Eine Liebe jenseits des Alltags

„Dunkle Materie“ stellt die Frage nach dem Wesen der Liebe und dem archetypischen Verhältnis von Mann und Frau. Dabei bedient sich Aner Shalev allegorischer Bilder aus der Welt der Astrophysik. Das funktioniert auf verblüffende Weise.
In ihrem legendären Hörspiel aus den 50er Jahren „Der gute Gott von Manhattan“ erzählt die Autorin Ingeborg Bachmann die Geschichte zweier Menschen, die sich in ein New Yorker Hotel zurückziehen, um jenseits des Alltags ihre Liebe zu leben.

Aner Shalev, israelischer Autor und international bekannter Mathematik-Professor, wählt für seinen Roman „Dunkle Materie“ eine ähnliche Konstellation und denselben Schauplatz.

Durchaus symbolträchtig heißen seine beiden Protagonisten Adam und Eva.
Eva ist aus St. Petersburg nach Israel ausgewandert, Astrophysikerin, die an der Hebräischen Universität unterrichtet und ihre Doktorarbeit verfasst. Adam arbeitet am israelischen Konsulat in New York.

Bei einem kurzen Aufenthalt in Jerusalem kommt es zu einem folgenschweren Unfall. Adam fährt Eva mit seinem Wagen an. Er bringt sie ins Krankenhaus, die beiden verlieben sich ineinander. Sie haben nur noch einige Tage Zeit, bevor Adam wieder zurück nach New York reist. Ihr Kontakt besteht nun aus E-Mails.

Eva weiß, dass der etliche Jahre ältere Adam verheiratet ist. Die junge Frau ist hin und her gerissen zwischen Leidenschaft und Vernunft, beflügelnder Vertrautheit und irritierenden Missverständnissen. Ist es ein Spiel, das Adam mit ihr treibt oder spielt sie mit ihm? Hat ihre Beziehung eine Zukunft?

Die beiden verabreden ein Treffen in New York. Bis zuletzt zögert Eva zu reisen, zumal sie inzwischen eine Affäre mit ihrem Doktorvater hatte. Kurz vor Thanksgiving teilt Adam seiner Frau mit, er müsse für eine Woche nach Washington reisen. Besteigt ein Taxi und fährt zum Flughafen – um Eva abzuholen. Die beiden checken in einem Hotel in Manhattan ein. Sieben Tage lang wollen sie ihrer Lust einen geschützten Raum geben, ihre Liebe ohne Alltagshindernisse leben.

Es kommt allerdings anders als geplant. Am Ende der sieben Tage, ist der Versuch, eine gemeinsame Welt zu erschaffen, ins Paradies zurückzukehren, gescheitert.

Aner Shalev erzählt die Geschichte von Adam und Eva vor allem aus der Perspektive der Frau. In ihren E-Mails zeigt sich seine Protagonistin als ungemein offene, selbstbewusste, sinnliche und lebensbejahende Persönlichkeit. Ihre Reflexionen geben der Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau vielfältige Dimensionen und Symbolcharakter. Adams Beschreibung der Ereignisse hingegen offenbart zunehmend seine emotionale Beschränktheit und Fixierung auf erotische Details.

Der Autor überrascht den Leser mit immer neuen Wendungen der Geschichte. Er spielt mit den festen Vorstellungen, die Männer und Frauen voneinander oder auch miteinander haben. Stellt ihre Phantasien auf den Kopf, wirbelt sie durcheinander. Sein Roman ist angelegt wie ein mathematischer Versuch, in dessen Verlauf immer neue Unbekannte auftauchen.

„Dunkle Materie“ stellt die Frage nach dem Wesen der Liebe und dem archetypischen Verhältnis von Mann und Frau. Dabei bedient er sich allegorischer Bilder aus der Welt der Astrophysik. Das ist nicht selbstverständlich, funktioniert aber auf verblüffende Weise.

Dunkle Materie ist das Unsichtbare, ein schwarzes Loch mit ungeheurer Anziehungskraft. Das Verhältnis der Geschlechter, so wie es hier beschrieben ist, aber auch Aner Shalevs Roman selbst ist „dunkle Materie“, er lässt den Leser nicht los. Auch dann nicht, wenn man das Buch zugeschlagen hat.


Rezensiert von Carsten Hueck


Aner Shalev: Dunkle Materie
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Berlin Verlag, Berlin 2007, 286 Seiten, 19,90 Euro