Eine kulturhistorische Geschichte medizinischer Menschenexperimente
Die Medizinhistorikerin und Kulturwissenschaftlerin Anna Bergmann geht in ihrem Buch "Der entseelte Patient - Die moderne Medizin und der Tod" der Geschichte der medizinischen Forschung am Menschen nach. Sie schlägt einen Bogen vom Massensterben durch die Pest bis hin zur modernen Apparatemedizin.
Es ist ein zweifelhaftes Vergnügen Patient eines modernen, sprich effizient arbeitenden Krankenhauses zu sein. Meist hängt den Ärzten die Zeitnot wie ein zweites Stethoskop um den Hals, zudem sind viele von ihnen von Geburt an auch noch erklärungsbehindert. Das Gefühl vieler Patienten in solchen "Heilhöllen" ist darum ganz eindeutig: hier bin ich die Lunge, Leber, Herz, Magen, was auch immer, auf jeden Fall kein ganzer Mensch.
Diese Situation ist der Hintergrund des Buches "Der entseelte Patient", das im vergangenen Jahr im Berliner Aufbau-Verlag erschienen ist. Die Autorin: Anna Bergmann, ist Medizinhistorikerin und Kulturwissenschaftlerin.
Bergmann: Das ist eben das Grundproblem in der Geschichte der Medizin überhaupt gewesen, seit ihrer Begründung, dass sie den Zugriff erstmal nur auf den Körper versucht hat (….) ohne die Seele eines Menschen mit in Beziehung zur Medizin zu setzen. Von daher ist der Erkenntnisstil der modernen Medizin von vornherein darauf fokussiert, nur den Körper zu sehen. Und daraus legitimiert sich auch schon sein Zugriff.
Einfach ist die Lektüre von Anna Bergmanns hochinteressantem Buch nicht. "Der entseelte Patient" ist kein Bestseller a la "Mein Rückenbuch" von Prof. Grönemeyer, wobei man sowieso bei dem oft denkt, vielleicht singt der ja auch, und wenn: wie? Bei Frau Bergmanns "entseeltem Patienten" wird in drei Teilen auf 320 Seiten, dazu kommen noch etwa 130 Seiten Anhang, die Methodik der Medizin aufgezeigt, wie sie Erkenntnisse gewann von Pestzeiten bis zur Transplantationsmedizin. Das ist manchmal etwas mühsam, zumal man sich anfangs erst durch beinahe 80 Seiten Pestmassensterben vom 14. bis 20. Jahrhundert durcharbeiten muss.
Bergmann: Also die moderne Medizin hat sich über das Ritual des anatomischen Theaters begründet, wo zum ersten Mal Leichen seziert werden aus Erkenntnisgründen. (…) Das anatomische Theater ist ab dem 14. Jahrhundert nachgewiesen in ganz Europa, als gesellschaftliches Spektakel, wo Gelehrtenmediziner Könige, Fürsten einladen, aber auch die Kirche ist immer präsent in den ersten Rängen, und wo Hingerichtete seziert werden. Also das ist die Begründungsstätte der modernen Medizin. (…)
Jene anatomischen Theater, heißt es, waren vergleichbar mit Bühnenshows heute. So skurril das auch anmuten mag, ohne diese Theater keine Anatomie, und ohne Anatomie keine vernünftige Medizin. Es ist spannend, diese Dinge zu erfahren, ebenso wie, dass die Medizinforschung immer Tote brauchte, also Hingerichtete, um weiterzukommen. Denn nur Hingerichtete waren kirchlicherweise auch nach ihrem Tod rechtlos. Ebenso spannend sind aber auch solche Hintergründe, wie aus den Pest-Quarantänen erst Gefängnisse, dann Ghettos und später KZs wurden, die natürlich ein ungeheures Bio-Reservoir für Menschenforschungen darstellten. Doch das Buch ist weit mehr als nur eine historische Betrachtung.
Bergmann: Es ist nicht nur an der Lobby eine Kritik, sondern an der methodischen Vorgehensweise.
Wie gesagt, einfach ist die Lektüre dieses Buches nicht. Das liegt am Sprachduktus vieler Sätze, die abstrahiert, verschachtelt und oft ein wenig verklausoliert wirken. Wenn man sich zum Beispiel das Wort: Verdinglichung - also des Patienten in diesem Fall - auf der Zunge zergehen lässt, dann hat man für einige Zeit Kaugenuss. Und doch ist das Buch Sprengstoff. Denn an anderer Stelle zünden Behauptungen wie, dass der Arzt gegenüber dem Patienten, an dem geforscht wird, keinerlei Gefühle hat, und das diese Gefühlslosigkeit als seriös gilt, spätere Implosionen in einem. Doch damit nicht genug, geht es um noch mehr. Auf die Alternative zu dieser Art Medizin gefragt, antwortet die Autorin, dass wir uns in einer medizinischen Kultur befinden …
Bergmann: …, die sich sehr stark auf das Fragmentieren, auf die Chirurgie, kapriziert hat. Die Chirurgie basiert ja letztendlich einmal im Prinzip auf einer sehr invasiven Methode zu heilen. Also das heißt, durch das Skalpell. (…) Und entsprechend versuchen sie dann auch Heilmethoden zu finden, die auf einer völligen Fragmentierung und Mechanisierung des Menschen hinauslaufen. Und das funktioniert eben häufig nicht.
Am Ende des Buches meint die Autorin, dass wir an einen Punkt gelandet sind, wo Gelder dafür verwendet werden sollten, Menschen wieder in ihrer Ganzheit, und nicht in Fragmenten wie Lunge, Leber, Darm etc. zu erforschen. Das ist natürlich ein frommer Wunsch. Und wer einmal eine "Heilhölle" überlebt hat - und böse Zungen meinen, nur die Gesunden schaffen das - der wird ihr zustimmen. Fazit ist; ein gutes Buch, lesenswert und für den geschrieben, der willig ist, einen Satz zwei- oder gar dreimal zu lesen. Wer das tut, wird belohnt.
Anna Bergmann:
Der entseelte Patient
Die moderne Medizin und der Tod
Aufbau Verlag, Berlin 2004, 455 Seiten
24,90 Euro
Diese Situation ist der Hintergrund des Buches "Der entseelte Patient", das im vergangenen Jahr im Berliner Aufbau-Verlag erschienen ist. Die Autorin: Anna Bergmann, ist Medizinhistorikerin und Kulturwissenschaftlerin.
Bergmann: Das ist eben das Grundproblem in der Geschichte der Medizin überhaupt gewesen, seit ihrer Begründung, dass sie den Zugriff erstmal nur auf den Körper versucht hat (….) ohne die Seele eines Menschen mit in Beziehung zur Medizin zu setzen. Von daher ist der Erkenntnisstil der modernen Medizin von vornherein darauf fokussiert, nur den Körper zu sehen. Und daraus legitimiert sich auch schon sein Zugriff.
Einfach ist die Lektüre von Anna Bergmanns hochinteressantem Buch nicht. "Der entseelte Patient" ist kein Bestseller a la "Mein Rückenbuch" von Prof. Grönemeyer, wobei man sowieso bei dem oft denkt, vielleicht singt der ja auch, und wenn: wie? Bei Frau Bergmanns "entseeltem Patienten" wird in drei Teilen auf 320 Seiten, dazu kommen noch etwa 130 Seiten Anhang, die Methodik der Medizin aufgezeigt, wie sie Erkenntnisse gewann von Pestzeiten bis zur Transplantationsmedizin. Das ist manchmal etwas mühsam, zumal man sich anfangs erst durch beinahe 80 Seiten Pestmassensterben vom 14. bis 20. Jahrhundert durcharbeiten muss.
Bergmann: Also die moderne Medizin hat sich über das Ritual des anatomischen Theaters begründet, wo zum ersten Mal Leichen seziert werden aus Erkenntnisgründen. (…) Das anatomische Theater ist ab dem 14. Jahrhundert nachgewiesen in ganz Europa, als gesellschaftliches Spektakel, wo Gelehrtenmediziner Könige, Fürsten einladen, aber auch die Kirche ist immer präsent in den ersten Rängen, und wo Hingerichtete seziert werden. Also das ist die Begründungsstätte der modernen Medizin. (…)
Jene anatomischen Theater, heißt es, waren vergleichbar mit Bühnenshows heute. So skurril das auch anmuten mag, ohne diese Theater keine Anatomie, und ohne Anatomie keine vernünftige Medizin. Es ist spannend, diese Dinge zu erfahren, ebenso wie, dass die Medizinforschung immer Tote brauchte, also Hingerichtete, um weiterzukommen. Denn nur Hingerichtete waren kirchlicherweise auch nach ihrem Tod rechtlos. Ebenso spannend sind aber auch solche Hintergründe, wie aus den Pest-Quarantänen erst Gefängnisse, dann Ghettos und später KZs wurden, die natürlich ein ungeheures Bio-Reservoir für Menschenforschungen darstellten. Doch das Buch ist weit mehr als nur eine historische Betrachtung.
Bergmann: Es ist nicht nur an der Lobby eine Kritik, sondern an der methodischen Vorgehensweise.
Wie gesagt, einfach ist die Lektüre dieses Buches nicht. Das liegt am Sprachduktus vieler Sätze, die abstrahiert, verschachtelt und oft ein wenig verklausoliert wirken. Wenn man sich zum Beispiel das Wort: Verdinglichung - also des Patienten in diesem Fall - auf der Zunge zergehen lässt, dann hat man für einige Zeit Kaugenuss. Und doch ist das Buch Sprengstoff. Denn an anderer Stelle zünden Behauptungen wie, dass der Arzt gegenüber dem Patienten, an dem geforscht wird, keinerlei Gefühle hat, und das diese Gefühlslosigkeit als seriös gilt, spätere Implosionen in einem. Doch damit nicht genug, geht es um noch mehr. Auf die Alternative zu dieser Art Medizin gefragt, antwortet die Autorin, dass wir uns in einer medizinischen Kultur befinden …
Bergmann: …, die sich sehr stark auf das Fragmentieren, auf die Chirurgie, kapriziert hat. Die Chirurgie basiert ja letztendlich einmal im Prinzip auf einer sehr invasiven Methode zu heilen. Also das heißt, durch das Skalpell. (…) Und entsprechend versuchen sie dann auch Heilmethoden zu finden, die auf einer völligen Fragmentierung und Mechanisierung des Menschen hinauslaufen. Und das funktioniert eben häufig nicht.
Am Ende des Buches meint die Autorin, dass wir an einen Punkt gelandet sind, wo Gelder dafür verwendet werden sollten, Menschen wieder in ihrer Ganzheit, und nicht in Fragmenten wie Lunge, Leber, Darm etc. zu erforschen. Das ist natürlich ein frommer Wunsch. Und wer einmal eine "Heilhölle" überlebt hat - und böse Zungen meinen, nur die Gesunden schaffen das - der wird ihr zustimmen. Fazit ist; ein gutes Buch, lesenswert und für den geschrieben, der willig ist, einen Satz zwei- oder gar dreimal zu lesen. Wer das tut, wird belohnt.
Anna Bergmann:
Der entseelte Patient
Die moderne Medizin und der Tod
Aufbau Verlag, Berlin 2004, 455 Seiten
24,90 Euro