Eine leere virtuelle Welt

Rezensiert von Barbara Leitner · 20.09.2006
Für viele Kinder und Jugendliche sind Computerspiele so faszinierend, dass sie Tag und Nacht vor dem PC sitzen. Der Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann und der Hirnforscher Gerald Hüther sind in ihrem Buch "Computersüchtig" der Frage nachgegangen, welche Folgen exzessives Spielen haben kann, und zu erschreckenden Ergebnissen gekommen.
Klick. Computer an. Aktion. Es geht los. Das Online-Spiel World of WarCraft beginnt. Klick. Wer will ich sein? Wie aussehen? Welcher Klasse, Rasse oder Fraktion will ich angehören? Bin ich blond? Oder braunhaarig? Klick für Klick erfindet man so sein virtuelles Ich. Klick. Klick: Schon auf den ersten Seiten dieses schonungslosen Buches ist der Leser mittendrin, spielt gemeinsam mit den Autoren dieses bei Comupterfreaks beliebte Online-Spiele durch. Schnell wird deutlich, wie faszinierend es sein kann, in dieser klar strukturierten Welt, eine Herausforderung nach der anderen zu meistern. Und sich nach stundenlangem, ja tagelangem Spiel letztendlich als Sieger zu fühlen:

"Den Stolz eines Spielers, wenn er den höchsten Level erreicht hat, kann man sich gut vorstellen: Ich bin der absolute Könner in einer Welt von Profis, einer Elite meiner Spielwelt. Und alles ist virtuell, beweglich, frei!"

Alles also nur Spaß? Nein, sagen die Autoren: Vielmehr formen diese Computerspiele verzweifelte und ängstliche Charaktere, die dem realen Leben nichts mehr entgegenzusetzen haben. Wie das? Kinder und Jugendliche suchen nach Struktur und eigene Entscheidungen. Sie streben nach aufregenden Entdeckungen und zu überwindende Gefahren. Nach erreichbaren Zielen und nach Vorbildern zum Nacheifern. Sprich: Sie wollen etwas leisten, worauf sie stolz sein können. Und weil sie dies in ihrem Alltag nicht finden, schalten sie den Computer ein.

"Sie flüchten in eine fiktive Gemeinschaft und bleiben … einsam gerade dort, wo sie zu kommunizieren meinen … Sie treffen kein Gegenüber, sie decodieren nur seine Zeichen, seine Codes. Nicht, dass dieser Kommunikationsprozess simpel ist, aber er ist immer ich-bezogen. Letztlich bleibt es ein fortwährender Ich-Ich-Kontakt – ganz so wie bei Narziss, der sich von der Idee der Allmacht, der vollkommenen weltfernen Reinheit nicht lösen konnte und dabei allein blieb bis in den Wahn hinein."

Es ist beklemmend, der Logik des Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann und des Hirnforschers Gerald Hüther zu folgen und erschreckend, sich diese selbstbezogenen, egoistischen Jugendlichen als Zukunftsgeneration vorzustellen.

"Nicht die Verwechslung von Fiktion und Realität ist die Gefahr, die diesen Spielern droht, nein, es ist mehr so, dass – wenn sie in der Woche 60 oder mehr Stunden vor dem Computer hocken – ihr erfundenes Ich bedeutsamer wird als ihr reales Ich im Alltag, zumindest befriedigender, zumindest befreiter von all den Zwängen und Hemmungen, die unseren Alltag durchwirken."

Das Buch ist mit einer großen suggestiven Kraft geschrieben. Man liest gebannt und entsetzt zugleich, in welch kalte, leere virtuelle Welt die Kinder und Jugendlichen schlittern. Es sind vor allem Jungen.
Mit mahnender Stimme erklären die beiden Autoren aus ihren Disziplinen, was gegenwärtig der Wissensstand ist. Für die Hirnforschung wird klar formuliert.

"Im Gehirn von Menschen, die (es) … immer wieder auf die gleiche Weise für das Erreichen eines bestimmten Ziels benutzen, entstehen aus den dabei aktivierten, anfänglich noch sehr filigranen Nervenverbindungen allmählich immer fester gebahnte Wege, Straßen und am Ende sogar breite Autobahnen, von denen man, wenn überhaupt, dann gar nicht so leicht wieder herunter kommt."

Mit modernen Bild gebenden Verfahren ist heute nachweisbar: Wurde das Hirn einmal so einseitig optimiert, sind Alternativen kaum denkbar. Bitten, Ermahnungen, Verbote können nur wirkungslos abprallen. Doch ehe diese Schmalspurbahnen im Gehirn eines Menschen entstehen, findet ein Leben in Widersprüchen statt. Nicht nur, dass Kinder übermäßig verwöhnt werden. Sie werden auch immer früher mit ungehemmten Leistungsansprüchen konfrontiert. Um sie dafür zu wappnen, planen wir Erwachsenen das Leben unserer Zöglinge bis in zur letzten Minute vor und rauben ihnen den eigenen Gestaltungsraum.
Dagegen setzen die Autoren ihre Botschaft:

"Wer .. Kinder (und auch Erwachsene) stark machen will, muss ihnen schwierige Aufgaben übertragen, ihnen Mut machen und Vertrauen schenken. So einfach ist das."

Deutlich ist der Misstand beschrieben, sind die Gefahren für die Kinder benannt. Für Eltern ist das hart zu lesen, wie sie ihre Kinder durch Überbehütung vor den Computer treiben. Trotzdem sollten genau sie das Buch lesen. Denn Bergmann und Hüther sind klug genug, den Computer nicht per se zu verteufeln. Vielmehr zeigen sie Alternative auf, wie man den Computer sinnvoll nutzen kann. Nämlich als Such- und Recherche-Maschine, die uns und unseren Kindern beim Lösen der Probleme, die das reale Leben für uns bereithält, helfen kann. "Computersüchtig" ist ein kluges, ein notwendiges Buch: Gut verständlich geschrieben ist es ein Muss für alle, die den Sog der modernen Medien verstehen wollen!

Wolfgang Bergmann / Gerald Hüther: Computersüchtig. Kinder im Sog der modernen Medien
Patmos Verlag 2006
164 Seiten, 18 Euro