Eine Jugend unter Adenauer
Egon Gramer hat einen Adoleszenz-Roman geschrieben, der die bekannten Motive - Eltern, Schule, sexuelle Verklemmung - aufgreift und aus ihnen eine Szenerie eigentümlicher Episoden entwickelt. Damit wirft Gramers Buch ein prägnantes, ungewöhnliches Licht auf die Adenauer- und Wunder-von-Bern-Jahre.
Zweite Romane zu schreiben ist oft schwieriger, als erste Romane zu schreiben. Finden Erstlinge dann auch noch besondere Beachtung, ist die Gefahr des Absturzes groß. Der 70-jährige Tübinger Egon Gramer hat diese Klippen traumhaft sicher umschifft: Sein zweiter Roman "Zwischen den Schreien" darf es mit seinem Vorgänger "Gezeichnet: Franz Klett" aufnehmen und steht da als erfreulich sperriger Felsen in der oft einförmig wirkenden Literaturlandschaft.
"Zwischen den Schreien" spielt zum Teil wieder in jenem württembergischen Dorf des Erstlings und verbeugt sich – eine charmante Vernetzung – kurz vor jenem Franz Klett, den wir bereits kennen. Georg Schramm, der Protagonist, wächst dort in den 1940er Jahren auf und kehrt auch später regelmäßig in sein Heimatdorf zurück, als er aufs klösterliche Internat in eine alte Reichs- und Römerstadt geschickt wird.
Der Roman setzt 1942 ein, mit den markerschütternden Klageschreien der Großmutter, die gerade erfahren hat, dass ihr Sohn Joseph im Krieg fiel und irgendwo auf einem nordfranzösischen Friedhof begraben wurde. Ihr zweiter Sohn Matthias, Georgs Vater, überlebt die Ostfront und kommt in sein Dorf zurück.
Angst, Krieg und Tod prägen die Gedankenwelt des Volksschülers Georg. Nachfragen bleiben meist unbeantwortet; über den Krieg und sein mögliches Ende will die Mutter nicht räsonieren. "Jeden Tag seine Arbeit machen, jeden Tag beten", lautet ihr Motto, und dagegen ist kaum anzukommen. Die Opfer des Krieges werden so in der kindlichen Perspektive zu einer unheimlichen Attraktion; im Dorf werden "Gefallenenbildchen" verteilt und unter den Schülern eifrig getauscht, ganz so, als seien es Fotografien berühmter Sportler oder Schauspieler.
Georg ist kein Quertreiber; er lernt gut und wird für höhere Schulweihen vorgeschlagen, für jenes zwei Bahnstunden entfernte Internat. "Zwischen den Schreien" ist so in weiten Passagen ein klassischer Schul- und Internatsroman, und dennoch gelingt es dem Autor, diesem Genre überraschende Seiten abzugewinnen und vertraute Motive neu zu gestalten.
Natürlich treffen wir auf skurrile Pädagogen aller Art, und natürlich herrscht im Konvikt allenthalben die stickige Atmosphäre von unbefragter Autorität, sexueller Verklemmung und religiöser Unterweisung, mit deren Wahrheitsgehalt die Heranwachsenden zu kämpfen haben.
Vor dieser Folie, die man zu kennen meint, entfaltet Egon Gramer freilich eine Szenerie voller eigentümlicher Episoden, die ein ganz prägnantes, ungewöhnliches Licht auf jene Zeit, die Adenauer- und Wunder-von-Bern-Jahre, werfen. Wir sehen Nazis, die "wie ein umgedrehter Handschuh" ihre Überzeugung wechseln; wir hören den Wanderpater Leppich, der Volksreden hält und vor "Atombusen" warnt – Momentaufnahmen, wahrgenommen aus der Perpektive von Gramers Alter Ego Georg, der nicht zum Außenseiter taugt, nicht zum aggressiven Widersacher seiner konservativen Erzieher, die so gern vom Krieg erzählen und ihre "Angebergeschichten von Verlierern" ausbreiten.
Neue Erfahrungen – Swing, Jazz, Rock 'n' Roll und James Deans Film "Denn sie wissen nicht, was sie tun" – sind es schließlich, die Georg zeigen, dass die Welt vielleicht nicht an den Grenzen Württembergs endet. "Zwischen den Schreien" ist so der anrührende Roman einer Adoleszenz, die sich in der Erinnerung aus zahllosen "Leucht- und Dunkelpunkten" zusammenfügt. Und der Tod – am Ende stirbt Georgs Vater, 44-jährig, an einem Magenleiden, das ihm der Krieg eingebrockt hat – ist es, der diesen Roman zusammenhält.
Rezensiert von Rainer Moritz
Egon Gramer: Zwischen den Schreien
Piper Verlag, München 2007
293 Seiten. 19,90 Euro
"Zwischen den Schreien" spielt zum Teil wieder in jenem württembergischen Dorf des Erstlings und verbeugt sich – eine charmante Vernetzung – kurz vor jenem Franz Klett, den wir bereits kennen. Georg Schramm, der Protagonist, wächst dort in den 1940er Jahren auf und kehrt auch später regelmäßig in sein Heimatdorf zurück, als er aufs klösterliche Internat in eine alte Reichs- und Römerstadt geschickt wird.
Der Roman setzt 1942 ein, mit den markerschütternden Klageschreien der Großmutter, die gerade erfahren hat, dass ihr Sohn Joseph im Krieg fiel und irgendwo auf einem nordfranzösischen Friedhof begraben wurde. Ihr zweiter Sohn Matthias, Georgs Vater, überlebt die Ostfront und kommt in sein Dorf zurück.
Angst, Krieg und Tod prägen die Gedankenwelt des Volksschülers Georg. Nachfragen bleiben meist unbeantwortet; über den Krieg und sein mögliches Ende will die Mutter nicht räsonieren. "Jeden Tag seine Arbeit machen, jeden Tag beten", lautet ihr Motto, und dagegen ist kaum anzukommen. Die Opfer des Krieges werden so in der kindlichen Perspektive zu einer unheimlichen Attraktion; im Dorf werden "Gefallenenbildchen" verteilt und unter den Schülern eifrig getauscht, ganz so, als seien es Fotografien berühmter Sportler oder Schauspieler.
Georg ist kein Quertreiber; er lernt gut und wird für höhere Schulweihen vorgeschlagen, für jenes zwei Bahnstunden entfernte Internat. "Zwischen den Schreien" ist so in weiten Passagen ein klassischer Schul- und Internatsroman, und dennoch gelingt es dem Autor, diesem Genre überraschende Seiten abzugewinnen und vertraute Motive neu zu gestalten.
Natürlich treffen wir auf skurrile Pädagogen aller Art, und natürlich herrscht im Konvikt allenthalben die stickige Atmosphäre von unbefragter Autorität, sexueller Verklemmung und religiöser Unterweisung, mit deren Wahrheitsgehalt die Heranwachsenden zu kämpfen haben.
Vor dieser Folie, die man zu kennen meint, entfaltet Egon Gramer freilich eine Szenerie voller eigentümlicher Episoden, die ein ganz prägnantes, ungewöhnliches Licht auf jene Zeit, die Adenauer- und Wunder-von-Bern-Jahre, werfen. Wir sehen Nazis, die "wie ein umgedrehter Handschuh" ihre Überzeugung wechseln; wir hören den Wanderpater Leppich, der Volksreden hält und vor "Atombusen" warnt – Momentaufnahmen, wahrgenommen aus der Perpektive von Gramers Alter Ego Georg, der nicht zum Außenseiter taugt, nicht zum aggressiven Widersacher seiner konservativen Erzieher, die so gern vom Krieg erzählen und ihre "Angebergeschichten von Verlierern" ausbreiten.
Neue Erfahrungen – Swing, Jazz, Rock 'n' Roll und James Deans Film "Denn sie wissen nicht, was sie tun" – sind es schließlich, die Georg zeigen, dass die Welt vielleicht nicht an den Grenzen Württembergs endet. "Zwischen den Schreien" ist so der anrührende Roman einer Adoleszenz, die sich in der Erinnerung aus zahllosen "Leucht- und Dunkelpunkten" zusammenfügt. Und der Tod – am Ende stirbt Georgs Vater, 44-jährig, an einem Magenleiden, das ihm der Krieg eingebrockt hat – ist es, der diesen Roman zusammenhält.
Rezensiert von Rainer Moritz
Egon Gramer: Zwischen den Schreien
Piper Verlag, München 2007
293 Seiten. 19,90 Euro