Eine Prise Hölderlin

29.04.2009
"Ich habe niemals Hölderlin geheißen, sondern Scardanelli", hatte der 1843 gestorbene Lyriker einst behauptet. In ihrem gleichnamigen Gedichtband erinnert die Österreicherin Friederike Mayröcker durch dezente Anspielungen an Friedrich Hölderlin. Aber auch Ernst Jandl wird vor dem Vergessen bewahrt.
1806 wird der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) in die Universitätsklinik in Tübingen eingeliefert. Die Diagnose lautet "Wahnsinn". Drei Wochen später wird er einer Pflegefamilie anvertraut, denn er gilt als unheilbar krank und die Ärzte rechnen mit seinem baldigen Tod. Doch Hölderlin lebt und schreibt noch 36 Jahre. Als dem alternden Dichter seine Gedichte aus früher Zeit vorgelegt werden, bestätigt er zwar die Autorschaft, meint aber der Name sei gefälscht:

"Ich habe niemals Hölderlin geheißen, sondern Scardanelli!"

Seitdem ist der Name mit Hölderlins Werk untrennbar verbunden. Nun nennt die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker ihre Gedichtsammlung "Scardanelli". Der Buchtitel ist Programm und der Name verweist auf Hölderlins zweite Lebenshälfte. In 40 Gedichten, die im Jahr 2008 entstanden sind, begegnet die Grande Dame der Literatur dem Meister der Sprache, der die Wucht des Wortes auszukosten wusste.

Im Eröffnungsgedicht "Hölderlinturm, am Neckar, um Mai" befindet sich das lyrische Ich im noch heute bestehenden Stadtturm, in dem Hölderlin einst schrieb. Im "hellroten Hölderlinzimmer" registrieren die Augen anfangs lediglich eine "Prise Hölderlin". Bis sich der Blick in einigen "Blütenblättern" verfängt und ein Vers aus seinem Gedicht "Der Neckar" erinnert wird:

"Es glänzt die bläuliche Silberwelle"

Ton kommt zum Bild und der museale Ort scheint plötzlich belebt.

Mayröcker stimmt mit dieser Szenerie auf das Thema des Gedichtbandes ein. Und sie verrät bereits im darauffolgenden Gedicht, in welchem Zustand die Begegnungen stattfinden:

"erschrecke zuweilen dass der zu dem ich
spreche nicht da ist".


Für das Verständnis der Gedichte ist das eine wesentliche Information, denn in der Einsamkeit des/der Sprechenden verläuft der geheimnisvolle Meridian, der beide Künstler verbindet und der als zentraler Gedanke die Texte durchzieht. Zugleich aber spricht der Vers von "knallharter Mnemotechnik" und "Gedächtniskunst". Denn neben Hölderlin gilt es auch den Hand- und Herzgefährten Ernst Jandl vor dem Vergessen zu bewahren, der 2000 verstarb.

So stößt das lyrische Ich beim Erinnern immer wieder auf Leerstellen (den Verlust von Freunden, den Tod der Mutter) und verfällt in einen inneren Dialog, der auch der Selbstvergewisserung dient. Aus der Not zunehmender Kommunikationsabstinenz, unverschuldet und unwiederbringlich wie einst bei Hölderlin, entstehen Gedichte, die in großer Anzahl Freunden und Bekannten gewidmet sind. Schreiben als Leidenschaft und letzter Halt in der Welt: "Ein anderes Geländer haben wir nicht", zitiert sie den jung verstorbenen Lyriker Thomas Kling.

Mitunter sind es nur einzelne Worte aus "Scardanellis" Werk, mit deren Hilfe der ewige Kampf gegen das Vergessen in Gang gehalten wird. Ein Kampf, der über die eigene Existenz hinaus führt. Etwa im Gedicht "ich auch den weich' Kräutern, Höld."

"Vergiszmeinnicht in meinem Schädel die Einsam-
keit tobt die Verzweiflung in meinem Schädel die Angst tobt der Schrecken".


In Mayröckers "Scardanelli" begegnen wir einer "bangen Seele", die ihre Angst vor dem Verlassen dieser Welt schonungslos bekennt und uns dabei kostbare Gedichte beschert, die Mut machen, zu verweilen.

Rezensiert von Carola Wiemers

Friederike Mayröcker: Scardanelli
Suhrkamp Verlag 2009
53 Seiten, 14,80 Euro.