Eine Ost-West-Liebesgeschichte

Von Christina Selzer |
20 Jahre nach dem Mauerfall wurde das politische Schülermusical „89 – Das Political“ ausgerechnet in Bremen, im Westen Deutschlands uraufgeführt. Es wird noch an vier weiteren Abenden gespielt. Acht Schulen in ganz Deutschland studieren derzeit das Stück ein. Nur in den neuen Bundesländern haben sich noch keine Interessenten gefunden.
Großer Erfolg bei der Premiere des Stücks 89.

In der Aula der Alexander-von-Humboldt-Schule im Bremer Stadtteil Huchting wurde dafür seit einem halben Jahr geprobt. Gemeinsam mit Schülern der Wilhelm-Wagenfeld-Schule-für-Gestaltung.

Aber es ist kein gewöhnliches Schultheater, sondern ein Musical mit politischem Thema: Eine Ost-West-Liebesgeschichte in den Monaten vor dem Mauerfall vor 20 Jahren. Es geht um große Gefühle, aber auch um Politik: um das Leben in der DDR, die Ereignisse im Sommer 1989, das Ende eines Systems.

Für die lange Probenarbeit wurden 25 Schülerinnen und Schüler zwischen 15 und 19 Jahren ausgesucht.

Am vergangenen Wochenende bei den letzten Proben vor der Premiere: Die Jugendlichen laufen aufgeregt durch die Aula, tragen noch ein paar Requisiten auf die Bühne: Stühle, Tische, in der Ecke üben noch einige ihren Text.

Die Schulband übt ein paar Takte, andere bereiten sich auf die erste Szene vor. Die Handlung spielt auf zwei gegenüberliegenden Bühnen. West und Ostteil von Berlin, dazwischen ein hoher Bauzaun: Die Mauer.
Die erste Szene spielt in einem türkischen Imbiss im Westen der Stadt, in Kreuzberg.

Im Dönerladen diskutieren Tom der Student und sein Freund Matze, ein Autoschlosser, über die Situation in den sozialistischen Staaten. Tom soll an der Uni ein Referat darüber halten und beschließt, die Bücher in der Bibliothek zu lassen und einfach mal nach Ostberlin zu fahren, um mit eigenen Augen zu sehen, wie es dort ist.

Regisseur Hans Herrmann Hille gibt Kommandos, treibt seine Schüler an, denn es sind nur noch wenige Tage bis zur Premiere. Die nächste Szene spielt auf der gegenüberliegenden Bühne im Osten: auf dem Alexanderplatz.
Dort landet der Westberliner Tom und lernt Nadine kennen und ist sofort für sie entflammt. Die Liebesgeschichte beginnt.

Und mit der Liebe beginnen auch die Probleme. Tom muss am Abend zurück in den Westen. Ein zweites Mal trifft er sie, doch ein drittes Mal wird es erst einmal nicht geben. Die Mauer verhindert, dass sie sich wiedersehen.

Das Stück greift das Thema Deutsche Teilung auf, um den Jugendlichen die Geschichte lebensnah näher zu bringen. Denn sie sind so jung, dass sie die Zeit der Teilung nicht mehr miterlebt haben und wenig darüber wissen. Nach Ansicht des Regisseurs Hans-Hermann Hille ist das Musical eine gute Art und Weise, die Themen DDR und Mauerfall ganz ohne pädagogischen Zeigefinger zu vermitteln.

„Darüber nachzudenken ist ein Problem einer andern Generation, meine Schüler können nichts damit anfangen. Umso mehr hat es mich gereizt, auf kulinarische Weise daran zu erinnern.“

Nike Haase spielt die weibliche Hauptrolle: Nadine aus Ostberlin. Sie gibt zu, dass sie sich bisher wenig für die DDR-Geschichte interessiert hat. Nike wollte einfach bei dem Musical mitmachen. Zuerst nicht wegen des Themas, sondern weil sie unbedingt singen wollte. Inzwischen ist ihr aber vieles klarer geworden.

„Das Interessanteste ist, wie die Menschen gelebt haben, wie sie eingeschränkt wurden und die Mauer ihre Liebe trennt.“

Obwohl, die Liebesgeschichte hält die 18-Jährige eigentlich für zu unrealistisch.

„Es ist ne sehr naive Geschichte: Dass man sich zweimal trifft und verliebt ist und die Mauer überqueren möchte, um fürs Leben beieinander zu sein.“

Trotzdem: Indem sie etwas über den Alltag erfahren hat, hat sich Nikes Blick auf die DDR verändert.

„Mir fällt die Cafeszene ein, das war im Osten so, dass man einen Platz bekommt, da wird er zurechtgewiesen.“

Michael Dölle, der den Westberliner Tom spielt, hat dagegen ein völlig anderes Verhältnis zur DDR. Ein Teil seiner Familie kommt aus der Lausitz, daher weiß er viel aus Erzählungen seiner Verwandten.

„Da gab es viele Probleme, unter anderem, dass mein Opa kein Abitur machen durfte, mein Urgroßvater war ein Kaufmann, der nicht zur Arbeiterklasse gehörte. Es hat sich so entwickelt, dass ich mich dann mehr informiert habe.“

Michael ist da aber eher die Ausnahme. Die Realität in vielen deutschen Klassenzimmern sieht anders aus, das fand eine der Autoren des Stücks. Die 35-jährige Lehrerin Bettina Brauer kommt ursprünglich aus Ostberlin, lebt und arbeitet aber seit einigen Jahren in Bremen. Bei ihren Schülerinnen und Schüler herrschen teilweise seltsame Vorstellungen über die DDR.

„Zunächst zeitlich ist das vage, wenn man Schüler fragt, wann wurde die Mauer gebaut, dann bekommt man als Antwort. 1920 und das geht bis in die 70er-Jahre. Das gilt auch für den Mauerfall und den Alltag in der DDR, den sie sich gar nicht vorstellen können, sie wissen gar nicht, was ging und was nicht ging. Es gab auch Gerüchte dass wir gehungert haben, was ja für die Nachkriegszeit gilt, aber später ja nicht mehr.“

Also begann sie irgendwann damit, ihrer Klasse ein paar Dinge aus dem Alltagsleben im Osten Deutschlands zu erzählen. Nachhilfe in Sachen DDR:

„Wenn ich ihnen was erzählt habe, zum Beispiel dass man nicht frei reisen konnte, dann war das so, dass sie mit großen Augen dasaßen, oder über die FDJ, ich hab auch Pionierurkunden mitgebracht, das war fremd und spannend, sie haben sich dafür interessiert. Ich habe zum Beispiel auch Geldstücke mitgebracht. Das war anders für sie, als man es im Geschichtsbuch liest.“

Bettina Brauer entschloss sich, zusammen mit dem Musiker Holger Twietmeyer und der Hamburger Musikerin Anne Schröder ein Musical darüber zu schreiben. Filme und Bücher zum Thema gibt es ja schon: Das Leben der anderen, Sonnenallee, die Bücher von Thomas Brussig. Fast fünf Jahre lang arbeiteten die drei Künstler an dem Musical, sie hatten keinen Auftrag dafür und mussten alles aus der eigenen Tasche finanzieren. Die Musik ist eine Mischung aus Rock, Pop und Jazz.

Liebeslieder wie etwa die Duette von Nadine und Tom waren nicht schwer zu schreiben, sagt Anne Schröder, Songs mit politischem Inhalt schon.

„Klar, es ist ein Musical, eine Liebesgeschichte, aber eben auch politisch. Politische Popmusik, das schwer in deutscher Sprache auszudrücken. Eine Herausforderung. Da hab ich erst mal auf dem Stift gekaut. Aber dann ging es doch und ich bin froh, dass es kein nullachtfünfzehn Musical ist, sondern einen politischen Background hat.“

Berlin Alexanderplatz. Den Handlungsort in Ostberlin fanden sie schnell. Das liegt in Bettina Brauers Familiengeschichte begründet. Denn auf dem Alexanderplatz an der Weltzeituhr hat Bettinas Tante Conny in den 70er-Jahren einen Mann aus dem Westen kennengelernt. Nach vielen Verwicklungen kamen sie zueinander, heirateten, bekamen Kinder und leben noch heute glücklich in Berlin. Ein deutsch-deutsches Happy End, das die Geschichte fürs Musical inspirierte. Im Musical fällt am Ende die Mauer: Doch als Happy End will Holger Twietmeyer das nicht verstanden wissen.

„Happy End ist zu einfach, denn es gibt Elemente von kritischer Kapitalismuskritik, wie die Geschichte weitergeht, ist in der Fantasie des Betrachters, sie können Kinder kriegen oder sie verlieren sich aus den Augen. Die Mauer fällt, das wissen wir, aber was danach passiert, wissen wir alle nicht.“

Ein differenziertes Bild der Wende wollten die Autoren im Musical 89 schaffen. Vor allem Bettina Brauer konnte viel dazu beisteuern. Sie war beim Mauerfall fast 16 Jahre alt und erlebte die Vorwendezeit in Ostberlin hautnah mit.

„Ich werde nie die Stimmung vergessen, die in der Gethsemane Kirche geherrscht hat, wir saßen dicht gedrängt da, weil es so voll war und einmal hieß es, dass die Polizei die Kirche man wusste ja nicht, was mit einem passiert, wenn man ins Stasi-Gefängnis kommt. Wir haben versucht, die Zeit vom Sommer mit einzubeziehen, die Grenzöffnung Ungarn, das sind Erlebnisse die man nie vergisst.“

Die Grausamkeit der Teilung lässt sich für Jugendliche gut am Beispiel der Liebesgeschichte erzählen. Die Figuren verkörpern unterschiedliche menschliche Grundfiguren in den beiden politischen Systemen. Im Westen der Student Tom, der liberale Ansichten hat und der türkische Dönerverkäufer, der in Wirklichkeit Italiener ist. Ebenso auf der Ostseite: Klischeehafte Figurenkonstellationen:

„Nadine ist unpolitisch, konform, damit sie ein schönes Leben hat, dann gibt es den Vater der überzeugt ist, ihr Bruder Erik, der beginnt zu opponieren, ihre frustrierte Mutter, und Tine, die sich politisch engagiert.“

Tine, die Freundin von Nadine, ist eine der interessantesten Figuren im Stück: Sie engagiert sich im Untergrund unter dem Dach der evangelischen Kirche und darf aus politischen Gründen kein Abitur machen. Tine möchte nicht einfach weglaufen, als die Grenze zwischen Ungarn und Österreich offen ist. Sie möchte selbst etwas bewegen in ihrem Land.

„Ich mag die ganz gerne, weil die nicht eine Mitläuferin ist und kämpft in ihrem Land. Und im Gegensatz zu Nadine schaut sie auch mal hinter die Kulissen des Staates und hinterfragt das und ist mutiger und more open minded.“

Die Schülerin Nele Sander spielt diese Tine, und sie findet, dass die Rolle gut zu ihr passt.

„Ich bin politisch interessiert auch wenn ich nicht so viel Ahnung hab. Mich interessiert zum Beispiel, dass die Umweltumstände besser werden. Ich finde das toll, wenn Leute so mutig sind und versuche immer meine Meinung zu sagen.“

Nele ist in Berlin geboren, ihre Mutter hat ihr viel erzählt dennoch kann sie verstehen, dass viele in ihrem Alter gar nicht viel über die DDR wissen oder wissen wollen. So sieht es auch Niklas, der einen Autoschlosser aus Westberlin spielt:

„Es wird ja in der Schule vermittelt. Insofern weiß man ja einiges. Ich kann mir das aber nicht mehr vorstellen, in meiner Generation kann man sich das nicht mehr vorstellen, dass es eine Mauer gab.
Auf jeden Fall befasst man sich damit, wie man sich fühlt, wenn man nicht frei ist, aber es ist nicht so einfach, wenn man den Kommunismus ein bisschen mag, so wie Tine. Aber sie findet es auch nicht gut, wie es läuft.“

Dem Regisseur Hans Herrmann Hille ist es wichtig, die DDR und deren Entstehung differenziert zu vermitteln, und die Umstände ihrer Entstehung nicht außen vor zu lassen.

„Es ist nicht ganz so einfach, wir haben mittlerweile eine verdünnte Begrifflichkeit; Wir sprechen von Diktatur. Die DDR ist aber als Folge des Nationalsozialismus gedacht gewesen. Wenn das auch Lügen waren, so ist das ja erst mal ein ehrenwertes Motiv. Sie hat ja ihr Selbstverständnis daraus entwickelt, antifaschistisch zu sein. Eine andere Frage, ist, dass man nicht ähnliche Strukturen entwickelt hat. Das ist die negative Seite.“

Die negative Seite der DDR: Im Stück ist das der Vater von Nadine. Herr Kubiak. Linientreu, überzeugter Kommunist und Volkspolizist. Gespielt von Julian.

„Das Böse kann man nicht sagen, eher das andere System. Ich fand das immer schon interessant, brüchige Leute zu spielen, es macht Spaß, die Person runterzumachen, ich mag ich wirklich, das heißt, ich kann ihn gut spielen, aber als Person, wer weiß ...“

Für Julian war die Rolle in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung. Zum einen muss er sächsischen Dialekt sprechen, was dem Bremer erstaunlich gut gelingt. Zum anderen muss er ihn nicht als Parodie sondern einen Charakter spielen, der an etwas glaubt, für den der Mauerfall keine Befreiung ist, sondern der Bankrott seines gesamten Lebens. Und der am Ende die Welt nicht mehr versteht.

„Wenn man einen Großteil in dem System verbracht hat, ist es schwierig, raus zu kommen. Er ist ja nicht böse, er ist systemtreu.“

Am Ende fällt dann doch die Mauer. Die deutsche Teilung endet. Und so endet auch das Stück. Bewusst aber soll diese Szene nicht auch als Ende der Geschichte, als Happy End inszeniert werden, sagt die Mitautorin Anne Schröder:

„Das war uns wichtig. Wir sind 20 Jahre danach, wir wissen dass im Zuge der Geschichte auch viel Mist passiert ist, wie diese Teile Deutschland verbunden wurden. Von daher konnten wir auch kein Happy End schreiben. Wie schafft man es, dass man nicht so dasteht: Hurra die Mauer fällt! So sollte es nicht enden, das war wichtig, dass man die verschiedenen Seiten darstellt.“

20 Jahre nach dem Mauerfall hatte das politische Schülermusical 89 Premiere – ausgerechnet in Bremen, im Westen Deutschlands. Nach der Uraufführung wird es noch an vier weiteren Abenden gespielt. Acht Schulen in ganz Deutschland studieren derzeit das Musical ein. Nur in den neuen Bundesländern ist das Interesse noch nicht so groß. Die Autoren können sich das nicht so recht erklären. Doch sie hoffen, dass sich auch Schulen in Ostdeutschland für den Stoff begeistern werden.