Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit dem Sonderforschungsbereich 980 der Freien Universität Berlin "Episteme in Bewegung". Unter dem Titel "Hinter den Dingen - 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören" finden Sie die ganze Geschichte zur Berliner Volksbetrugsfrage von 1780 als Podcast.
Ist es für das Volk nützlich, betrogen zu werden?
10:01 Minuten
Volksbetrug: in Zeiten von Fake News ist das ein höchst aktuelles Thema. Bereits im 18. Jahrhundert beschäftigte sich die Berliner Akademie der Wissenschaften mit dieser Frage - auf Betreiben Friedrichs des Großen. Und fand eine salomonische Antwort.
"Die Klasse für Spekulative Philosophie hat die außerordentliche Preisfrage gestellt: Ist es dem Volk nützlich, betrogen zu werden, sei es, dass man es in neue Irrtümer führt oder in denen, die es unterhält, bestätigt?"
Berlin, 1. Juni 1780. Die Berliner Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres gibt in einer feierlichen Sitzung bekannt, wer die Preisfrage der Akademie am besten beantwortet hat.
Ist es dem Volk nützlich, betrogen zu werden… Diese Frage, die ungemein aktuell klingt, wurde vor 240 Jahren gestellt, im Jahrhundert der Aufklärung. Für die Romanistin Anita Traninger von der Freien Universität Berlin berührt sie zentrale Fragen der Aufklärung:
"Das eine ist natürlich die Sache der Täuschung. Täuschung ist ein diametral entgegengesetzter Begriff zur Aufklärung. Das ist das erste Skandalon, das drinsteckt. Das zweite ist: Wer ist dieses Volk, das getäuscht wird? Ist es der Pöbel, der von Vorurteilen befallen ist, der in seinen Vorurteilen gefangen ist und um den man sich kümmern muss, oder eben nicht? Oder sind das alle Bürgerinnen und Bürger einer Nation? Sind die Gelehrten, die Adeligen, die Bürger eingeschlossen? Das ist eine zentrale Frage, die im 18. Jahrhundert heiß diskutiert wird. Und je nachdem, wie man diesen Begriff des Volks definiert, ist diese Frage skandalöser oder weniger skandalös."
Wissensproduktion unter Freien und Gleichen
Ist Täuschung mehr oder weniger skandalös, weil die Aufklärung mehr oder weniger, aber gewiss nicht alle Menschen erreicht? Anhand der sogenannten "Volksbetrugsfrage" von 1780 stellen Isabelle Fellner und Martin Urmann die Rolle der frühneuzeitlichen wissenschaftlichen Akademien bei der Vermittlung und Diskussion von Wissen auf die Probe. Beide arbeiten im rhetorikgeschichtlichen Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs "Episteme in Bewegung" an der Freien Universität Berlin.
"Das Ziel der Akademien ist sozusagen idealerweise die gemeinschaftliche Wissensdiskussion und Wissensproduktion unter Freien und Gleichen", sagt der Historiker und Romanist Martin Urmann. In Frankreich entstanden im 17. Jahrhundert neue Akademien, in Preußen gründete Kurfürst Friedrich III. im Jahr 1700 die Berliner Akademie.
"Sie hieß zunächst Kurfürstlich Brandenburgische Societät der Wissenschaften, das aber nur bis 1701, danach bis 1740 Königlich Preußische Societät der Wissenschaften" erklärt die Romanistin Isabelle Fellner. "Friedrich II. hat die Akademie dann neu gegründet und ihr neue Statuten gegeben, und sie hieß dann Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres de Berlin."
Akademien grenzten sich deutlich von Universitäten ab. Hier wurde nicht unterrichtet, man konnte keinen Abschluss erreichen. Sondern Wissen wurde interdisziplinär diskutiert und an die Öffentlichkeit gebracht. Ein Mittel waren die Preisfragen – wiederum eine Idee aus Frankreich:
"Schriftliche Wettbewerbe, bei denen Wissensfragen von öffentlichem Interesse zu wechselnden Themen ausgelobt werden. Unter den Einsendungen wird von einer Jury ein Sieger oder auch eine Siegerin gekürt. Zu gewinnen gibt es dabei ein stattliches Preisgeld, aber auch die Veröffentlichung des preisgekrönten Manuskripts."
Friedrich II. fand viele Fragen zu abstrakt-philosophisch
Voraussetzung zur Teilnahme an den ausgelobten Preisfragen war allein die Fähigkeit zu schreiben, denn die Antworten zu den Fragen aus unterschiedlichsten Wissensfeldern mussten schriftlich eingereicht werden, wie Martin Urmann erklärt:
"Der Concours académique, kann man ein bisschen plakativ sagen, war also zunächst mal offen für alle – offen für alle, insofern es keinerlei formalen Ausschluss über Stand, Geschlecht oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bildungsinstitution gab. Und das macht den Concours académique wirklich zu einem außergewöhnlichen, ja, man könnte sagen, zu einem einzigartigen Medium der Gelehrtendiskussion in der Frühen Neuzeit."
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Solche oftmals praktischen Fragen stellten die französischen Akademien im 17. und 18. Jahrhundert. In Preußen war König Friedrich allerdings unzufrieden mit den komplizierten philosophischen Preisfragen, die von der Berliner Akademie gestellt wurden. Er forderte Fragen mit größerer gesellschaftlicher Relevanz und setzte die Akademie unter Druck, diese Frage auszuloben:
"Ob es nützlich sein kann, das Volk zu hintergehen."
Auch Frauen konnten an den Wettbewerben teilnehmen
Die Akademie beugte sich dem Wunsche Friedrichs, bat aber um die Umformulierung der Frage.
"Die Ausgangsversion von Friedrich war ja: Ist es nützlich, das Volk zu betrügen?", sagt Isabelle Fellner. "Das hat sich dann dahingehend verschoben, dass es am Ende geheißen hat: Ist es für das Volk nützlich, betrogen zu werden? Da sieht man gleich, das ist ja ein fundamentaler Unterschied. Die Frage, die Friedrich eigentlich gestellt hat, ist eine Frage aus der Herrschaftsperspektive heraus: Ist es für mich als König nützlich, das Volk zu betrügen? Die Frage, wie sie dann im Endeffekt gestellt worden ist, ist vielmehr: Ist es für das Volk nützlich? Worauf die Antworten dann ja auch eingegangen sind."
Es geht um das Verhältnis des aufgeklärten Königs zum Volk:
"Er war nämlich der Ansicht, dass das Volk im Endeffekt nicht aufklärungsfähig ist. Man muss sich damit zufriedengeben, selber weise zu sein, sofern man es kann, und das gemeine Volk im Irrtum belassen und nur versuchen, es von Verbrechen abzuhalten, die die Ordnung der Gesellschaft stören."
Die Einreichungen erfolgten anonym. Das Geheimnis der Autorenschaft wurde erst nach der Entscheidung gelüftet. Auch Frauen konnten so an den Wettbewerben teilnehmen – obwohl Wissenschaft damals eine Männerdomäne war. Insgesamt bekam die Berliner Akademie anno 1780 auf ihre Volksbetrugsfrage 42 Einsendungen, aber nicht alle erfüllten die Regularien. Von den 33 gültigen war die Mehrheit der Ansicht, dass es für das Volk nicht nützlich sei, betrogen zu werden:
"Von den 33 haben 20 die Frage verneint und 13 bejaht", sagt Fellner.
Pro und Contra: ein salomonisches Urteil
Die Entscheidung der Berliner Akademie, wer auf die sogenannte Volksbetrugsfrage von 1780 die beste Antwort gegeben habe, war salomonisch. "Das hat es noch nie gegeben. Zwei Sieger für inhaltlich gegensätzliche Antworten."
Der eine Sieger war Rudolph Zacharias Becker, ein Theologe und Philosoph, der als Hofmeister in Erfurt wirkte und später als Volksaufklärer Karriere machte. Er lehnte den Betrug oder die Irreführung des Volkes strikt ab.
Der andere Sieger war der Mathematiker Frédéric de Castillon von der ebenfalls in Berlin ansässigen Académie royale des Gentilhommes. Er bejahte zumindest den gelegentlichen Betrug eines unmündigen Volkes zu dessen eigenem Wohl. So vermied es die Akademie, König Friedrich II. als indirekten Finanzier der Akademie zu verärgern – er hatte ihr das Monopol eingeräumt, Kalender zu drucken. Und zugleich demonstrierte sie der Öffentlichkeit eine gewisse wissenschaftliche Unabhängigkeit.
Die wissenschaftliche Preisfrage gibt es übrigens noch heute – darauf weist der Theologe Christoph Markschies hin, der in diesem Jahr das Amt des Mathematikers Martin Grötschel als Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften übernehmen wird, der Nachfolgerin der Berliner Académie Royale:
"Die Berlin-Brandenburgische Akademie hat gemeinsam mit der Leopoldina eine Nachwuchsakademie gegründet, und die hat gleich als erstes wieder angefangen Preisfragen zu stellen. Zum Beispiel die Frage: Was im Tier uns anblickt. Und dafür unglaublich viele Antworten bekommen."