Eine Lange Nacht der "fernen Geliebten"

Traumhaft schön

Schriftzug "Liebe" in einer Hofanlage
Schriftzug "Liebe" in einer Hofanlage © deutschlandradio.de / Daniela Kurz
Von Egbert Hiller |
Die ferne Geliebte hat viele Gesichter. Sie ist traumhaft schön, aber nur ein Traum. Sie ist Wunsch- und Trugbild, manchmal auch aus Fleisch und Blut. Aus wirklichen Geliebten werden ferne Geliebte, aus Gründen, die so vielschichtig sind wie das Leben.
Die Lange Nacht der fernen Geliebten begibt sich auf die Suche nach ihr und ihren Geheimnissen. Finden oder gar festhalten können wir sie nicht, aber ihre Spuren verfolgen - durch Zeiten und Räume, quer durch die Kulturgeschichte.
Weit entrückt, in der Sphäre des Mythos wollte Orpheus das Unmögliche wirklich machen und seine Geliebte aus dem Totenreich zurückholen. Die Metamorphosen des Ovid und Claudio Monteverdis Oper ‚Orfeo‘ erzählen uns die herzergreifende Geschichte, wie dies am Ende doch misslingt.
Besonders fruchtbar im Hinblick auf die ferne Geliebte ist das Zeitalter der Romantik. Hier wurde sie zur Projektionsfläche verborgener Ängste und Hoffnungen. In Franz Schuberts "Winterreise" spiegelt sich dieses Moment auf höchst kunstvolle Weise wider. Aber auch im mittelalterlichen Minnesang, in moderner Literatur und im Film, etwa in Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" , in Haruki Murakamis "Gefährliche Geliebte" und Clint Eastwods Film "Die Brücken am Fluss" , war die ferne Geliebte präsent. In diesen und vielen weiteren Beispielen, von der Antike bis zur Gegenwart, taucht sie in der Langen Nacht der fernen Geliebten auf und entschwindet wieder. Immer steht am Ende die bittere wie inspirierende Erkenntnis: "Nun ist wahr, dass sie für immer geht."

Eine Reise durch den Kosmos der "fernen Geliebten" - in Schlaglichtern
Ovid, Metamorphosen, Zehntes Buch, Vers 23 bis 26
"Grund meiner Fahrt ist die Frau. Eine Schlange, die sie getreten,
Spritzte ihr Gift in das Blut und stahl ihr die Jahre der Blüte.
Tragen wollt’ ich’s und will nicht leugnen, dass ich’s versucht, doch
Siegte die Liebe."
Haruki Murakami: "Wie ich eines Morgens im April das 100%ige Mädchen sah"
"Wie ich eines Morgens im April das 100%ige Mädchen sah. Eines schönen Morgens im April komme ich auf einer kleinen Seitenstraße in Harajuku an dem 100%igen Mädchen vorbei. Ehrlich gesagt, ist sie nicht besonders hübsch. Sie ist weder besonders auffällig, noch ist sie schick gekleidet. Ihre Haare sind hinten vom Schlaf verlegen. Sie ist nicht mehr jung. So an die dreißig wird sie sein, nicht eigentlich ein Mädchen. Aber trotzdem weiß ich schon aus fünfzig Metern Entfernung: Sie ist für mich das 100%ige Mädchen. Bei ihrem Anblick dröhnt es in meiner Brust, und mein Mund ist trocken wie eine Wüste.
Auch Franz Schuberts Gedanken kreisten um die ferne Geliebte
... um unerfüllte Liebe, Einsamkeit und Entfremdung, die in den 24 Liedern der "Winterreise" aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden. Markant ausgeprägt ist das Spannungsverhältnis zwischen "Welt und Gegenwelt", zwischen Traum und Wirklichkeit, das sich im elften Lied, "Frühlingstraum", jäh zuspitzt. Grausames Erwachen reißt das lyrische Subjekt aus idyllischen Traumgefilden. Und dieser Stimmungsumschwung zeichnet sich in der Musik eindringlich ab. Nach diesen Einbrüchen der Realität, die selbst albtraumhafte Züge tragen, kann nichts mehr so sein wie vorher - das Traumbild von der Geliebten, von der "schönen Maid" und der mit ihr verbundenen Seligkeit, zerplatzt, die Illusion ist zerstört, die "heile Welt" unwiederbringlich verloren:
"Wann halt’ ich mein Liebchen im Arm?"
"Ich träumte von bunten Blumen,
So wie sie wohl blühen im Mai;
Ich träumte von grünen Wiesen,
Von lustigem Vogelgeschrei.
Und als die Hähne krähten,
Da ward mein Auge wach;
Da war es kalt und finster,
Es schrien die Raben vom Dach.
Doch an den Fensterscheiben,
Wer malte die Blätter da?
Ihr lacht wohl über den Träumer,
Der Blumen im Winter sah?
Ich träumte von Lieb’ um Liebe,
Von einer schönen Maid,
Von Herzen und von Küssen,
Von Wonn’ und Seligkeit.
Und als die Hähne krähten,
Da ward mein Herze wach;
Nun sitz’ ich hier alleine
Und denke dem Traume nach.
Die Augen schließ’ ich wieder,
Noch schlägt das Herz so warm.
Wann grünt ihr Blätter am Fenster?
Wann halt’ ich mein Liebchen im Arm?
Schuberts Musik weist über die Worte hinaus, und der Zwiespalt zwischen unmittelbarer emotionaler Ausdrucksintensität und kunstvoller Gestaltung macht den besonderen Reiz der "Winterreise" aus.
Bis heute ist Schubert aktuell geblieben.
Sein Liederzyklus regt auch andere Künstler immer wieder zu Reflexionen an, so den kürzlich verstorbenen Dichter Peter Härtling:
Schubert
Weil er zu vertraut war,
wird er nun fremd.
Seine Wanderer trafen
auf wenig Freundlichkeit,
immer verschlossen sich
die Häuser, die Nachbarn
waren aus Stein,
die Mädchen, deren Bild
er bewahrte, gehörten
andern, und
sein Winter endete nicht.
Er wusste, die Erde
kühlt aus. (Peter Härtling)
Fritz Wunderlich - Schubert - Der Müller und der Bach - Video bei YouTube
"Angst und Hoffen wechselnd mich beklemmen"
Von Franz Schubert zurück zum mittelalterlichen Minnesang scheint der Weg weit zu sein. Doch auch der Minnesang drehte sich mit seinen Mitteln um Traumbilder von der fernen Geliebten, denn mit der Lebenswirklichkeit hatte er nicht viel zu tun. Das Besingen der Geliebten war für die fahrenden Ritter ein Mittel, ihre Sehnsüchte zum Ausdruck zu bringen - Sehnsüchte, die sich im wirklichen Leben kaum noch erfüllen ließen. Durch die wachsende Zahl der Nachkommen auf einem Hof und einen gesellschaftlichen Wandel, der die Machtposition der mittelalterlichen Feudalherren schwächte, wurden immer mehr Ritter zu fahrenden Rittern ohne eigene Hofhaltung; und ohne eigenen Hof blieben viele Hoffnungen uneingelöst. Die idealisierte Geliebte entrückte in unerreichbare Ferne.
"Der Geliebte der Mutter"
In unerreichbare Ferne entrückte auch der Geliebte in Urs Widmers Roman "Der Geliebte der Mutter". Der Roman beginnt mit dem vermeintlich unweigerlichen Ende der "Love-Story", die eigentlich keine war und doch im Seelenleben so vieles auslöste und noch nach dem Tod des fernen Geliebten auszulösen vermag:
"Heute ist der Geliebte meiner Mutter gestorben. Er war steinalt, kerngesund noch im Tod. Er sank um, während er, sich über ein Stehpult beugend, eine Seite der Partitur der Sinfonie in g-Moll von Mozart umblätterte. Als man ihn fand, hielt er einen Notenfetzen in der toten Hand, jene Hornstöße zu Beginn des langsamen Satzes. Er hatte meiner Mutter einmal gesagt, die g-Moll-Sinfonie sei das schönste Stück Musik, das jemals komponiert worden sei ..."
"Angst und Hoffen wechselnd mich beklemmen,
meine Worte sich in Seufzern dehnen,
mich bedrängt so ungestümes Sehnen,
dass ich mich an Rast und Schlaf nicht kehre,
dass mein Lager Tränen schwemmen,
dass ich jede Freude von mir wehre
dass ich keines Freundes Trost begehre."
"Das Buch der hängenden Gärten"
Ein extremes Wechselbad der Gefühle schildert Arnold Schönberg in seinem Liederzyklus "Das Buch der hängenden Gärten" auf Gedichte von Stefan George. Eine Handlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht, doch so sehr sich das lyrische Subjekt in der exotischen Traumwelt dieser Gedichte auch nach der Angebeteten verzehrt, sie bleibt eine "ferne Geliebte".
Eine ferne Geliebte kann auch zur "gefährlichen Geliebten" werden, und das zeigt sich in der Literatur in vielen Variationen - gefährlich nicht nur, weil die Verzweiflung über den Verlust der Geliebten wie in "Romeo und Julia" in den Selbstmord treiben kann, sondern auch, weil das Leben schlichtweg aus den Fugen gerät. Als geheimnisvoll und undurchschaubar stilisiert sich etwa die "Gefährliche Geliebte", die Haruki Murakami in seinem gleichnamigen Roman beschreibt:
"Kein eine Zeitlang mehr"
"Ohne sie wirkte das Haus leer und erstickend. Grobkörniger Staub hing in der Luft, der mir bei jedem Atemzug in der Kehle hängenblieb. Die Schallplatte fiel mir ein, die alte Nat-King-Cole-Platte, die sie mir geschenkt hatte. Aber sosehr ich auch danach suchte, sie war nicht zu finden. Sie musste sie mitgenommen haben. Wieder einmal war Shimamoto aus meinem Leben verschwunden. Diesmal jedoch, ohne irgendetwas zurückzulassen, woran ich meine Hoffnungen hätte hängen können. Kein Wahrscheinlich diesmal. Kein eine Zeitlang mehr."
"Kein eine Zeitlang mehr" lässt auch Francesca Johnson ihrem Geliebten in Clint Eastwoods Film "Die Brücken am Fluss" - obwohl Francescas Ehemann von ihrer kurzen Beziehung mit dem Fotografen Robert Kincaid gar nichts ahnt oder weiß. Francesca und Robert kommen sich in der kurzen Zeit, die sie miteinander verbringen, sehr nahe, entfernen sich dann aber für immer voneinander. Sie entscheidet sich, bei ihrer Familie zu bleiben, obwohl ihr bewusst ist, damit auf die große Liebe ihres Lebens zu verzichten.
"Kein eine Zeitlang mehr" galt in ganz anderem Sinne auch für den Komponisten Viktor UIlmann. Die Nationalsozialisten hatten Europa mit Gewaltherrschaft und Krieg überzogen. Viele Menschen kamen um, viele flohen, Familien wurden auseinander gerissen, aus Geliebten wurden "ferne Geliebte". 1942 verschleppten die Nationalsozialisten Ullmann ins Konzentrationslager Theresienstadt. Kurz vor seiner Deportation nach Auschwitz am 16. Oktober 1944, wo er zwei Tage später ermordet wurde, schrieb er seine letzte Klaviersonate. Das düstere Adagio daraus gemahnt mit Anklängen an "Isoldes Liebestod" aus Richard Wagners Oper "Tristan und Isolde" auch an eine traumhaft schöne imaginäre Geliebte, die wie eine Vision aus der Ferne hinüberwinkt.
Literatur:
Haruki Murakami: Wie ich eines Morgens im April das 100%ige Mädchen sah. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1998
Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 2, Kapitel VIII; ab S. 88; Zur Soziogenese des Minnesangs und der Courtoisen Umgangsformen. Suhrkamp-Verlag, 1976
Wolfgang Herrndorf, Tschik. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2012
Wolfgang Herrndorf, Bilder deiner großen Liebe Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2014
Urs Widmer, Der Geliebte der Mutter. Diogenes-Verlag, 2000
Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werthers. Weygand-Verlag, 1774
Dieter Kühn, Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg. Insel-Verlag, 1991
Haruki Murakami, Gefährliche Geliebte. DumontVerlag, 2002
(Nicht nur) Für Murakami-Fans ebenfalls zu empfehlen: IQ84, DuMont-Verlag 2011 - ein Roman mit Liebesgeschichte und Thriller-Qualitäten
Musiktipp:
Led Zeppelin: Babe I'm Gonna Leave You - Video bei YouTube
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