Christa Wolf und Franz Fühmann

Kindheitsmuster und Herkunftsmonster

Collage zweier Porträts von Christa Wolf und Franz Fühmann.
Christa Wolf und Franz Fühmann gehörten zu den Intellektuellen, die sich mit ihrer Nazi-Vergangenheit auseinandersetzten - andere taten das nicht. © Picture Alliance / akg-images
Von Uwe Wittstock · 15.01.2022
Christa Wolf und Franz Fühmann glaubten als junge Menschen an den Nationalsozialismus, wurden später zu Verfechtern des Sozialismus und schließlich zu Kritikern der DDR. In ihren Werken versuchen sie, den Wurzeln totalitären Denkens auf die Spur zu kommen.
Christa Wolf gehört zu den bekanntesten Schriftstellerinnen der DDR. Sie hat als Person und mit ihrem Werk über 50 Jahre hinweg im Mittelpunkt öffentlicher Debatten gestanden - als Repräsentantin eines oppositionellen, aber dennoch sozialistisch orientierten Kulturlebens der DDR.
Franz Fühmann, geboren 1922 in Rochlitz an der Iser, gestorben 1984 in Ostberlin, schrieb Gedichte, Erzählungen, Tagebücher, Essays und Kinderbücher – aber nie einen umfangreichen Roman. In der DDR kannte ihn früher fast jedes Kind. Er galt als unangepasster, regimekritischer Autor, der den Konflikt mit den Machthabern seines Landes nicht scheute. In der alten Bundesrepublik dagegen hatte er kein großes Lesepublikum.

Dämonen der Kindheit

Für das Kind Franz Fühmann verschmolz die reale Umwelt der Industriebetriebe, schäbigen Mietshäuser für die Arbeiter und der ersten Autos mit dem Reich der Sagen und Legenden. Er lebte nicht nur mit den Märchen, er lebte in ihnen.
Aufgewachsen ist er zwischen Riesengebirge und Isergebirge in Rochlitz an der Iser. Sein Vater war Apotheker und hatte mit einem Knoblauchsaft gegen Arterienverkalkung eine kleine pharmazeutische Fabrik auf die Beine gestellt.

Anlässlich des 100. Geburtstags von Franz Fühmann hat Andrea Gerk in der Sendung Lesart mit dem Lyriker Uwe Kolbe über den Schriftsteller gesprochen. Kolbe hat Fühmann mit 17 Jahren kennengelernt und als äußerst hilfsbereiten Menschen erlebt. 1984 hielt er Fühmanns Grabrede.

Jeden Winter wurde Rochlitz eingeschneit - und da fing Fühmann an zu schreiben. In seiner Heimat gab es überall Eulen, Abhänge, Steinbrüche mit geheimnisvollen Eingängen, Büschen, verkrüppelten Bäumen. In jeder Höhle wohnte ein Geist, für den er einen Namen und eine Genealogie erfand.
Auf diese Weise gründete er ein eigenes Reich mit Zwergen und Zauberern, Räubern und Kobolden, Geistern und Dämonen. Die Natur schien beseelt, doch nur die wenigsten dieser versteckten Geschöpfe waren freundlich gesonnen.

Fühmanns Jugend im Dritten Reich

Fühmann versuchte später, sein Verhalten in den Jugendjahren nicht zu bagatellisieren, sondern nannte sich selbst einen Nazijungen. Er war als junger Mensch gefangen in der Nazi-Weltanschauung – wie der größte Teil seiner Altersgefährten auch. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen dieser Jahrgänge hat er aus dieser Vergangenheit nie ein Geheimnis gemacht.
Viele seiner Kollegen verdrängten ihre eigene Vergangenheit, anstatt ihr auf den Grund zu gehen. Sie versäumten es, von den Kindheitsmustern zu sprechen, in die sie gepresst worden waren, und die noch lange als Herkunftsmonster in ihrem Bewusstsein spukten.
Doch gerade solche Dokumente intensiver Selbstanalyse einer politischen Verirrung sind für eine lebendige Demokratie wertvoll. Hier sind Franz Fühmann und Christa Wolf Ausnahmen. Ihre Werke sind zu einem ganz wesentlichen Teil ein radikaler Versuch, den Wurzeln eines ideologischen und totalitären Denkens auf die Spur zu kommen.

Christa Wolfs Kindheit und Jugend

Christa Wolf wurde 1929 in der brandenburgischen Stadt Landsberg an der Warthe geboren und wuchs in einer deutschnational orientierten Familie auf. Die Eltern waren Kaufleute und betrieben ein Lebensmittelgeschäft. Der Vater wurde Mitglied der NSDAP und die Tochter Christa begeisterte sich später für den BDM, den Bund deutscher Mädel.
Die Autorin Christa Wolf im Jahr 1971.
Gehörte zu den bekanntesten Schriftstellerinnen der DDR: Christa Wolf 1971.© dpa / picture alliance
Im Roman "Kindheitsmuster" schildert sie, wie ein kluges, sensibles, etwas scheues junges Mädchen noch 1945 unverbrüchlich an ihren Führer glaubt - und ihm Treue schwört.

Christa Wolf: "Kindheitsmuster"
Aufbau Verlag, Berlin 1976 (Erstausgabe)
Suhrkamp, Berlin 2007
637 Seiten, 15 Euro

Von einem Regime ins nächste

Fühmann war 1945 mit 23 Jahren in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und zwei Jahre später auf eine der "Antifaschistischen Frontschulen" geschickt worden. Dort wurden die ehemaligen Wehrmachtssoldaten mit brachialen Methoden zu gläubigen Anhängern des Kommunismus umerzogen.
Bei der sieben Jahre jüngeren Christa Wolf verlief die politische Neuausrichtung langsamer und weniger rabiat. Doch das Ergebnis war zunächst ähnlich: 1949, mit 20 Jahren, trat sie in die SED ein und blieb etliche Jahre ein weitgehend unkritisches Parteimitglied.
Der jugendliche Idealismus und die Bereitschaft, sich für eine gemeinsame Sache zu engagieren, machen den Einzelnen anfällig für neue ideologische Angebote. Christa Wolf erkannte und bereute ihre Denkfehler zwar, doch "die Art zu denken war nicht so schnell zu ändern, und noch weniger waren es bestimmte Reaktions- und Verhaltensweisen, die Gewohnheit der Gläubigkeit gegen übergeordnete Instanzen, der Zwang, Personen anzubeten oder sich doch ihrer Autorität zu unterwerfen, der Hang zu Realitätsverleugnung und eifervoller Intoleranz".
Die Denkinhalte waren ausgetauscht worden, die Art des Denkens war aber gleich geblieben. Bei Christa Wolf und Franz Fühmann lagen die Dinge anders. Nachdem sie ihre allzu engen Bindungen an die ideologischen Vorgaben des Regimes hinter sich gelassen hatten, gewannen sie auch die innere Freiheit, literarisch zu neuen Ufern aufbrechen.

Literarische Wandlung

Der Abschied von der aktiven Politik erwies sich für Franz Fühmann als eine literarische Befreiung. Nach seiner Trennung von der NDPD begann seine intensive Erforschung der eigenen Kindheit mit schriftstellerischen Mitteln.
Er schrieb unter anderem die Geschichte "Das Judenauto" (1962), mit der er Grundmotive antisemitischer Hetze vorführt, seine wohl berühmteste Erzählung. In seinem Reisetagebuch geht Fühmann streng mit sich ins Gericht und setzt sich sogar mit den Mördern von Auschwitz gleich.

Franz Fühmann: Das Judenauto
Aufbau Verlag, Berlin 1962 (Erstausgabe)
Hinstorff, Rostock 2019
224 Seiten, 18 Euro

Fühmanns literarische Rückbesinnung mit dem Ziel, die verinnerlichten Verhaltensmuster zu überwinden, erreichte eine neue Dimension: Die hartnäckige, sich über Jahrzehnte erstreckende Beschäftigung mit den Verirrungen seiner Jugend weiteten sich zur psychoanalytischen Trauerarbeit.

Politisches Engagement für Kollegen

Die Schriftsteller in der DDR versuchten - als schreibende Einzelkämpfer - die Entscheidungen der Machthaber zu kritisieren und zu korrigieren. Das geschah vergeblich. Dennoch nahm Fühmann diese Aufgabe wahr, vor allem, wenn junge Autoren wegen ihrer Texte von Kulturfunktionären angegriffen wurden und ihnen Strafverfahren oder gar Verhaftung drohten.
Es schreckte ihn nicht, selbst zur Zielscheibe für Angriffe durch die linientreuen Amtsverwalter des DDR-Kulturbetriebes zu werden. Dabei gehörte es zu seinen Grundsätzen, seine Kritik am Regime der SED direkt an das Führungspersonal zu richten.
Fühmanns Prinzip war es, die Dinge beim Namen zu nennen, egal, wie unbequem das war. Ihm ging es darum, in Literatur und Politik der Wahrheit so nahe zu kommen wie möglich. Kompromissformeln waren ihm verhasst.
Gerade mit dieser Leidenschaft für die aufrichtige und bedingungslose Suche nach Wahrheit wird Fühmann zu einer Vorbildfigur für unsere Gegenwart, in der mit alternativen Fakten oder Fake News hantiert wird, als seien Tatsachen eine beliebige Größe.
Dieses Vertrauen in die Kraft der Dichtung, die Menschen verändern und damit auch der Gesellschaft andere Wege und Möglichkeiten erschließen kann, führte Fühmann schließlich zu seinem wohl wichtigsten Buch, dem autobiografischen Essay "Vor Feuerschlünden". Es ist ein eigenwilliger, überwältigender Gedichtband.

Franz Fühmann: Vor Feuerschlünden - Erfahrungen mit Georg Trakls Gedicht
Hinstorff, Rostock 2000
544 Seiten, 25,50 Euro

Das Buch macht den Konflikt zwischen Literatur und Politik zum Thema, die Widersprüche zwischen den Wahrheiten der Ästhetik und den Wahrheiten der politischen Moral.
Große Lyrik ist fähig, eine stumme oder stumm gehaltene Saite in unserem Inneren zum Schwingen zu bringen und so eine überraschende Selbst-Begegnung zu provozieren. Damit stellt er sich in die Tradition Georg Trakls, dessen Gedichte ihn sehr bewegten.

Späte Würdigung

Als das Buch "Vor Feuerschlünden" 1982 erschien, geschah etwas, das im Kulturbetrieb nicht ungewöhnlich ist: Fühmann wurde der Geschwister-Scholl-Preis verliehen. Die Jury, die für die Vergabe des Preises zuständig war, würdigte Fühmanns enorme Anstrengungen, die Prägungen seiner Kindheit und Jugend hinter sich zu lassen und diese Selbstbefreiung in Literatur zu verwandeln.
Zwei Jahre später starb Franz Fühmann mit 62 Jahren an Krebs. Auch sein Testament ist ein Dokument der Bedingungslosigkeit: Kein offizieller Vertreter des Schriftstellerverbandes der DDR solle an seiner Beerdigung teilnehmen, verfügte er.
Zwölf Jahre nach seinem Tod wurde im brandenburgischen Ort Jeserig eine Schule nach ihm benannt. Zur Feier dieser Namensgebung lud die Schule seine Kollegin und Freundin Christa Wolf ein, eine Rede zu halten. Sie wandte sich an die Schülerinnen und Schüler und legte ihnen den neuen Namenspatron ihrer Lehranstalt als Orientierungsfigur ans Herz, der zwar aus der Vergangenheit zu ihnen spreche, ihnen aber für ihre Gegenwart viel zu sagen habe.

Auswahlbibliografie Christa Wolf
Der geteilte Himmel. Erzählung. 1963, neueste Ausgabe: Suhrkamp, Frankfurt 2008.
Nachdenken über Christa T. 1968, neueste Ausgabe von Axel Springer, Berlin 2009.
Kindheitsmuster. 1976, neueste Ausgabe von Suhrkamp, Frankfurt 2007.
Kein Ort. Nirgends. 1979, neueste Ausgabe von Suhrkamp, Frankfurt 2007.
Kassandra. Erzählung. 1983, neueste Ausgabe von Suhrkamp, Berlin 2011.
Was bleibt. Erzählung. 1990, neueste Ausgabe von Suhrkamp, Frankfurt 2007.
Nachruf auf Lebende. Die Flucht. Suhrkamp, Berlin 2014.
Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952–2011. Hrg. von Sabine Wolf. Suhrkamp, Berlin 2016.

Auswahlbibliograpfie Franz Fühmann
Die Fahrt nach Stalingrad. Eine Dichtung. Berlin Aufbau 1953.
Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte. Erzählung. Berlin Der Kinderbuchverlag 1959.
Das Judenauto. Vierzehn Tage aus zwei Jahrzehnten. Hinstorff Verlag, Neuauflage Rostock 2019.
Das Nibelungenlied. Hinstorff 1971.
Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus. Prometheus. Der Geliebte der Morgenröte und andere Erzählungen. Hinstorff 1980 u. 1993.
Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht. Rostock, Hinstorff 1982.
Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981. Rostock, Hinstorff 1983 u. 1993.
Im Berg. Texte und Dokumente aus dem Nachlaß herausgegeben von Ingrid Prignitz. Rostock, Hinstorff 1991.

Eine Lange Nacht über Christa Wolf und Franz Fühmann und ihre deutsche Vergangenheit - eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2019. Hier finden Sie das Skript zur Sendung im pdf-Format. Die Sendung ist eine Wiederholung vom 10.11.2019.

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