Eine linke Kindheit

Vorgestellt von Sophie Dannenberg · 08.01.2006
In "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" beschreibt Richard David Precht seine "linke" Kindheit im westdeutschen Solingen. Er schildert, wie die Eltern und er Kommunisten wurden, welche Freuden und welchen Ärger er deshalb hatte. Vermutlich ungewollt hat Precht ein Enthüllungsbuch darüber geschrieben, wie sehr die Bundesrepublik kommunistisch unterwandert wurde.
Es muss Mitte der 70er Jahre gewesen sein, als ich mein erstes DKP-Kinderfest besuchte. Überall wehten rote Fahnen, Christiane und Frederik, deren Lieder inzwischen zur Standardausstattung aller deutschen Kindergärten gehören, sangen das Lied von der Rübe. Und überall schlichen Männer herum mit dieser ganz speziellen DKP-Aura, einer Mischung aus Bärten, subversiv zusammengekniffenen Augen und jenen listigen Blicken, die zu sagen schienen: wir, jahaa, wir! wissen Bescheid und werden es den Herrschenden schon zeigen. Mir sind diese Helden der sozialistischen Freizeitgestaltung bis heute vertraut: Wenn einer die Internationale anstimmt, wird mir ganz lauschig zumute. Seither überlege ich: Was will der Kommunismus? Eine Antwort darauf gibt das Buch von Richard David Precht mit dem Titel "Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Meine kleine deutsche Revolution".

Precht, geboren 1964, ist der Sohn eines Industriedesigners und einer terre-des-hommes-Aktivistin. Im Buch beschreibt er seine linke Kindheit im westdeutschen Solingen, wie die Eltern und er Kommunisten wurden, welche Freuden und welchen Ärger er deshalb hatte und was sonst noch in der Welt geschah. Ich bekam schon auf der ersten Seite einen Schrecken. Denn dort schildert Precht ein DKP-Kinderfest Mitte der 70er Jahre. Und alles ist genau so, wie ich es damals selbst erlebt habe.
"Der Wind wehte die kleinen Rauchwölkchen auseinander. Glühende Pünktchen. Die Kinder sangen jetzt "Bella Ciao" und das todtraurige Lied vom "Kleinen Trompeter". Mehrere Scheite im Feuer zersprangen, und Funken sprühten in die kälter werdende Luft. "Was ist los?", wollte Hanna wissen. "Du weinst ja." "Es ist nur der Rauch"; murmelte ich und blickte zur Seite, obwohl das Feuer fast rauchlos brannte."

Kommunismus ist triumphaler Kitsch - Siegerkitsch. Nicht der Verstand, der Affekt bindet uns an Ideologien. Beim Lesen der Precht-Autobiografie fiel mir auf, wie gleichgeschaltet und sentimental diese Kindheiten im Dunstkreis der DKP alle waren. Precht zitiert mit Inbrunst sämtliche Lieder, die ich seit meiner Kindheit auswendig weiß, und die auch er tagtäglich hörte, auf einem kleinen orangefarbenen Plattenspieler mit einer Zwei-Watt-Box: die DKP-Barden Dieter Süverkrüp, Hannes Wader und vor allem Franz Josef Degenhardt, dem Precht noch heute jugendbewegt-schwärmerische Liebesbriefe ins Internet-Gästebuch setzt.

"Für mich sind die Lieder Inbegriff der Gemütlichkeit. Ich sitze auf dem Fußboden oder in der Badewanne und höre Deutscher Sonntag oder Feierabend: Krähen und Fliederduft, Hausvorgärtenmauern, Mauersegler, die Luft zerstichelnd, alles das kenne ich aus der Klemens-Horn-Straße, und mit Degenhardts warmen Näseln wird es mir heilig."

"Lenin kam nur bis Lüdenscheid" fällt in ein Genre, das sich erst mit dem Untergang des Realsozialismus etabliert hat: der kommunistische Heimatroman. Nicht nur Gerhard Seyfried und Ulrich Enzensberger haben es im letzten Jahr vorgemacht. Enzensberger referiert akribisch "Die Jahre der Kommune 1", und Seyfried lässt noch einmal seufzend "Den schwarzen Stern der Tupamaros" am Himmel erstrahlen. Zur Erinnerung: die Tupamaros West-Berlin, das waren jene linken Antisemiten, die am 9. November 1969 eine Bombe im jüdischen Gemeindehaus platzierten. Und nun setzt sich auch Richard David Precht ans wärmende Feuer der Vergangenheit. Der kommunistische Heimatroman beschwört noch einmal das Alpenglühen der Agitation, und wie schön doch damals alles war, als der Sowjetkommunismus noch als leuchtendes Panorama über der Kindheit in Solingen schwebte und als der fortschrittliche Dynamo Kiew gegen den reaktionären Bayern München obsiegte.

"Die im Westen fast unbekannte Mannschaft spielt einen hoch disziplinierten Fußball. Die erste Viererkette ohne Libero, Raumdeckung, ein exzessives Flügelspiel, die blitzartige Umstellung von Verteidigung auf Angriff, Konterfußball par excellence."

Dann folgt etwas Ratlosigkeit über die Morde der RAF, Empörung über abweichende Splittergruppen, vor allem die Maoisten, und die ewige Frage, warum es bloß nicht geklappt hat mit dem Sozialismus, wo doch am Anfang alles so gut lief. Precht hat sich viel Mühe gegeben bei der Recherche persönlicher und historischer Daten. Das wirkt wie die Vermessung eines Schrebergartens - auch das ein Merkmal des kommunistischen Heimatromans: Er zeigt, wie das internationale Spießertum im Kommunismus zu seiner Vollendung erblüht. Richard David Precht will erzählen, menschlich und mild. Er will das Bild eines einfühlsamen Linken vorführen, der seine ideologische Heimat verloren hat und sanft darunter leidet, aber selbstverständlich auch - ein klein bisschen - kritisch hinterfragt. Das klappt aber nicht. Vermutlich ungewollt legt Precht ein Enthüllungsbuch hin, das es in sich hat. Er deckt nämlich das auf, was aus DKP-Sicht die westlichen Parteien schon immer behauptet hatten: wie sehr die Bundesrepublik tatsächlich kommunistisch unterwandert wurde. Insofern betreibt das Buch tatsächlich Aufklärung. Ein lesenswerter Insiderbericht über die politische Macht von blutigen Illusionen.

"Entscheidend auch für das politische Bewusstsein sind weder Wissen, noch Reflexion, noch Moral. Entscheidend ist die gefühlte Wahrheit."


Richard David Precht: Lenin kam nur bis Lüdenscheid – Meine kleine deutsche Revolution
Claassen Verlag, Berlin, 2005
350 Seiten
18 Euro