Eine moderne Robinsonade

Rezensiert von Michael Opitz · 06.10.2005
Ernst Lustig ist Mitte 40 und auf der Flucht - vor seinem gescheiterten Leben. Deshalb zieht er sich ins stille Kämmerlein zurück. Dort will er eine Biografie über den Dichter Friedrich Schiller schreiben, aber auch das klappt nicht wirklich. Die Hauptfigur aus Steffen Menschings Roman "Lustigs Flucht" ist ein wahrer Anti-Held.
Steffen Menschings moderne Robinsonade erzählt von einem Helden, dem alles Heldenhafte abgeht. Ernst Lustig ist als Mittvierziger dort angekommen, wo man in diesem Alter besser nicht landet: auf dem harten Boden der Tatsachen. Die Probleme, mit denen er konfrontiert wird, sind vielschichtig und mit dem Wort "Midlife-Crisis" nur unzureichend erfasst.

Es zeigen sich erste körperliche Gebrechen, denn das Kniegelenk ist nach einer Operation nur bedingt einsetzbar. Er muss mit Verlusten umgehen, weil seine um Jahre jüngere Freundin ihn verlassen hat, und zu allem Überfluss ist Lustig nicht mehr in einem festen Arbeitsverhältnis, sondern verdient "freiberuflich" seinen Unterhalt.

Dagegen findet sich auf der Habenseite kaum etwas, woraus sich Kapital schlagen ließe: Hochschulabschluss, ehemals eine feste Größe im Kaderentwicklungsplan einer Universität, Verfasser einiger Bücher, geschieden, leichter Bauchansatz, Halbglatze. Überzeugende Biographien sehen anders aus und Persönlichkeiten, die es in der Gegenwart zu etwas gebracht haben, auch! Lustig, der einst aus Neugier den Büchern verfiel, kann sich nicht mehr sicher sein, ob Wissen tatsächlich Macht ist.

Steffen Mensching beschreibt in seinem Roman einen Flüchtenden. Ernst Lustig tritt den Rückzug in die innere Emigration an, weil er hofft, in der Stille endlich seine Schiller-Biographie fertig stellen zu können. Aber in unruhigen Zeiten ist gerade Ruhe nirgends oder nur selten zu finden. Und selbst das Buch-Unternehmen steht unter keinem günstigen Stern, denn im Verlag ist man misstrauisch, ob eine Biographie über den "Alten" ein Verkaufsschlager werden kann.

Obwohl die Geschichte in Lustigs Leben in Form von immer neuen Unglücken einbricht, trifft sie auf einen Widerspenstigen, der es gelernt hat, sich auch in schier ausweglosen Situationen zu behaupten. Wenn die Welt dabei ist, aus den Fugen zu geraten, dann bleibt Lustig nur die Chance, das Spiel, das mit ihm gespielt wird, nach Möglichkeit zu unterlaufen.

Hilfreich ist dabei, dass er sich auf die Widrigkeiten seinen eigenen Reim macht. Und ein Weg, um den Komplikationen zu entfliehen, besteht für ihn darin, sich in die Freiheit der ihm zeitweilig überlassenen vier Wände zurückzuziehen. Denn in der Enge einer Wohnung, in die bereits Kierkegaard einen Helden versetzt hat, lassen sich die phantastischsten Reisen unternehmen. In dieser Hinsicht steht Menschings zentrale Figur in der Tradition von jenen, die die unglaublichsten Abenteuer erleben, ohne dazu ihre Behausung verlassen zu müssen.

Menschings Roman zeichnet sich durch entlarvende Komik aus, denn seine zentrale Figur ist grandios in seiner Skurrilität. Aber, und das verleiht dem Buch die entscheidende Tiefe, darin kann er es mit den realen Verhältnissen aufnehmen.

Steffen Mensching: Lustigs Flucht
Aufbau Verlag, Berlin 2005
328 Seiten, 17,90 Euro.
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