Eine Lange Nacht der portugiesischen Sehnsucht nach der Ferne

Land der Unruhe

Von Grit Eggerichs |
"Navegar é preciso", Navigieren tut not - so lautet eine Gedichtzeile von Fernando Pessoa, dem großen portugiesischen Dichter. Portugiesen suchen ihr Glück gern in der Ferne. Davon berichten in Frankfurt gelandete Krankenschwestern, zurückgekehrte Gastarbeiter und der Bürgermeister einer inzwischen sehr portugiesischen Gemeinde im Odenwald.
Seefahrer wagen sich vor 600 Jahren mit ihren Karavellen aufs Meer - obwohl viele ihrer Vorgänger nie zurückkehren. Obwohl sie wissen, dass hinterm Horizont nicht nur schwere Stürme, sondern auch gefährliche Seeungeheuer warten. Sie riskieren, was damals unmöglich schien: Sie umsegeln das Kap Bojador und finden schließlich den Seeweg nach Indien.
Die Portugiesen besiedeln ihre Kolonien in Afrika, Asien und Südamerika. Und erst, als kaum noch eine Kolonie übrig ist, wenden sie den Blick zurück nach Europa und wandern zu Hunderttausenden nach Frankreich, Luxemburg und nach Deutschland aus.
Heute ist das Übersiedeln in EU-Regionen, die mehr Jobs bieten als die Heimat, einfach geworden. Seit 2010 kommen viele portugiesische Krankenpfleger oder Ingenieurinnen nach Deutschland. Ihre Eltern und Großeltern waren als Gastarbeiter gekommen und stehen inzwischen geradezu beispielhaft für gelungene Integration. Aus dieser Erfolgsgeschichte lässt sich lernen.
Reisen, Flüchten, Auswandern oder Umsiedeln prägen in einer globalisierten Welt inzwischen den Alltag.

Auszug aus dem Manuskript:
Früher nahmen sie das Schiff, heute sind sie mit dem Flugzeug unterwegs – kreuz und quer in der Welt. Stets auf gepackten Koffern. Soweit das Klischee von Portugal, Land der Seefahrer und Entdecker. Und deshalb heißen portugiesische Restaurants in aller Welt "A caravela" "O navegante" oder "Vasco da Gama". Die Kulturwissenschaftlerin und Germanistin Ana Margarida Abrantes hält diese sehr haltbare Geschichte höchstens für gut erzählt:

"Ich weiß nicht, inwiefern das wirklich so ist oder ob wir uns das als Geschichte eingeprägt haben, von diesen Seefahrern, die so lange ins Meer geguckt haben, dass sie endlich mal wissen mussten, was da hinter dem Horizont steckt, ob da überhaupt was ist, das ist eine sehr runde Erklärung, aber letztendlich ist es nicht das, was uns treibt, irgendwas zu suchen, was uns fehlt, ich weiß nicht, ob das nicht woanders genauso ist, vielleicht erklärt man das, weil das ne gute Erzählung oder Narrative ist, aber ob das wirklich so ist? Weiß ich nicht. Das sind normalerweise ganz pragmatische Gründe, die einen dazu treiben, ein besseres Leben in der Ferne zu suchen."
Es gibt Schätzungen, die sagen, dass auf jeden der zehn Millionen Portugiesen in Portugal einer kommt, der im Ausland lebt. Viele leben in Frankreich, der Schweiz und in Luxemburg. Aber auch nach Deutschland kamen sie – als Gastarbeiter in den 1960er- und 70er-Jahren.

Literatur:

Bernardo Gomes de Brito: "Portugiesische Schiffbrüchigen-Berichte. 1552 - 1602."
Aufgezeichnet von Augenzeugen Leipzig und Weimar.
G. Kiepenheuer Verlag (1985)

Jorge Nascimento Rodrigues, Tessano Devezas: "Pioneers of Globalization. Why the Portuguese surprised the World"
Centro Atlântico (2007)

Michael Studemund-Halvy: "Portugal in Hamburg"
Ellert & Richter Verlag (2007)

Gonçalo M. Tavares: "Uma viagem à Índia"
LeYa (2010)

Das Buch ist ein Epos in Versform, zum Glück ungereimt – angelehnt an die "Lusíadas" von Luís de Camões (1572 erstmals in Portugal erschienen) und steht in der Tradition portugiesischer Literatur zum Thema Reisen, Entdeckungen und Schiffbrüche. Leider liegt es noch nicht in deutscher Übersetzung vor.
Die Handlung spielt in der Gegenwart. Der Held, Bloom, macht sich von Lissabon aus auf den Weg nach Indien, um weiser und glücklicher zu werden. Dabei ist er längere Zeit auch in Europa unterwegs, und der Erzähler der Geschichte räsoniert über die Schwierigkeit, mit denen die Fremde dem Reisenden begegnet – und umgekehrt.

Übersetzung von sechs Abschnitten aus dem Epos "Uma viagem à Índia":

II, 49
Und die Bedeutung der Sprache. Sprechen wir darüber.
Bloom ist ein intelligenter Mensch,
in einem Land ohne geteilte Sprache
wird er zum Idioten.
Und dieser Umstand offenbart das ganze Übel, das die Vervielfachung der Sprachen für das Denken in der Welt mit sich bringt.
Unter Chinesen, die seine Sprache nicht verstehen, kann der europäische Philosoph mit einem Betrunkenen oder einem dumpfen Tier verwechselt werden.
II, 80
Man sagt, jede Sprache kann als ein spezielles Verfahren definiert werden, die Stille zu unterbrechen. Und die Stille von Paris gleicht im Allgemeinen der Stille von London oder Wien, doch die Art, wie diese Stille unterbrochen wird, unterscheidet sich auf grausame Weise, auch wenn man die kurzen europäischen Wege berücksichtigt. Zu dieser Grausamkeit, mehr oder weniger geordnet in Syntax, Orthografie und Geschwätz, das auf zivilisierte Art den Sauerstoff und den Nebel durchbricht, dazu sagen wir Sprache.
V, 67
Da draußen hat die Wirklichkeit einen stärkeren Geruch. Im Haus schrumpft das Land auf ein Din A4-Blatt
- begrenzt von ein oder zwei Fenstern und einem großen Möbel.
Wer die blutige Revolution auf dem Fernseher seines Wohnzimmers sieht, glaubt nicht, dass es da draußen einen einzigen Toten geben kann. Im Haus ist die Geschwindigkeit der Welt übermäßig klein, aber das ist die richtige Geschwindigkeit für jeden Feigling.
II, 59
Ein Luxus, das Glück? Ein Luxus, die Gastfreundschaft der Nachbarn oder der unbekannten Bewohner von Paris, Rom, Wien, Prag?
Ist Europa, oder gar die ganze Welt,
eine Mixtur aus inkompatiblen Substanzen, so dass ein Mensch sich nie mit einem anderen Menschen so verbinden kann, dass er verschwände, wie eine Flüssigkeit sich in einer anderen auflöst, es sei denn in der Mutter, die das Kind im Bauch trägt.
Aber kann ein Mensch nicht einmal im Leben Lust haben einem Fremden die Tür zu öffnen?
Sind der Hass und der Überlebensinstinkt eine Angewohnheit oder eine exakte Spezialisierung, die Organismen (aus der Luft?) empfangen, wenn sie wachsen?
III, 20
Ich komme also, oder meine Stimme in meinem Namen, ich komme, sagte er, an den Ort von dem ich aufgebrochen bin:
Portugal, Lisboa, Rua Actor Isidoro, n° 31, erster Stock rechts.
Ein sympathisches Viertel,
mit einem Lebensmittelladen an jeder Ecke.
Inmitten der Stadt, laut, mit Autoabgasen, bist du praktisch auf dem Land, denn du hast Apfelsinen und Äpfel in deiner Straße.
III, 21
Abwesenheit von Industrie und bedeutenden Fabriken, das ist die Hygiene eines Landes wie dem unseren.
Und wenn es keine wesentlichen Schornsteine gibt, sorgt selbst der Rauch einer Zigarette für statistische Effekte.
Weder groß noch gewaltig, aber sympathisch ist es, dieses Land.
Zwei Seiten zeigen zum Land, zwei Seiten zum Meer.
Und so kommt die Sache fast ins Lot.

Auszug aus dem Manuskript:
Guia do português na Alemanha. Handbuch des Portugiesen in Deutschland.
Die deutsche Geisteshaltung. Hygiene und Sauberkeit. Benehmen in der Öffentlichkeit: Sie alle dürften bereits zu der Einsicht gelangt sein, dass die Geisteshaltung der Deutschen sich in fast allen Aspekten von der portugiesischen unterscheidet. Die deutsche Seinsweise ist in Wahrheit völlig anders – und auch ein wenig inkompatibel mit unserer Lebensart.
Ein Erste-Hilfe-Buch auf Portugiesisch, geschrieben von einem Portugiesen mit langjähriger Deutschlanderfahrung.
Joaquim Ferreira: "153/154 Die erklären das auf Portugiesisch, wie ist die deutsche Mentalität. Den Portugiesen wurde erklärt, wenn du nach Deutschland kommst, du kommst zwar zum Arbeiten, aber du musst aufpassen, wie ticken die Deutschen, ja? Also hier steht zum Beispiel, wenn du dich jetzt öffentlich darstellst auf der Straße oder im Cafe, oder egal wo du bist, du musst dich benehmen, normal benehmen, steht hier eigentlich. Du sollst nicht schreien, du sollst nicht so laut reden, du sollst nicht pfeifen, du sollst nicht singen, also nicht zu hoch, zu laut singen, dementsprechend musst du dich benehmen, du sollst so wenig wie möglich ges- gestu- äh gestikulieren, genau das Wort hab ich gesucht.
1966 kam sein Vater Carlos Ferreira nach Groß-Umstadt:
Clara Ferreira Pereira: "Als mein Mann hier ankam, gab es erst vier Portugiesen hier, und die wohnten hier nebenan, ein Stück die Straße hoch, da war ein Restaurant, das gibt’s heute noch. Er wohnte oben drüber, die vier Portugiesen zusammen. Die hatten eine Küche zusammen und jeder ein eigenes Zimmer."
Zuhause in Nordportugal hatte er einen Job gehabt. Und seine Frau arbeitete auch – als Schneiderin. Sie waren zufrieden, die beiden Söhne waren gut in der Schule – aber Anfang der 60er-Jahre gingen ein paar Nachbarn ins Ausland. Im Ort sprach sich herum: In Deutschland konnte man deutlich besser verdienen als in Portugal.
Clara Ferreira Pereira: "Es war so: Familie hat Familie gerufen. Mein Mann hat gesagt, er geht zuerst, du kommst nach. Kinder waren gut in der Schule, sind erstmal dort geblieben. Heute würde ich das mit zwei Kindern nie mehr machen. Kinder immer mit Mama.
Margit Reichwein: "Später weiß man es besser."
1967 reiste Clara ihrem Mann hinterher. Die beiden Jungs ließ sie bei den Großeltern.
Joaquim Ferreira: "Ich war in der ersten Klasse noch dort besucht."
Clara Ferreira Pereira: "... in Portugal.

Joaquim:
"Ja. Dann haben die Eltern gesagt, ihr kommt nach Deutschland, das war 1971, da hatten wir hier die Schwierigkeiten, ich hab hier die zweite Klasse besucht, konnte aber kein deutsch, und so als Portugiese in ner deutschen Klasse wars halt nicht einfach. Aber als Kind kannst du halt die Sprache schnell lernen. Bis 74 sind wir dann hiergeblieben, sind hier zur Schule gegangen, Auch damals hat man schon gewisse Jugendliche oder Kinder in der Klasse gehabt, weil du Portugiese warst und die Sprache nicht so gut konntest, dass du nicht so beliebt warst.
Und zum Teil verständlich, weil du konntest dich ja nicht gut verständigen. Und es war auch so, dass die Lehrerin auf mich oder uns, wir waren zwei Portugiesen und ein Spanier in der Klasse, ein bisschen Rücksicht nehmen musste, damit wir mitkommen. Deshalb war’s so damals: es war schön, Deutschland war ein Land, wo du alles hattest, du hast von den Eltern Schokolade, Autos und Spielzeug bekommen, aber auf der andern Seite hat schon die Heimat ein bisschen gefehlt, weil ich ja auch in Portugal geboren bin und meine Kindheit ja auch dort verbracht hatte, den ersten Teil meiner Kindheit. Und die Lehrerin die Frau Neff ...
Clara und Margit: "Ja!"
Clara Ferreira Pereira: "Jeden Tag geschimpft, weil verstehen kann nicht. Ich hab gesagt, Frau Neff, ich verstehen auch nicht. Ich kann ihm nicht helfen. Und sie: 'Jaaaa, aber ich kann nicht verstehen.' Ja! Aber was soll ich machen?"
Joaquim Ferreira: "Nach drei Jahren ..."
Clara Ferreira Pereira: "Und später: Oh wie schön, dein Kind!"
Nach drei Jahren in Deutschland war Joaquim Klassenbester.
Joaquim Ferreira: "Wenn wir Frau Neff heute begegnen, auf dem Marktplatz oder so, dann schwätzen wir noch."
Clara Ferreira Pereira: "Doch, lange hat sie uns noch gesprochen, hat gefragt, aber später, als es am besten ging in der Schule. Am Anfang nicht so."
Blog von José Leite zu diversen historischen Orten und Themen in Portugal mit vielen Fotos und Infos. Auf Portugiesisch
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