Eine Liebe in der Stunde Null

Katholische Intellektuellen-Tochter trifft orthodoxen Staatenlosen, der keine Bücher liest: Anne Wiazemsky rekonstruiert die Geschichte ihrer Eltern - und wirft dabei einen ungewöhnlichem Blick auf das Kriegsende in Berlin.
Anne Wiazemsky war Schauspielerin, ihre erste Rolle spielte sie in Robert Bressons "Zum Beispiel Balthasar" 1966. Über diesen Beginn, den Anfang ihres Filmlebens hat sie ein beeindruckendes Erinnerungsbuch geschrieben, in dem es auch um die erste Begegnung mit ihrem späteren Mann Jean Luc Godard geht.

Ihr neues, gerade auf Deutsch erschienenes Buch ist auch ein Erinnerungsbuch, allerdings stellt die Enkeltochter des französischen Literaturnobelpreisträgers François Mauriac dieses Mal nicht die eigene, sondern die Geschichte ihrer Eltern ins Zentrum. Aus Tagebüchern, Briefen und Erzählungen hat sie deren Liebesgeschichte rekonstruiert.

In dieser Methode liegt eine Chance und ein Problem, denn anders als in dem - im letzten Jahr erschienen – Roman der eigenen Kinointroduktion "Jeune Fille" ist diese Amour fou eine vermittelte, deren Stimmigkeit sich die Autorin verpflichtet fühlt, mit der sie nicht frei umgeht, und das merkt man auch.

Für die großen Gefühle, die Anziehung zwischen den beiden Akteuren, greift sie immer wieder zu Stereotypen, allzu bekannten Formulierungen. Andererseits wirft sie durch und über diese Liebesgeschichte einen eindrucksvollen Blick auf eine besondere historische Situation.

Im Zentrum steht die heftige und scheinbar unmögliche Liebe zwischen der jungen Rotkreuzschwester Claire Mauriac, die endlich einmal selber etwas tun, die dem dominanten Schriftsteller-Vater sich entziehen will, und dem charmanten Offizier Yvan Wiazemsky aus einer emigrierten russischen Adelsfamilie, die verarmt in Paris lebt.

Diese beiden Herkünfte haben nicht nur nichts miteinander zu tun, die Familien betrachten sich auch voller Ressentiments. Großbürgerliche französische Kreise reagieren auf diese Weise bis heute. Wie adlige Vorurteile einerseits, rassistische Herablassung andrerseits funktionieren, das beschreibt die Autorin ironisch und verständnisvoll zugleich. Die erste Begegnung zwischen Schwiegertochter und Schwiegereltern wird nicht zuletzt eine mittlere Katastrophe, weil das junge Paar sich nicht an die Regeln der Konvention hält.

Anne Wiazemsky schaut vor allem aber mit ungewöhnlichem Blick auf das Kriegsende in Berlin. Die Stunde Null in der zerstörten Hauptstadt ist für die Protagonistin - die sich am Steuer ihres Rotkreuzwagens zum ersten Mal selbständig und nützlich fühlt - und für ihre Freundinnen ein großes Abenteuer.

Die jungen Französinnen sehen das Elend in der Stadt, die geduckten deutschen Frauen, die verängstigten Kinder mit den großen Augen, sie müssen sich im Gestrüpp des Viermächte-Status zurecht finden, daneben feiern sie Feste, gewinnen neue Freunde und vor allem ein mutiges Selbstbewusstsein, das den behüteten Töchtern bisher fremd war.

Die Liebe zwischen der katholischen Tochter aus der berühmten Intellektuellen-Familie und dem orthodoxen Staatenlosen, der keine Bücher liest, von Mauriac deswegen noch nie gehört hat, dafür aber über Humor und Lebenswillen verfügt, hat eigentlich keine Chance.

Dass die Beiden ihre Amour fou leben, dass sie beieinander bleiben und miteinander dieses "Berliner Kind" – die Autorin - bekommen, das hat auch mit der ungewöhnlichen Lage zu tun, in der alles beginnt: Eine Stunde Null – historisch und persönlich.

Besprochen von Manuela Reichart

Anne Wiazemsky: Mein Berliner Kind
Aus dem Französischen von Grete Osterwald
C.H. Beck Verlag, München 2010,
261 Seiten, 19,95 Euro