: Er hört etwas, von dem er weiß, das weiß man eigentlich, aber es fällt einem nicht ein, man weiß es eben nicht, also schlägt man nach. Früher hätte man Meyers Enzyklopädie genommen oder den Duden oder ein entsprechend anderes, Bertelsmann, ein anderes Nachschlagewerk, und das ist dem vergleichbar. So, wenn sich ein Journalist eine Übersicht verschaffen möchte – was ist das eigentlich genau, was weiß man darüber schon –, dann ist eine der Ressourcen Wikipedia.
Kassel: Wenn wir jetzt schon bei diesem Vergleich sind zwischen Wikipedia und den traditionellen, gedruckten Enzyklopädien, dann gibt es natürlich den Unterschied der Aktualität. Und das ist aber nun doch auch etwas, Herr Haller, was Journalisten ja manchmal verführt, denn in der Wikipedia steht zum Beispiel teilweise zwei, drei Minuten, nachdem eine Entscheidung getroffen ist, schon drin, dass sie getroffen wurde. Und manchmal fallen Journalisten dann auch herein, wir erinnern uns an dieses Beispiel …
Haller: … das berühmte Beispiel, ja …
Kassel: … ja, der berühmte Guttenberg-Vorname, der überflüssige … Da ist ja nun kein Riesenschaden entstanden, trotzdem hat man aber da gesehen, dass, was Sie gerade so in rosa Farben gemalt haben – erst mal da reingucken und dann weiter recherchieren –, das wird ja offenbar nicht immer gemacht.
Haller: Ja, zwei Dinge dazu: Der erfahrene oder der Profi-Journalist weiß, dass Wikipedia wie jede Enzyklopädie nur zuverlässiger ist, wenn eben nicht der Aktualität hinterhergehechelt wird, sondern wenn man Bearbeitungen in Wikipedia aufruft, die sich erstens auf abgeschlossene Vorgänge, auf abgeschlossene Biografien, auf abgeschlossene Themen und Begriffe beziehen. Man kann das ja bei Wikipedia, wenn man ein bisschen sich damit beschäftigt, auch sehr genau nachschauen, wann die letzten Einträge stattgefunden haben. Es ist also ein vergleichsweise transparentes Instrument. Das ist das eine.
Der zweite Punkt, genau so wichtig, ist: Wikipedia, das meinte ich vorhin, ist nur eine von verschiedenen Quellen, die ein Journalist, bevor er eigentlich zu recherchieren beginnt, nutzen sollte, um sich eine Übersicht zu verschaffen. Genau so wichtig ist gerade bei so topaktuellen Themen, dass man die laufende aktuelle Berichterstattung durchgeht, dass man also, wenn man es über das Internet, digital machen möchte, dass man da zumindest die einschlägigen für journalistisch einigermaßen sorgfältig geltenden Informationsmedien absucht.
Kassel: Aber wenn wir trotzdem bei dem berühmten Guttenberg bleiben, zeigt das aber nicht doch, wie sehr man Wikipedia inzwischen auch in Profikreisen vertraut und andere Quellen nicht nutzt? Ich meine, wie Guttenberg mit Vornamen wirklich heißt, das kann man auf der Seite des Bundestags nachgucken, die haben glaube ich auch eine private Familienseite, und dann kann man auch davon ausgehen, wenn da nicht die Wahrheit steht, dann sind die Familienmitglieder auch noch selbst dran schuld – und es wurde nicht gemacht. Noch mal, es ist nichts Schlimmes passiert, aber zeigt doch dennoch eine Menge?
Haller: Ja. Das würde ich weniger dem Prinzip Wikipedia anlasten, denn wie gesagt, jeder, der sich mit Wikipedia beschäftigt und es nutzen will, weiß ja auch, wie Wikipedia entsteht, nämlich dass da sozusagen die Alltagsintelligenz aller Beteiligten einfließt und es keine professionelle Redaktion dort gibt, die das inhaltlich überprüft, sondern das sind die Nutzer und Schreiber von Wikipedia, Menschen wie du und ich, die Einträge wiederum gegenseitig quasi durch Gegenlesen überprüfen und fortschreiben und verändern. Also wenn man das alles weiß, dann weiß man also auch, für was Wikipedia funktioniert und für was nicht. Also mit anderen Worten: Der schwarze Peter liegt hier bei den Journalisten, nicht bei Wikipedia.
Kassel: Wir reden in Deutschlandradio Kultur mit Michael Haller, dem wissenschaftlichen Direktor des Instituts für praktische Journalismusforschung. Wir reden mit ihm über den Einfluss von Wikipedia auf Journalismus, weil die Wikipedia am kommenden Samstag ihr Zehnjähriges feiert. Nun ist ja Wikipedia nur eins von vielen Internetphänomenen, Herr Haller, die was mit Journalismus zu tun haben, und wenn wir trotzdem noch mal ein bisschen beim Thema Zeitdruck bleiben: Es geht natürlich alles viel schneller im Internet, man muss in kein Archiv rennen, man muss nicht mehr mit irgendeinem Archivar diskutieren, hat keine Öffnungszeiten, und man muss auch nicht durch die halbe Stadt fahren, um jemanden zu treffen. Ist das vielleicht auch ein gewisses Risiko, dass sich mancher Journalist einbildet, okay, ein paar Stunden brauche in der Tat dafür, aber ich kann alles am Computer machen, ich muss keinen mehr anrufen, ich muss schon gar nicht irgendwo hingehen?
Haller: Ganz richtig, stimme ich Ihnen voll zu, das sehen wir genau so. Der Verlust sozusagen an Alltags- und Lebenswelt in der journalistischen Arbeit und der Ersatz von direkter, konkreter Erfahrung durch Begegnung und Beobachtungen und so weiter, dieser Verlust, den merkt man den Berichterstattungen auch deutlich an. Es wird abstrakter, es wird abgelöster, es wird abgehobener, artifizieller, die Klischees häufen sich, das sogenannte Copy and Paste, also dass man von einem Internettext, einer Internetdokumentation Versatzstücke rauskopiert und sie verwurstet, all diese Tendenzen haben deutlich zugenommen, zumal eben auch hier der Punkt eine Rolle spielt, nämlich der wachsende Druck auf die Redaktionsmitglieder, innerhalb noch kürzerer Zeit mit noch weniger Personal noch mehr Medienseiten füllen zu sollen.
Kassel: Welche Auswirkung hat es, dass man sich als Journalist ja auch in unglaublich kurzer Zeit einen Überblick darüber verschaffen kann, was die anderen schon zum gleichen Thema geschrieben haben?
Haller: Herr Kassel, ich glaube, das wird auch manchmal für zu wichtig genommen. Also sich einen Überblick verschaffen, ist sehr gut und wichtig und richtig, insbesondere dann, wenn man mit den anderen in einem dem Leser gegenüber Wettbewerb steht, also dass man nicht einfach Redundanz, also Wiederholung desselben produziert, dass man mal genauer nachschaut, was hat etwa der Protagonist, der Akteur, was hat der in dem anderen Medium, wenn er schon einvernommen oder interviewt wurde, was hat er da gesagt, auf was kann ich mich da beziehen, welchen Thrill, welchen Drive, welchen Aufhänger haben andere Medien diesem Thema gegeben, ist das eigentlich gerechtfertigt?
Das ist an sich ja als ein Verhalten völlig richtig, man darf dann nur nicht wieder dem Lemminge-Effekt folgen, dass man sagt, aha, das ist in der "Süddeutschen" oder in der "FAZ" oder im "Handelsblatt" oder im "Spiegel" oder wo auch immer, die haben das so gedreht, also drehen wir es auch so. Das ist wiederum unzureichende Professionalität. Das ist auch wieder ein, in gewisser Weise ist hier eine gedankliche oder intellektuelle Faulheit oder auch ein Unvermögen, wenn man einfach nur anderen hinterherrennt.
Kassel: Da die meisten Menschen ja immer so ein bisschen den Verdacht haben, es war doch früher alles besser, als es langsamer und ruhiger und genauer war, Frage an Sie: Ist denn das Internet im Allgemeinen und so etwas wie Wikipedia im Speziellen auch für den Journalismus eher ein Fluch oder eher ein Segen?
Haller: Also ich denke, es ist in erster Linie mal eine unglaublich spannende und sehr hilfreiche Erweiterung der verschiedenen Recherchier-Instrumente, um über Sachverhalte Aufklärung zu bekommen. Es ist aber sehr verführerisch, weil das sehr schnelle Instrumente sind, die das Internet zur Verfügung stellt, und weil sie – denken wir an Google – die Illusion vermitteln, ich könnte mit drei, vier Suchbegriffen etwa in Erfahrung bringen, was die Welt darüber weiß. Schlecht ausgebildete Journalisten übersehen, was sie, wenn sie etwa googeln oder bei Wikipedia nachschauen, dass sie da genau so wie bei anderen Quellen, wie sie früher in Zeitungen oder in Zeitschriften oder sonst wo waren, auch immer interessensgebundene Aussagen vorfinden, die man abgleichen muss mit anderen Interessen. Dass man da nachschauen muss, welche Interessen stehen denn da dahinter, welche Sachverhalte sind da ausgesagt und was für Meinungen sind zwischen den Sachverhalten sozusagen subkutan eingeflochten?
Also diese ganze harte Knochenarbeit, die im Kopf anfängt, die mit dem Denken, mit dem Analysieren von Information anfängt, die war früher so und die ist heute genau so. Das, was leichter geworden ist, ist eben in der Tat, dass man eine Summer von verschiedensten Quellen auf eine sehr ja sagen wir mal elegante Art mit den entsprechenden Suchinstrumenten zur Verfügung hat.
Kassel: Michael Haller, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für praktische Journalismusforschung und ehemaliger Journalistikprofessor an der Universität Leipzig. Das war das erste Gespräch zum Jubiläum des Online-Lexikons Wikipedia, die Wikipedia wird nämlich am Samstag zehn. Wir werden uns damit aber noch mehrmals beschäftigen in dieser Woche. Wir werden zum Beispiel am Freitag dann mit einem Mann reden, der seit Langem für die Wikipedia schreibt, und ein bisschen diese Diskussion fortführen darüber, wer eigentlich entscheidet, wer da Artikel veröffentlich und wer nicht.
Michael Haller: Ja, guten Tag, Herr Kassel!
Kassel: Wie wichtig ist denn Wikipedia heutzutage für Journalisten?
Haller: Es ist für sich informierende – ob nun auch schon gleich richtig recherchierende Journalisten – eine der wichtigeren Ressourcen geworden. Ich denke auch, dass berufserfahrene Journalisten auch den richtigen Umgang mit Wikipedia beherrschen, also Wikipedia nicht für ein Orakel halten, für einen Wahrheitsfundus, sondern eben für eine Quelle unter vielen.
Kassel: Wenn man in der Wikipedia, in der deutschsprachigen Wikipedia den Begriff Recherche nachsieht, dann findet man auch ein Zitat von Ihnen, Herr Haller, da steht dann nämlich: "Das Recherchieren ist im engeren Sinne ein Verfahren zur Beschaffung und Beurteilung von Aussagen, die ohne dieses Verfahren nicht preisgegeben, also nicht publik würden." Das heißt doch, dass eigentlich Wikipedia für eine echte Recherche nicht tauglich ist, denn das, was da steht, das ist ja so oder so publik.
Haller: Genau. Also Sie müssen sich den recherchierenden Journalisten vorstellen, dass er, bevor er an kritische, nicht öffentliche Informationen kommt, sich zu erst mal eine Übersicht verschaffen sollte. Genau eine Übersicht darüber, was weiß man eigentlich darüber? Und dass gemeinhin verfügbare Alltagswissen, aber auch schon das definierte Begriffswissen reicht ja über das hinaus, was man so im Kopf herumträgt. Jeder von uns kennt die Situation: Er hört etwas, von dem er weiß, das weiß man eigentlich, aber es fällt einem nicht ein, man weiß es eben nicht, also schlägt man nach. Früher hätte man Meyers Enzyklopädie genommen oder den Duden oder ein entsprechend anderes, Bertelsmann, ein anderes Nachschlagewerk, und das ist dem vergleichbar. So, wenn sich ein Journalist eine Übersicht verschaffen möchte – was ist das eigentlich genau, was weiß man darüber schon –, dann ist eine der Ressourcen Wikipedia.
Kassel: Wenn wir jetzt schon bei diesem Vergleich sind zwischen Wikipedia und den traditionellen, gedruckten Enzyklopädien, dann gibt es natürlich den Unterschied der Aktualität. Und das ist aber nun doch auch etwas, Herr Haller, was Journalisten ja manchmal verführt, denn in der Wikipedia steht zum Beispiel teilweise zwei, drei Minuten, nachdem eine Entscheidung getroffen ist, schon drin, dass sie getroffen wurde. Und manchmal fallen Journalisten dann auch herein, wir erinnern uns an dieses Beispiel …
Haller: … das berühmte Beispiel, ja …
Kassel: … ja, der berühmte Guttenberg-Vorname, der überflüssige … Da ist ja nun kein Riesenschaden entstanden, trotzdem hat man aber da gesehen, dass, was Sie gerade so in rosa Farben gemalt haben – erst mal da reingucken und dann weiter recherchieren –, das wird ja offenbar nicht immer gemacht.
Haller: Ja, zwei Dinge dazu: Der erfahrene oder der Profi-Journalist weiß, dass Wikipedia wie jede Enzyklopädie nur zuverlässiger ist, wenn eben nicht der Aktualität hinterhergehechelt wird, sondern wenn man Bearbeitungen in Wikipedia aufruft, die sich erstens auf abgeschlossene Vorgänge, auf abgeschlossene Biografien, auf abgeschlossene Themen und Begriffe beziehen. Man kann das ja bei Wikipedia, wenn man ein bisschen sich damit beschäftigt, auch sehr genau nachschauen, wann die letzten Einträge stattgefunden haben. Es ist also ein vergleichsweise transparentes Instrument. Das ist das eine.
Der zweite Punkt, genau so wichtig, ist: Wikipedia, das meinte ich vorhin, ist nur eine von verschiedenen Quellen, die ein Journalist, bevor er eigentlich zu recherchieren beginnt, nutzen sollte, um sich eine Übersicht zu verschaffen. Genau so wichtig ist gerade bei so topaktuellen Themen, dass man die laufende aktuelle Berichterstattung durchgeht, dass man also, wenn man es über das Internet, digital machen möchte, dass man da zumindest die einschlägigen für journalistisch einigermaßen sorgfältig geltenden Informationsmedien absucht.
Kassel: Aber wenn wir trotzdem bei dem berühmten Guttenberg bleiben, zeigt das aber nicht doch, wie sehr man Wikipedia inzwischen auch in Profikreisen vertraut und andere Quellen nicht nutzt? Ich meine, wie Guttenberg mit Vornamen wirklich heißt, das kann man auf der Seite des Bundestags nachgucken, die haben glaube ich auch eine private Familienseite, und dann kann man auch davon ausgehen, wenn da nicht die Wahrheit steht, dann sind die Familienmitglieder auch noch selbst dran schuld – und es wurde nicht gemacht. Noch mal, es ist nichts Schlimmes passiert, aber zeigt doch dennoch eine Menge?
Haller: Ja. Das würde ich weniger dem Prinzip Wikipedia anlasten, denn wie gesagt, jeder, der sich mit Wikipedia beschäftigt und es nutzen will, weiß ja auch, wie Wikipedia entsteht, nämlich dass da sozusagen die Alltagsintelligenz aller Beteiligten einfließt und es keine professionelle Redaktion dort gibt, die das inhaltlich überprüft, sondern das sind die Nutzer und Schreiber von Wikipedia, Menschen wie du und ich, die Einträge wiederum gegenseitig quasi durch Gegenlesen überprüfen und fortschreiben und verändern. Also wenn man das alles weiß, dann weiß man also auch, für was Wikipedia funktioniert und für was nicht. Also mit anderen Worten: Der schwarze Peter liegt hier bei den Journalisten, nicht bei Wikipedia.
Kassel: Wir reden in Deutschlandradio Kultur mit Michael Haller, dem wissenschaftlichen Direktor des Instituts für praktische Journalismusforschung. Wir reden mit ihm über den Einfluss von Wikipedia auf Journalismus, weil die Wikipedia am kommenden Samstag ihr Zehnjähriges feiert. Nun ist ja Wikipedia nur eins von vielen Internetphänomenen, Herr Haller, die was mit Journalismus zu tun haben, und wenn wir trotzdem noch mal ein bisschen beim Thema Zeitdruck bleiben: Es geht natürlich alles viel schneller im Internet, man muss in kein Archiv rennen, man muss nicht mehr mit irgendeinem Archivar diskutieren, hat keine Öffnungszeiten, und man muss auch nicht durch die halbe Stadt fahren, um jemanden zu treffen. Ist das vielleicht auch ein gewisses Risiko, dass sich mancher Journalist einbildet, okay, ein paar Stunden brauche in der Tat dafür, aber ich kann alles am Computer machen, ich muss keinen mehr anrufen, ich muss schon gar nicht irgendwo hingehen?
Haller: Ganz richtig, stimme ich Ihnen voll zu, das sehen wir genau so. Der Verlust sozusagen an Alltags- und Lebenswelt in der journalistischen Arbeit und der Ersatz von direkter, konkreter Erfahrung durch Begegnung und Beobachtungen und so weiter, dieser Verlust, den merkt man den Berichterstattungen auch deutlich an. Es wird abstrakter, es wird abgelöster, es wird abgehobener, artifizieller, die Klischees häufen sich, das sogenannte Copy and Paste, also dass man von einem Internettext, einer Internetdokumentation Versatzstücke rauskopiert und sie verwurstet, all diese Tendenzen haben deutlich zugenommen, zumal eben auch hier der Punkt eine Rolle spielt, nämlich der wachsende Druck auf die Redaktionsmitglieder, innerhalb noch kürzerer Zeit mit noch weniger Personal noch mehr Medienseiten füllen zu sollen.
Kassel: Welche Auswirkung hat es, dass man sich als Journalist ja auch in unglaublich kurzer Zeit einen Überblick darüber verschaffen kann, was die anderen schon zum gleichen Thema geschrieben haben?
Haller: Herr Kassel, ich glaube, das wird auch manchmal für zu wichtig genommen. Also sich einen Überblick verschaffen, ist sehr gut und wichtig und richtig, insbesondere dann, wenn man mit den anderen in einem dem Leser gegenüber Wettbewerb steht, also dass man nicht einfach Redundanz, also Wiederholung desselben produziert, dass man mal genauer nachschaut, was hat etwa der Protagonist, der Akteur, was hat der in dem anderen Medium, wenn er schon einvernommen oder interviewt wurde, was hat er da gesagt, auf was kann ich mich da beziehen, welchen Thrill, welchen Drive, welchen Aufhänger haben andere Medien diesem Thema gegeben, ist das eigentlich gerechtfertigt?
Das ist an sich ja als ein Verhalten völlig richtig, man darf dann nur nicht wieder dem Lemminge-Effekt folgen, dass man sagt, aha, das ist in der "Süddeutschen" oder in der "FAZ" oder im "Handelsblatt" oder im "Spiegel" oder wo auch immer, die haben das so gedreht, also drehen wir es auch so. Das ist wiederum unzureichende Professionalität. Das ist auch wieder ein, in gewisser Weise ist hier eine gedankliche oder intellektuelle Faulheit oder auch ein Unvermögen, wenn man einfach nur anderen hinterherrennt.
Kassel: Da die meisten Menschen ja immer so ein bisschen den Verdacht haben, es war doch früher alles besser, als es langsamer und ruhiger und genauer war, Frage an Sie: Ist denn das Internet im Allgemeinen und so etwas wie Wikipedia im Speziellen auch für den Journalismus eher ein Fluch oder eher ein Segen?
Haller: Also ich denke, es ist in erster Linie mal eine unglaublich spannende und sehr hilfreiche Erweiterung der verschiedenen Recherchier-Instrumente, um über Sachverhalte Aufklärung zu bekommen. Es ist aber sehr verführerisch, weil das sehr schnelle Instrumente sind, die das Internet zur Verfügung stellt, und weil sie – denken wir an Google – die Illusion vermitteln, ich könnte mit drei, vier Suchbegriffen etwa in Erfahrung bringen, was die Welt darüber weiß. Schlecht ausgebildete Journalisten übersehen, was sie, wenn sie etwa googeln oder bei Wikipedia nachschauen, dass sie da genau so wie bei anderen Quellen, wie sie früher in Zeitungen oder in Zeitschriften oder sonst wo waren, auch immer interessensgebundene Aussagen vorfinden, die man abgleichen muss mit anderen Interessen. Dass man da nachschauen muss, welche Interessen stehen denn da dahinter, welche Sachverhalte sind da ausgesagt und was für Meinungen sind zwischen den Sachverhalten sozusagen subkutan eingeflochten?
Also diese ganze harte Knochenarbeit, die im Kopf anfängt, die mit dem Denken, mit dem Analysieren von Information anfängt, die war früher so und die ist heute genau so. Das, was leichter geworden ist, ist eben in der Tat, dass man eine Summer von verschiedensten Quellen auf eine sehr ja sagen wir mal elegante Art mit den entsprechenden Suchinstrumenten zur Verfügung hat.
Kassel: Michael Haller, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für praktische Journalismusforschung und ehemaliger Journalistikprofessor an der Universität Leipzig. Das war das erste Gespräch zum Jubiläum des Online-Lexikons Wikipedia, die Wikipedia wird nämlich am Samstag zehn. Wir werden uns damit aber noch mehrmals beschäftigen in dieser Woche. Wir werden zum Beispiel am Freitag dann mit einem Mann reden, der seit Langem für die Wikipedia schreibt, und ein bisschen diese Diskussion fortführen darüber, wer eigentlich entscheidet, wer da Artikel veröffentlich und wer nicht.