Eine Nation schlägt die Augen auf

Von Rudolf Schmitz |
In der Ausstellung "Humanismus in China" sind im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main Dokumentarfotografien aus dem Reich der Mitte zu sehen. Sie zeigen nicht die aufstrebende Wirtschaftsnation, sondern ein China im Überlebenskampf, dessen drastische Bilder Entsetzen wecken können. Eine Nation schlägt die Augen auf: schonungslos, unsentimental, erschrocken.
Udo Kittelmann: "Es war ja für uns auch lange, lange Zeit fraglich, wann kriegen wir endlich diese Ausstellung raus. Natürlich musste diese Ausstellung noch einmal abgesegnet werden, offiziell. Und wir waren dann wirklich heilfroh, als wir gesagt bekommen haben: und jetzt geht sie raus!"

Udo Kittelmann, dem Direktor des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, ist die Erleichterung anzumerken. Jetzt kann er sie doch noch zeigen, die annähernd 600 Dokumentarfotografien aus China. Zuletzt waren sie in Peking zu sehen und wurden von der dortigen Öffentlichkeit heftig diskutiert. Und das ist kein Wunder, denn diese seit 1978 gesammelten Fotografien sind alles andere als Propagandamaterial: Sie zeigen nicht die aufstrebende Wirtschaftsnation, sondern ein chaotisches China in heftigem Überlebenskampf.

Die Ausstellung beginnt zwar mit dem gewohnten Ornament der Masse, mit den unzähligen, disziplinierten Fahrradfahrern auf dem Weg zur Arbeit, aber dann sieht man plötzlich ein anderes Menschengedränge. Es sind Bauern, die um den besten Platz in einer Warteschlange kämpfen. Sie wollen Blut spenden, gegen Geld natürlich, damit sie wenigstens ein bisschen was zum Leben haben. Prostitution, Drogenabhängigkeit, Kinderarbeit,
Umweltverschmutzung – die oft drastischen und immer ungeschönten Fotografien nehmen kein Blatt vor den Mund.

Kittelmann: "Also, ich denke, das ist das große Überraschungsmoment dieser Ausstellung, denn es ist ja ein Selbstbildnis Chinas, dass die Chinesen doch einen sehr selbstkritischen Blick auf ihre Gesellschaft mit dieser Ausstellung auch ins Ausland reisen lassen, und ihr China in dieser Form darstellen. Sie zeigen tatsächlich eine Gesellschaft, die vor Riesenherausforderungen steht."
Es ist eine hochpolitische Ausstellung, die zudem noch mit so qualitätvollen Bildern arbeitet, dass man unwillkürlich an die berühmte New Yorker Ausstellung "The Family of Man" denkt. Die allerdings war vor mehr als 50 Jahren. Die großen Repräsentanten der Politik sind in der chinesischen Fotografie kein Thema mehr, wenn Mao überhaupt vorkommt, dann als Pappfigur. Es gibt ein erstaunliches Bild, wie zwei Männer einen Traktor anzuschieben versuchen, der eine kleine Propagandabühne mit Bildern von Mao und Dengsiao Ping schleppen soll. Dem Projekt rotes China ist das Benzin ausgegangen, soviel ist klar. Man muss sich vielleicht nicht so sehr wundern, welche Bilder die Zensur nicht passiert haben, sondern eher, welche Bilder dann doch durchgegangen sind.

Kittelmann: "Es war zu erwarten, dass sie Fotografien, die tatsächlich eine Hinrichtungsszene zeigen, nicht für diese Ausstellung zulassen. Aber auch da kann man nur sagen, sie haben Bilder dafür gefunden. Man sieht, um nur ein Beispiel zu nennen, eine Gruppe von mehreren Frauen in einem Raum, und erst die Titelunterschrift macht deutlich, worum es geht: dass alle diese Frauen auf die Revision ihres Todesurteils warten."
Ein Waisenkind, das am ärmlichen Grab seiner an Aids gestorbenen Eltern weint, Kinder in einem Heim, die auf ihren Stühlchen mit Arm- und Beinfesseln festgebunden sind, ein Fischer, der durch einen Fluss voller Fischleichen treibt – das ist ein China, das Entsetzen weckt. Bilder der großen Städte sind selten, aber auch hier fällt der Blick immer auf die Verhaltensweisen und Reaktionen einzelner Menschen. Ein Mann in einer Fotoausstellung begegnet einem Bild mit nackten Frauenbrüsten und schlägt in ehrlichem Entsetzen die Hand vor den Mund.

Das Frankfurter Museum behandelt die Ausstellung wie ein Dokument. Die Hängung entspricht derjenigen von Peking, da gibt es zunächst keinen Kommentar durch westlichen Blick. Die Schau wird als kulturpolitisches Ready-Made zum Thema "Humanismus" verstanden. Und wirkt dadurch tatsächlich wie ein unerwarteter Faustschlag. Der einzig sinnvolle Kommentar geschieht auf ganz andere Weise.

Kittelmann: "Weil wir die Ausstellung als Dokument übernehmen, haben wir uns etwas einfallen lassen bezüglich der Frage, wie verhalten wir uns bezüglich unserer Kritik an China. Und wir haben Werke aus der Sammlung in diesen Kontext gesetzt, zum Beispiel eine Arbeit von Joseph Beuys, diese berühmte Rose für direkte Demokratie, oder ein Beitrag einer chinesischen Künstlerin, die im Zuge ihrer Emigration von China nach Australien ihre Problematik mit den zwei Kulturen schildert."
Nach all den Jahren offizieller Propagandabilder scheint China nun die Dokumentarfotografie zu entdecken. Eine Nation schlägt die Augen auf: verwundert, schonungslos, unsentimental, erschrocken. Und auch dies zeigt die Ausstellung: dass ein Bildmedium niemals ausgedient hat, sondern in einer anderen Kultur und Gesellschaft wieder zu Sprengstoff werden kann.

Die Ausstellung "Humanismus in China" ist im Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main bis 27. August 2006 zu sehen.