Eine Leiche im Keller

Der kleine Roman "Kartongeschichte" von Helmut Krausser hat buchstäblich eine Leiche im Keller. Als fragile Mumie liegt dort der vor Jahren gestorbene Vater der Protagonistin Eri. Den Tod hat sie aus höchst profanen Gründen verheimlicht. Denn Eri kassiert seine Rente.
Obwohl diese Geschichte episodisch zum Meer hinführt, sie außerdem in der auf Meeres-Literatur spezialisierten mare-Bibliothek erscheint, gleicht ihre Erzählweise eher einem See. Die Oberfläche ist ruhig. Aber gerade das ist beunruhigend und verräterisch.

Denn in regelmäßigen Abständen steigt aus der Tiefe des Sees Luft an die Oberfläche, bildet dort Blasen, kleine rätselhafte Bewegungen, die auf Unheimliches schließen lassen. Liebhaber von Krimis wissen es: Solche Blasen auf der stillen Oberfläche eines Sees sind Indizien dafür, dass sich tief unten eine Leiche befindet. So ist es.

Der kleine Roman "Kartongeschichte" von Helmut Krausser hat buchstäblich eine Leiche im Keller und eine Reihe von Geheimnissen um sie herum, die wie Luftblasen an die Oberfläche der Erzählung aufsteigen und wieder verschwinden. Wie ist es beispielsweise zu verstehen, dass Eri, die Hauptfigur des Romans, in einer komfortablen Penthousewohnung im 12. Stock wohnt, ihr Geld aber als Putzfrau in einem Pornokino verdient? Und was befindet sich hinter dem abgeschlossenen Zimmer der Wohnung? Wer ist das Mädchen, das in der Fußgängerzone als lebende, von Kopf bis Fuß mit Goldbronze bemalte Statue steht? Wer der junge Mann, der die Statue wie ein Detektiv verfolgt und eines Abends an einer Uferböschung die scheue Eri entjungfert? Wie kommt der schwule Angelo, der in dem Pornokino als Stricher arbeitet, ins Spiel?

Ist Eri in ihn oder er doch ein wenig in Eri verliebt? Und was hat es mit der dicken Maria Esmeralda auf sich, die sich von Buenos Aires auf den Weg nach Deutschland begibt, um den Mann aufzusuchen, der ihr vor 22 Jahren ein Kind machte und dann verschwand? Der Schriftsteller Helmut Krausser, eigentlich eher für vehemente, umfangreiche Romane bekannt, hat mit dieser "Kartongeschichte" einen kleinen magischen Reigen geschaffen, ein poetisches Rondoexperiment aus flatternden Motiven und Figuren, die sich am Ende alle in schönster Logik verknüpfen. Wie ein Spieler legt der Erzähler Bausteine zurecht, fügt sie passend zueinander und kommentiert bisweilen das Gebilde, das unter seiner Hand entsteht. Manchmal lässt er Lücken zwischen den Erzählbausteinen, manchmal lässt er eine Erzählspur ins Leere laufen und verfolgt die Geschichte aus einer anderen Perspektive. Kraussers poetisch schwebende, ein wenig surreale "Kartongeschichte" gleicht einem Traum, der sich erst vom Ende her entschlüsseln lässt. Dennoch, und das ist die besondere Kunst dieses Romans, fühlt sich der Leser nie verloren in der elliptischen Erzählweise. Wie sich die Teile der Geschichte schließlich zusammenfügen, so kommen auch die Figuren zueinander – als eine Art Reisegruppe eines kleinen Road-Movies mit Hitchcock-Charakter. Das Mädchen aus der Fußgängerzone zieht zu Eri in die Penthousewohnung, die beiden Frauen beginnen eine vorsichtige Liebesgeschichte.

Und irgendwann betreten sie das verschlossene Zimmer. Dort liegt als fragile Mumie der vor Jahren gestorbene Vater Eris. Seinen Tod hat sie aus höchst profanen Gründen verheimlicht. Sie kassiert seine Rente. Jetzt soll er endlich entsorgt werden. Die beiden Frauen packen den Vaterleichnam in einen Karton und fahren damit, unterstützt von Angelo und seinem Freund, Richtung Meer. Inzwischen ist aus Argentinien Maria Esmeralda eingetroffen. Sie ist - das ergibt sich aus der märchenhaften Zufallslogik der Geschichte fast zwangsläufig - niemand anderes als Eris Mutter und die ehemalige Geliebte des Mannes, der im Karton auf seine Bestattung wartet. Der Karton purzelt ein wenig durch die Weltgeschichte - und alle anderen, Eri, das Mädchen aus der Fußgängerzone, Angelo und der heimliche Beobachter gehen ihrer Wege. Die Luftblasen verschwinden wieder von der Oberfläche dieses schönen und verspielten Prosastücks, das Helmut Krausser mit leichter Hand und dezenter Disziplin erfunden hat.

Rezensiert von Ursula März

Helmut Krausser:
Kartongeschichte,

mare-Buchverlag, Hamburg 2007,
138 Seiten, 19,80 Euro.