Eine Lange Nacht der norwegischen Literatur

Nicht nur Fjord und Fjell

Ein Schild der Frankfurter Buchmesse. Das Land Norwegen ist in diesem Jahr Ehrengast.
2019 ist Norwegen Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse. © dpa / Boris Roessler
12.10.2019
Sechs norwegische Autorinnen und Autoren stellen im Gespräch mit Hinrich Schmidt-Henkel ihre neuen Bücher vor. Musikalisch umrahmt wird die Veranstaltung von dem norwegischen Jazz-Duo Trygve Seim und Frode Haltli.
Norwegen ist ein Land großer Literatur, von Klassikern wie Henrik Ibsen und Knut Hamsun bis hin zu aktuellen Bestsellerautorinnen und -autoren wie Karl Ove Knausgård, Maja Lunde oder Jo Nesbø. Natürlich geht es viel um Fjord und Fjell, um die beeindruckende Landschaft und das Alltagsleben in einem Land, das binnen weniger Jahrzehnte von einer armen Agrargesellschaft zu einer der reichsten Nationen der Erde wurde.
Bei der Langen Nacht, die dem Gastland Norwegen auf der Frankfurter Buchmesse gewidmet ist, zeigt sich die enorme Bandbreite der Literatur dieses Landes, in dem 82 Prozent der Bevölkerung mindestens ein Buch pro Jahr kaufen. Für die rund fünf Millionen Einwohner gibt es 438 Verlagshäuser und 550 Buchhandlungen.
So mag Erik Fosnes Hansens Roman "Ein Hummerleben" in einem norwegischen Gebirgshotel spielen, doch zeigt er vor diesem Hintergrund typische gesellschaftliche Entwicklungen des 20. Jahrhunderts auf. Und Mona Høvring spricht in ihrem Buch "Alles, was helfen könnte" über eine kleine Familie, doch ihre Themen sind universell. Roy Jacobsens Insel-Saga hingegen spürt dem Leben und Fragen der Schuld und Kollaboration im Nachkriegs-Norwegen nach. Der Blick der norwegischen Autorinnen und Autoren ist ein sehr zeitgenössischer und internationaler - in der öffentlichen Langen Nacht im Kölner Theater Comedia.

Aufzeichnung vom 11.10.2019, Comedia Theater, Köln

Helga Flatland, Erik Fosnes Hansen, Mona Høvring, Roy Jacobsen, Kjersti Annesdatter Skomsvold und Carl Frode Tiller sind die sechs Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die mit ihren Büchern in der Sendung vorgestellt werden.

Die norwegische Musik zur norwegischen Literatur wurde gespielt vom Jazz-DuoTrygve Seim und Frode Haltli.

Kjersti A. Skomsvold

Die norwegische Schriftstellerin Kjersti Annesdatter Skomsvold
Die norwegische Schriftstellerin Kjersti Annesdatter Skomsvold© picture alliance / NTB scanpix / Trond Solberg

Kjersti A. Skomsvold: "Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone"
Übersetzung: Ursel Allenstein
Hoffmann und Campe 2019
128 Seiten, 20 Euro

Auszüge aus dem Buch:
Nachdem der Junge geboren war, stellte ich mir vor, mein Gehirn müsse ganz anders aussehen als vorher, es müsse seine Farbe und Form geändert haben.
Damals zermürbten mich die Nächte, ich glaube, es war nicht das Kind, das mich weckte, ich glaube, ich war unabhängig vom Kind wach, und das Kind wurde wach, um mir Gesellschaft zu leisten.
Ich schob den Wagen im Zickzack über den Friedhof und suchte nach Kindernamen, auf einem Grabstein sind die Namen lebendiger als auf einem Buchdeckel, es fällt leichter, die Menschen dahinter vor sich zu sehen, die Leben, die sie gelebt haben.
Ich hatte mir geschworen, dass es nie passieren dürfte, und nun war es doch passiert, und ich dachte, Bo und ich würden das Kind zerstören, als wir uns vor ihm stritten.
Ich überlegte, wie viele Umarmungen, wie viele Küsse es erfordern würde, ihn wieder zu reparieren, ob wir lange genug leben würden, um ihm und uns genug Liebe zu geben, um es wieder gutzumachen.
Vielleicht versuche ich mehr oder weniger unbewusst, in dieser neuen Familie die Wunden aus meiner ersten Familie zu flicken, der Kindheitsfamilie?

Carl Frode Tiller

Der norwegische Schriftsteller Carl Frode Tiller
Der norwegische Schriftsteller Carl Frode Tiller © picture-alliance/ dpa / Olivier Hoslet

Carl Frode Tiller: "Der Beginn"
Übersetzung: Ina Kronenberger und Nora Pröfrock
btb Verlag 2019
352 Seiten, 22 Euro

Auszüge aus dem Buch:
"Könntest du bitte ein paar Eier übrig lassen?" fragte Mama. Sie kam wieder in die Küche. Sie griff nach der Thermoskanne und schenkte Kaffee in den grünen Becher. "Ich habe vor, später Waffeln zu backen, wenn Reidar kommt", fügte sie hinzu. Ihre Stimme war auffallend freundlich, vermutlich wusste sie, dass nur noch zwei Eier in der Schachtel waren. Ich sagte nichts, ich stellte die Platte aus, klappte die Eierschachtel zu, nahm das Butterpäckchen und räumte beides wieder in den Kühlschrank.
"Back du nur deine Waffeln, Mama" sagte ich.
"Ich verstehe nicht, was du hast" sagte sie. "Wir sind einfach nur gute Freunde."
Ich verstand nicht sofort, was sie meinte, aber dann begriff ich. Ich fing an zu lachen, es klang aber nicht so echt, wie ich gewollt hatte.
"Sorry, aber ich bin nicht eifersüchtig, Mama", sagte ich.
Das war ihr wohl etwas zu direkt, jedenfalls starrte sie mich zornig an.
"Er ist verheiratet, Mama", sagte ich. "Er wird seine Frau nicht verlassen. Da kannst du warten, bist du schwarz wirst."
"Wir sind einfach nur gute Freunde!" schrie sie. Wir sind einfach nur gute Freunde! Darf ich denn nicht mal mehr Freunde haben?"

Roy Jacobsen

Der norwegische Schriftsteller Roy Jacobsen
Der norwegische Schriftsteller Roy Jacobsen© picture alliance / Photoshot

Roy Jacobsen: "Die Unsichtbaren"
Übersetzung: Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
C.H. Beck 2019
613 Seiten, 28 Euro

Hans Barøy ging in den Laden und kaufte ein, mehr als er sich leisten konnte, aber er hatte noch immer eine Art Namen und segelte in rosa Abendlicht über den Fjord, das einen Wetterumschwung, Ostwind und Frost ankündigte.
Er lud die Waren aus, zog das Boot ein, setzte sich auf die Türschwelle und nahm die Pfeife hervor und stellte fest, dass er die Finger der rechten Hand nicht ausstrecken konnte, als ob er noch immer das Ruder festhielte. Dort blieb er sitzen und rauchte und schaute nach Norden in das rosa Licht, das langsam blau wurde. Und dort wurde er von den anderen tot aufgefunden.
Er war so steif, dass er noch immer zu sitzen schien, als sie ihn hingelegt hatten. Sie konnten ihn nicht gerade biegen, und das konnten sie nicht ansehen, deshalb legten sie eine Decke über ihn, und wer es schaffte, das Boot wieder zu Wasser zu bringen und zurück zur Handelsstation zu fahren, um Bescheid zu sagen, das war Lars.

Helga Flatland

Die norwegische Schriftstellerin Helga Flatland
Die norwegische Schriftstellerin Helga Flatland© picture alliance / NTB scanpix / Mariam Butt

Helga Flatland: "Eine moderne Familie"
Übersetzung: Elke Ranzinger
Weidle Verlag 2019
308 Seiten, 25 Euro

Auszüge aus dem Buch:
"Lieber Papa", fange ich an, und Papas Augen werden sofort feucht.
"Als ich vor ein paar Wochen Hedda erzählte, dass wir deinen Geburtstag feiern würden, fragte sie mich, wie alt du wirst. Ich sagte, du würdest siebzig. 'Ist das weniger als hundert?' fragte sie. 'Ja', sagte ich. Sie dachte ein Weilchen nach und sagte dann ein bisschen enttäuscht: 'Dann ist er ja gar nicht alt.'" Papa lacht vergnügt.
Alle warten darauf, dass Mama an ihr Glas klopft, und keiner wagt es, das vor ihr zu tun.
Mama setzt mehrmals an. Schließlich dreht sie sich zu Papa um.
"Wir haben beschlossen, uns scheiden zu lassen", sagt er. "Ich habe ja ab und zu versucht, mit euch darüber zu sprechen".
"Nicht mit mir", widerspricht Håkon.
Soweit ich mich erinnern kann, auch nicht mit mir. Automatisch nehme ich Papas Hand und drücke sie, aber lasse sie jäh los, als ich Mamas Blick spüre und sehe, wie ihre Hand nervös und verlassen die Tischdecke glattstreicht.
Ellen lacht plötzlich los. Ihr Lachen hört sich aufrichtig an. "Auseinandergelebt? Zukunft? Mal im Ernst, ihr seid siebzig!"

Mona Høvring

Die norwegische Schriftstellerin Mona Høvring
Mona Hovring© picture alliance / NTB Scanpix / Terje Pedersen

Mona Høvring: "Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte"
Übersetzung: Ebba D. Drolshagen
Edition fünf 2019
136 Seiten, 19 Euro

Auszüge aus dem Buch:
Am Morgen beim Frühstück, sah ich es ganz klar, das mit Martha und mir. Und ohne die verblüffende Gelassenheit, die mir vielleicht die Zweig-Lektüre geschenkt hatte, wäre mir das nie gelungen. Da, in diesem Augenblick, gab ich die Verantwortung für Martha ab. Meine selbst auferlegte Verantwortung. Ich kündigte sozusagen den Pakt auf. Die unklare Verpflichtung. Wem war damit gedient? Martha nicht. Mir nicht. Mit anderen Worten – ich ließ sie los. Es war eine Entscheidung, die einfach in mir aufschien, unangemeldet und ermutigend. Von nun an, dachte ich, würde ich meine Umgebung mit anderen Augen sehen.
Normalerweise schwieg ich lieber. Meine Stimme wurde so schnell enthusiastisch, wenn sich die Zunge ereiferte, wie bei einem fiebernden Kind. Und sobald ich zu viel redete, sobald ich nicht aufpasste, verschwand die Bedeutung, die Erkenntnis versteckte sich sozusagen. Wenn ich nicht auf der Hut war, ließ mich die Urteilskraft im Stich, so dass ich zum liebenswürdigen Deppen wurde. Wann ich mir meiner auf diese Weise bewusst wurde, wann sich bei mir diese unerträgliche, hochtrabende Art zu denken eingenistet hat, weiß ich nicht mehr. Ich war eigentlich gern umgänglich, machte es anderen gern recht. Nein, servil war ich nie. Aber Mutter fiel auf, dass ich mich veränderte.
Was ist los mit dir?, fragte sie. Ella, was ist los mit dir?

Erik Fosnes Hansen

Romanautor Erik Fosnes Hansen
Erik Fosnes Hansen© imago stock&people

Erik Fosnes Hansen: "Ein Hummerleben"
Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel
Kiepenheuer & Witsch 2019
384 Seiten, 24 Euro

Auszüge aus dem Buch:
Sie waren gerade beim Kuchen angelangt, da sackte Bankdirektor Berge am Tisch zusammen und fing an zu sterben. Es wirkte nicht echt. Er fasste sich nicht an die Brust oder an den Hals, nur seine Augen wurden groß und kugelrund, es wirkte restlos unnatürlich, künstlich. Gerade hatte er nach einer kleinen Dankesrede für die Einladung wieder Platz genommen. Und jetzt wirkte es noch einen Augenblick lang so, als machte er weiterhin Scherze. Seine Frau begriff als erste, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Er sank im Sitzen langsam nach vorn, war aber zu dick, um mit dem Gesicht auf dem Tischtuch zu landen.
Einige sich unwirklich dehnende Sekunden lang saßen die übrigen Erwachsenen erstarrt um den Tisch herum, Frau Berge selbst schien einen Augenblick ganz still in der Luft zu stehen.
Jim und ich hatten neben der Küchentür an der Wand gestanden, bereit, den Tisch abzuräumen. Großvater wollte als erster aufspringen, schließlich war er der Gastgeber, doch er hatte kaum seinen Stuhl zurückgeschoben, da hatten wir uns schon auf Direktor Berg gestürzt.
"Komm, Sedd!", rief Jim, "ihm geht‘s nicht gut!"

Aus produktionstechnischen Gründen gibt es für diese Sendung kein Manuskript.