Eine Lange Nacht über Alexander und Wilhelm Humboldt

Unerzählte Geschichten

Das Bild zeigt einen Scherenschnitt von Alexander von Humboldt und seinem Bruder Wilhelm von Humboldt.
Alexander von Humboldt und sein Bruder Wilhelm von Humboldt im Scherenschnitt © dpa / picture-alliance / SCHROEWIG / Bernd Oertwig
Von Stefan Koldehoff und Jan Tengeler · 30.11.2019
Das Überschreiten wissenschaftlicher Grenzen und die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu vermitteln sind Gründe dafür, dass die Brüder Humboldt noch heute zu den prominentesten Deutschen zählen. Das zeigt auch eine große Ausstellung in Berlin.
Ein Porträt des Universalgelehrten Alexander Freiherr von Humboldt
Ein Porträt des Universalgelehrten Alexander Freiherr von Humboldt© Imago / Ken Walsch
Was haben Alexander von Humboldts (1769-1859) Sektionsprotokolle von Krokodilen mit einer Skulptur aus der römischen Antike zu tun? Was ein ausgestopfter Ibis mit Wilhelm von Humboldts (1767-1835) Sprachstudien? Die Humboldt Brüder haben die Grenzen wissenschaftlicher Forschung neu vermessen und alternative Vermittlungswege präsentiert. Doch auch jenseits der großen Amerikareise und der Bildungsreformen, für die Alexander und Wilhelm berühmt sind, gibt es Interessantes zu berichten.
Dem Brüderpaar widmet das Deutsche Historische Museum vom 21. November 2019 bis 19. April 2020 eine große Ausstellung unter dem Titel 'Wilhelm und Alexander von Humboldt'. Die Kuratoren Bénédicte Savoy und David Blankenstein stellen die beiden im Kontext ihrer Zeit vor. Gesellschaft, Politik und Wissenschaft des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts werden mit etwa 350 Exponaten nachgezeichnet: Historische Messgeräte, Skizzen, Bücher, Notizen und zeitgenössische Gemälde illustrieren ihr Leben und Wirken.

Pressestimmen zur Ausstellung

Kinder der Aufklärung waren sie, und das im wahren Sinne des Wortes. Die Brüder Humboldt gehörten zu der ersten Generation Europäer, die mit der Aufklärung aufwuchs. Von aufgeklärten Gelehrten wurden sie erzogen, in den Salons der Berliner Aufklärung trainierten sie Denken und Sprechen, sie sogen den kritischen Geist mit der Muttermilch ein. Wer über sie spricht, schreibt, sie ausstellt, kommt nicht darum herum, sich über Rolle und Ambivalenz der Aufklärung Gedanken zu machen. Über all das, was mit ihr verbunden ist: Reiselust. Wissensdurst. Messinstrumente. Tabellen. Fortschrittsglaube. Europa. Freiheitssehnsucht. Die neue Welt. Wir! Doch, und auch das wird in der Ausstellung deutlich, Wissenschaft ist nicht neutral. Wer lückenlos erfassen möchte, wer Kategorien bildet, klassifiziert, Fachwörter einführt, der beansprucht für sich Benennungsmacht. Systematik und Terminologie der in der Humboldt-Zeit entwickelten Wissenschaft waren europäisch, die "Matrix Europa" legte sich damals über die Welt.
"Wissen hat immer auch mit Politik, mit Macht zu tun", sagt Benedikt Savoy, die die Ausstellung mit konzipiert hat und der kolumbianische Historiker Mauricio Nieto Olarte schreibt im Katalog zur Ausstellung: "Forschungsreisende waren unverzichtbarer Bestandteil jenes kulturellen Prozesses, mit dem Europa seinen globalen Herrschaftsanspruch definierte." Wie immer im DHM ist die Ausstellung auf vorbildliche Weise inklusiv - Brailleschrift, Gebärdensprachvideos, Geruchsstationen erlauben es allen Besucherinnen und Besuchern, sich sehend, hörend, riechend oder auch fühlend einen eigenen Reim auf die Brüder Humboldt zu machen. Wie hat Alexander gesagt? "Die Natur muss gefühlt werden." Dorothee Nolte, Tagesspiegel.
Porträtzeichnung von Wilhelm von Humboldt (1767–1835).
Wilhelm von Humboldt (1767–1835) wirkte als Gelehrter, Schriftsteller und Staatsman.© dpa/ Mary Evans Picture Library
"Im öffentlichen Bewusstsein sind die Brüder Humboldt so etwas wie die perfekten deutschen Helden. Wilhelm, der preußische Bildungsminister und heute Namensgeber der Humboldt-Universität, steht für das Ideal von Bildung als Programm der ständigen Vervollkommnung der Persönlichkeit, Alexander, der Weltreisende und Naturforscher, für das vorurteilslose Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Frisch befeuert wurde die Heldengeschichte durch das Humboldt Forum, das sich – aufgeschreckt durch die Diskussion über die Legitimität seiner ethnologischen Objekte – mit der Idealisierung seiner Namensgeber ins rechte Licht zu rücken suchte.
Diese schwärmerische Bild wird von der an diesem Donnerstag im Deutschen Historischen Museum eröffnenden Ausstellung infrage gestellt. Zwar habe man bei der Recherche einige "Reliquien" entdeckt – etwa den Schreibtisch Alexanders, seine Brille, seine Totenmaske – "und wir hätten damit auch eine weitere Heldengeschichte schreiben können", so Kuratorin Bénédicte Savoy, Kunsthistorikerin an der TU und wohl bekannteste Kritikerin des Humboldt Forums. Genau das habe man aber nicht gewollt: Ihr und ihrem Kollegen David Blankenstein sei es um eine historisch-kritische Verankerung der Brüder in ihrer Zeit gegangen – um den BesucherInnen ein Gefühl zu geben für die Zeit um 1800, aber auch, um die Widersprüche in den Persönlichkeiten und Lebenswegen der Humboldt-Brüder verständlich zu machen." Susanne Memarnia, taz.
Die Baustelle des Berliner Humboldt Forums. Teile des Gebäudes sind noch mit Baugerüsten versehen. Kräne und Baumaschinen stehen herum.
Das umstrittene Berliner Humboldt Forum 2019© Christian Ditsch / imago-images
"Die einander ergänzenden enzyklopädischen Interessen, die Wilhelm und Alexander verfolgten – Sprachforschung, Bildungs- und Realpolitik, Naturgeschichte und Kosmologie –,machten die Arbeit der Kuratoren zur Odyssee im Weltwissensraum. Ein Großteil der Ausstellung besteht aus Flachware, Zeichnungen, Karten, Büchern, Briefen, Manuskripten. Trotzdem findet man immer kleine Wunder an Anschaulichkeit. In einem baskischen Museum haben Savoy und Blankenstein einen der Tragsättel gefunden, auf denen Caroline und Wilhelm von Humboldt die Pyrenäen überquerten; ein französischer Maler hat die beiden auf ihrer Spanien-Reise gezeichnet.
Die Gipsreplik des Medaillons vom aztekischen Sonnenstein in Mexiko City stammt aus dem schottischen Nationalmuseum in Edinburgh. Alexander von Humboldt hat den Stein, der erst kurz zuvor entdeckt worden war, auf seiner Amerika-Reise als Verzeichnis der astronomischen und kalendarischen Kenntnisse der Azteken beschrieben. Die Zunge, die der Sonnengott Tonatiuh auf dem Medaillon herausstreckt, fehlt dem Krokodil aus den Vatikanischen Sammlungen, das Alexander auf einem Besuch bei seinem Bruder in Rom betrachtete und wegen seiner Naturferne verwarf. Humboldt urteilte als Experte, denn er hatte selbst am Rio Magdalena ein Krokodil seziert; seine Anatomiezeichnung des aufgeklappten Brustkorbs hängt in der Ausstellung direkt neben der antiken Marmorskulptur. Jede historische Ausstellung hat ihren blinden Fleck. Hier ist es, ausgerechnet, das Verhältnis der Brüder zueinander. Erst im letzten Raum sieht man sie gemeinsam, auf zwei in Paris und London gemalten Porträts." Andreas Kilb, FAZ.

Zwischen Raubkunst und Restitution

Eine Reihe von Vorträgen begleitet die Ausstellung. Von 'unerzählten Geschichten' berichteten die Kuratoren am Montag, 25. November 2019. Die Gesprächsrunde mit Dorothee Nolte, Bénédicte Savoy, Jürgen Trabant, David Blankenstein wurde von Stefan Koldehoff geleitet und vom Deutschlandfunk aufgezeichnet. Sie ist in den ersten beiden Stunden dieser Langen Nacht zu hören. In der dritten Stunde geht es um einen Workshop in Bayreuth und Leipzig, der sich mit der Hinterlassenschaft des Kolonialismus in öffentlichen Sammlungen und Archiven auseinandergesetzt hat.
Französische Kunsthistorikerin Benedicte Savoy (R) und senegalesischer Ökonom Felwine Sarr (L) am 21.03.2018 in Paris. - Die zwei Akademiker wurden von Emmanuel Macron beauftragt einen Leitfaden für Frankreich zum Umgang mit kolonialen Objekten herauszugeben
Felwine Sarr und Benedicte Savoy in Paris© AFP / ALAIN JOCARD
"un-doing postcolonial knowledges. Perspectives from academia-arts-activism", so der Titel der englischsprachigen Veranstaltung, die von den Wissenschaftlerinnen Manuela Bauche, Katharina Schramm und Nadine Siegert veranstaltet worden ist – eine Neu-Bewertung postkolonialen Wissens aus Sicht von Akademikern, Künstlern und Aktivisten. Bei dem internationalen Gedankenaustausch haben europäische und afrikanische Akademiker nach neuen Wegen im Umgang mit den Themen Raubkunst, Provenienzforschung und Restitution gesucht. Für die Debatten war der Bericht "Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter", den Bénédicte Savoy und der senegalesische Ökonom Felwine Sarr im Herbst 2018 veröffentlicht hatten, ein wichtiger Bezugspunkt. Der Bericht war im Auftrag des französischen Präsidenten Emanuel Macron entstanden und hat eine breite Diskussion über den Umgang mit ethnologischen Sammlungen auch in Deutschland ausgelöst.

Literatur:

Alexander von Humboldt: "Ansichten der Natur", Nikol 2018, Erstausgabe von 1808
Daniel Kehlmann: "Die Vermessung der Welt", Rowohlt 2008
Andrea Wulf: "Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur", Penguin Verlag 2018
Felwine Sarr, Bénédicte Savoy: "Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter", Matthes&Seitz Berlin, 2018.

Filmtipp:

Die Besteigung des Chimborazo. Regie: Rainer Simon, Deutschland 1989. Mit Jan Josef Liefers u.a.

Unerzählte Geschichten – Eine Lange Nacht über Alexander und Wilhelm von Humboldt - eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2019. Hier finden Sie das Skript zur 3. Stunde (PDF)

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