Eine Jugend am Ende der DDR

Wo wir zu Hause waren

Mitglieder des DDR-Jugendverbandes Freie Deutsche Jugend (FDJ) gratulieren am 6. Oktober1989 mit einem Fackelzug zwischen Brandenburger Tor und Marx-Engels-Platz in Berlin der deutschen Demokratischen Republik zum 40. Jahrestag ihrer Gründung.
Die Wende ist nah: Am 6. Oktober 1989 ziehen FDJ-Mitglieder anlässlich des 40-jährigen Bestehens der DDR durch Berlin. © B2566_ADN
Von Lotta Wieden · 03.10.2018
Als einen "Überforderungsschock" schildert Sonja Mertin die Wendejahre. Damals 14 Jahre alt, gehört sie der Generation an, die das Ende der DDR mitten in der Pubertät erlebte. Statt gegen alte Gewissheiten zu rebellieren, sah sie sich mit dem Zusammenbruch dieser Gewissheiten konfrontiert.
Sonja Mertin: "Ich war eher so überrannt und überrumpelt, weil ich auch nicht so kritisch… Ich hatte nie kritisch auf die DDR geguckt, weil: Ich war da immer irgendwie zu Hause. Das war mein Zuhause, die DDR."
Tanja Bürgel: "Für diese jungen Leute ist wie von Geisterhand eine rosarote Kindheitswelt getilgt worden und sie fragen: Was war da? Und was ist mit unseren positiven Erinnerungen? Haben wir geträumt damals?
Sonja Mertin: "Ja, ich war damals beinah 15, also kurz vor dem 15. Geburtstag. Ich glaube, ich hab mich noch ziemlich unreif gefühlt."
Sonja Mertin, 36 Jahre alt, geboren in Erfurt, weiß nicht recht, wo anfangen. Sie will über ihr früheres Leben sprechen. Eine große Frau mit langen dunklen Haaren, braunen Augen. Wangengrübchen. Sie will von dem Land erzählen, in dem sie einmal lebte. Und von 1989, dem Jahr, in dem ihre Kindheit endete. Nichts, sagt Sonja Mertin noch heute – 21 Jahre nach dem Fall der Mauer – habe sie so sehr erschüttert wie der Zusammenbruch der DDR. Obwohl sie damals erst 14 Jahre alt war. [Hinweis: Das Feature wurde 2010 erstgesendet.]
Sonja Mertin: "Ich bin gerade in die achte Klasse gekommen, im September 1989. Und da war irgendwie einiges ganz anders. Das hatte man schon so über die Presse mitgekriegt, so ein Durcheinander und so eine wilde Stimmung."
Sonja Mertin sucht nach den richtigen Worten. Ihr halbes Leben lang hat sie nichts wissen wollen von ihrer DDR-Vergangenheit. Was sollte daran schon interessant sein. Wir waren ja noch halbe Kinder damals, sagt sie. Erst mit 30 Jahren, nach einem psychischen Zusammenbruch, begann sich Sonja mit ihrer Geschichte zu beschäftigen. Wann genau hatte sie angefangen, sich fremd zu fühlen im eigenen Land?
Sonja Mertin: "Und für mich konkret war das damals erlebbar, dass eine Lehrerin und eine Mitschülerin von mir irgendwie im Westen waren. So, die waren weg! Und da gab es halt diese klassischen Aula-Gespräche noch, von wegen Verräterin im September noch. Das war unsere Klassenlehrerin gewesen, die da weg war über die Grenze. Und das hab ich noch ganz direkt erlebt, dieses Ideologische: Die Verräterin hat uns verlassen und von euren Mitschülern ist auch eine weggegangen!
Und danach hat sich das dann immer mehr aufgelöst, dieses übliche Reden, dass plötzlich nicht mehr die Pionierleiterin sagen konnte: Das ist ein Verräter! So erinnere ich mich halt an diese Zeit. Dass das alles sehr undurchschaubar war."

"Wir sind insgesamt ein traumatisiertes Volk"

Michael Froese: "Wir sind insgesamt ein traumatisiertes Volk, durch den Krieg, durch die deutsche Teilung und in vielen Familien spielt das eine Rolle. Der Unterschied besteht darin, dass wir seit einigen Jahren eben auch öffentlich über diese Dinge reden."
Michael Froese, Sozialpsychologe, Psychoanalytiker, Herausgeber einer Essaysammlung mit dem Titel: "Traumatisierungen in Ost-Deutschland". Seit Jahren beschäftigt er sich mit den psychohistorischen Folgen von Mauerfall und Wiedervereinigung.
Michael Froese: "Der Trauma-Begriff ist erst mal ein etwas reißerischer Begriff, den man noch weiter differenzieren muss: Also, ich denke, dass vieles, was leicht als Trauma benannt wird, viel eher ein Verlusterleben ist. Dass Dinge verlorengegangen sind, was betrauert werden muss, und wogegen man sich häufig wehrt, weil Trauern weh tut."
Sonja Mertin: "Und ich hab halt die Wende für mich persönlich so als Bruch erlebt."
Heute weiß Sonja Mertin: Nicht nur ihr hat die Zeit nach 1989 zu schaffen gemacht. Wissenschaftler haben herausgefunden: Viele der damals erst 14-Jährigen blicken bis heute ratlos auf die Wendejahre zurück. Tanja Bürgel, Historikerin an der Friedrich Schiller Universität Jena:
Tanja Bürgel: "Man darf nicht verkennen, dass die frühen Erinnerungen an die DDR bei den Jüngeren weitgehend durchgängig positiv sind. Die erinnern sich also an ein überschaubares, mit viel Zeit, Liebe und Ruhe ausgestattetes soziales Feld, in dem sie Kindergärten besuchten, ihr erstes Halstuch umgebunden bekamen, das alles leuchtet in rosarotem Licht."
Seit 2001 beschäftigt sich Tanja Bürgel mit den gesellschaftlichen Folgen von Mauerfall und Wendechaos. Ihr besonderes Interesse gilt den letzten Jugendlichen der DDR. Wie haben die ostdeutschen Teenager das Jahr 1989 und seine Folgen erlebt? Wie beurteilen sie die gesellschaftlichen Veränderungen heute?

Gesichertes gerieten in einen "krisenhaften Strudel"

Mehr als hundert Interviews hat Bürgel geführt. Das Ergebnis: Die größten Probleme mit der Wende hatten diejenigen, die am wenigsten von den Repressalien der DDR mitbekommen haben – die Jüngeren, die damals zwischen zwölf und 14 Jahre alt waren.
Tanja Bürgel: "Das hängt damit zusammen, dass danach – also nach 1989 - für diese Kinder damals kein Stein mehr auf dem anderen blieb. Und sozusagen auch Orientierungsfiguren, die Lehrer und Eltern darstellten, all diese gesicherte Felsen in ihrer Welt, in der sie sich orientierten und an die sie sich halten konnten, gerieten in einen krisenhaften Strudel, also bis hin zu psychischen Erkrankungen – so was haben wir in unserem Material: Väter, die plötzlich zusammenbrachen und in der Psychiatrie verschwanden, dass heißt, ein ganzes System von Gewissheiten und Autoritäten brach zusammen."
Michael Froese: "In der Pubertät geht es natürlich – aus einer psychoanalytischen Sicht gesehen – um die Auseinandersetzung mit den Autoritäten. Also, man will eigentlich kämpfen, man will sich selber spüren, man will sich abnabeln, man beginnt eigene Identifikationen zu finden, die eigene Bezugsgruppe. Und die soll sich unterscheiden von der alten Autoritäten, also vielleicht der Eltern oder Lehrer: Wenn die aber in dieser Zeit als Gegenüber nicht mehr zur Verfügung stehen, weil sie selber in die Knie gehen und man sich um sie kümmern muss, und wenn die jungen Leute, die eigentlich kämpfen wollen zu Helfern der Eltern oder der Lehrer werden, dann ist das natürlich eine fatale Irritation.
Wir nennen diesen Vorgang der in gerade in solchen Konstellationen gerne entsteht, den der Parentifizierung. Das heißt, die Eltern werden durch die Kinder beeltert. Und geraten in Kindposition, weil sie selber hilfsbedürftig werden oder irritiert sind oder schwach werden. Und das hinterlässt in der psychischen Struktur natürlich merkwürdige Spuren, und die ganze gesunde Aggressivität, um die es geht, die ein strukturierende Wirkung hat, für die Entwicklung des Einzelnen, die kann sich nicht entfalten, die bleibt hängen."

"Warum lässt mich dieses blöde Wendethema nicht los?"

September 1989: Die großen Sommerferien sind vorüber, die Schule beginnt. Sonja Mertin geht als Klassenbeste ins neue Schuljahr. Sie ist beliebt bei ihren Mitschülern. Gerade wurde sie zum ersten Mal in die FDJ-Leitung gewählt. Gute Schüler sollen Vorbild sein.
Sonja Mertin: "Ja, doch, ich kann es jetzt wirklich an dem Russisch festmachen. Also, ich war in so einer Russischklasse gewesen, dass ich von der dritten Klasse an Russisch gelernt hatte. Das waren ja die mit den besseren Leistungen, die in der zweiten Klasse schon ausgewählt wurden für diese R-Klassen, die Russischförderklasse. Und ich hab gerne Russisch gelernt, richtig gern. Ich war da ziemlich gut. Das hat mir Spaß gemacht, und plötzlich mit der Wende war das zum Beispiel auch selbstverständlich, dass Russisch Scheiße ist. Also, so Sachen hab ich einfach dann schwer… Da konnte ich schwer mitgehen, weil: Nicht aus ideologischen Gründen hat mir Russisch Spaß gemacht. Sondern weil ich einfach sprachbegabt bin und Sprachtalent habe, und weil mir Sprache generell Spaß gemacht hat. Das Lernengagierte das war auch etwas, das ein Wert war, was eine Bedeutung hatte und wo ich auch stolz war auf meine Leistungen. Und dass jetzt zum Beispiel 80 Prozent der Klasse Russisch abgewählt haben, wo sie es abwählen konnten, dass man plötzlich sagen konnte: Russisch ist doch Scheiße, und die Noten sind nicht wichtig. Das hat mich irgendwie verunsichert. Also, das war alles so abgewertet, was mir vorher was bedeutet hatte, und damit konnte ich kaum umgehen. Weil ich nicht einfach so mitreden konnte, aber trotzdem das Gefühl hatte, die haben ein Recht, so zu reden. Das war ganz, ganz blöd. Und ich konnte mich auch schlecht verteidigen."
Heute lebt Sonja Mertin in Saarbrücken, zusammen mit ihrem neuen Freund und ihrer vierjährigen Tochter. Noch immer, sagt sie, zerfalle ihr Leben in ein "Vor der Wende" und ein "Nach der Wende".
Sonja Mertin: "Vielleicht ist das wirklich ein besonderes Alter, um so einen riesen Bruch zu erleben. Noch nicht richtig erwachsen, aber auch kein Kind mehr. Ich frag mich immer, warum lässt mich das Thema nicht los? Warum lässt mich dieses blöde Wendethema nicht los?"
Michael Froese: "Es gab ja dann eine kurze Zeit von einigen Monaten, wo es noch für viele die Idee gab: Wir machen einen dritten Weg und finden eigene Formen. Und hatten angefangen, bestimmte Organisationen aufzubauen, Vereine zu gründen, Berufsverbände zu gründen. Dann kam die deutsche Vereinigung und dann musste man auch das begraben."

"Ich war noch nicht distanziert von der DDR"

Sonja Mertin: "Es ist für mich ganz schwer, richtig so normal zu sagen: So hab ich gefühlt. Und so habe ich danach gefühlt, weil da immer so was reinkommt von wegen: Ihr wart die Dummen, die nicht gemerkt haben, dass die DDR Scheiße war. So, wie es im Nachhinein halt immer die Rede war. Also, ich war alt genug, um wirklich stark geprägt worden zu sein, mit Staatsbürgerkundeunterricht und solchen Dingen, aber ich war zu jung, um angeeckt zu sein in dem System. Ich war einfach noch nicht in der Situation, dass mir jemand eine enge Grenze gesetzt hat, weil ich meine Meinung zu offen gesagt hab. Das wäre vielleicht im Studium passiert, da hätte ich mich garantiert gestoßen an der Enge, die ich vorher noch nicht wahrnehmen konnte."
Menschen strömen vom Westteil Berlins zum Übergang Potsdamer Platz. Nach der Maueröffnung durch die DDR wurde drei Tage später, am 12.11.1989, am Potsdamer Platz ein neuer Grenzübergang eingerichtet.
Fall der Berliner Mauer: Menschen strömen am im November1989 vom Westteil der Stadt zum neuen Übergang Potsdamer Platz. © picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
Chronik – "Aktuelle Kamera" vom 7. Oktober 1989: "In den Abendstunden des 7. Oktobers versuchten in Berlin, Randalierer die Volksfeste zum 40. Jahrestag der DDR zu stören. In Zusammenspiel mit westlichen Medien rotteten sie sich am Alexanderplatz zusammen und riefen volksfeindliche Parolen. Der Besonnenheit der Sicherungskräfte ist es zu verdanken, dass niemand verletzt wurde. Die Rädelsführer wurden festgenommen."
Michael Froese: "Und je nachdem, an welcher Stelle man da auch stand, wie man politisch identifiziert war, haben sich da in kurzer Zeit massive Prozesse abgespielt, wo Dinge verlorengegangen sind, wo vieles anzueignen war. Das waren heftige Prozesse in diesen Jahren."
Sonja Mertin: "Ich war noch nicht distanziert von der DDR. Und ich hab nie so dazugehört zu denen, die so vorne weg marschiert sind, ich war eher so überrannt und überrumpelt."
Michael Froese: "Und das aufzugeben, setzt eigentlich einen inneren Prozess der Betrauerung voraus, dass man das wirklich kann. Sonst bleibt man in einem melancholischen Zustand hängen, wie Freud in seiner schönen Schrift 'Trauer und Melancholie' schon beschrieben hat: Wer nicht trauert, wird depressiv und melancholisch und bleibt sozusagen in einem ständigen unzufriedenen Zustand hängen und kann sich nicht wirklich lösen von den alten Idealen, Dingen, die man geglaubt hat, von denen man überzeugt war oder im Fall der Person, die man geliebt hat, ja."

"Nicht die Chance, demokratisch selbst zu reden"

Sommer 1989. Sonjas Eltern kaufen ein Grundstück, beginnen mit dem Hausbau. Das Kind soll ein eigenes Zimmer bekommen. Sonja überlegt, was sie studieren könnte. Jura? Anwältin oder Richterin werden?
Chronik – 9., 10. November 1989: "Tor auf, Tor auf!" – "Ick bin überglücklich. Super." – "Gehen Sie bitte zurück!" – "Ich mein, wir sind alle Deutsche. Und ich kann es gar nicht glauben. Das gibt es gar nicht! Das gibt es gar nicht!"
Chronik – Mitte November 1989: "Und es werden morgen geöffnet: der Grenzübergang Potsdamer Platz, der Grenzübergang Baumschulenweg…"
Sonja Mertin: "Und das ist für mich echt schwer, diesen Knackpunkt zu fassen. Ich bin stiller geworden nach der Wende. Ich habe das eigentlich mehr so wie einen Überforderungsschock erlebt und habe dann mehr beobachtet. Was ist hier eigentlich los."
Chronik 19. Dezember 1989, Dresden: Reporter: "Der Vorplatz vor der Frauenkirche, wo der Bundeskanzler erwartet wird, ist gesäumt von Tausenden von Menschen. Die meisten Menschen führen Fahnen mit, ohne Hammer und Zirkel. Und ich frage jetzt mal einige, die hier sind: Was erwarten Sie heute von der Rede von Helmut Kohl?" – "Auf alle Fälle Wiedervereinigung!" – "Nein, keine Wiedervereinigung!"
Sonja Mertin: "Und eigentlich glaube ich, die Ostdeutschen hatten gar nicht so richtig die Chance in dem Moment, wo sie richtig angefangen haben, demokratisch selbst zu reden und sich selbst auszudrücken, und das waren ja nur ein paar Monate, die hatten gar nicht die Chance, sich da wirklich zu finden, weil: Ganz schnell wurde wieder was Neues drüber gelegt, wie es dann hieß, ja wir müssen uns an dem bayerischen Schulsystem orientieren für Thüringen. Da hatte ich immer dieses Gefühl, es fehlt doch dieser Prozess: Was wollen wir eigentlich oder was wollen wir behalten, oder so. So was hat mich so wütend gemacht."

"Es ist immer so ein Davor und Danach"

Dezember 1990, ein Jahr nach dem Mauerfall. Sonja Mertin geht in die neunte Klasse. Die FDJ-Gruppe an ihrer Schule gibt es nicht mehr. Der Unterricht – eine Mischung aus ideologisch entschlackten DDR-Lehrplänen und Ausflügen ins Bayerische Schulsystem. In der Stadtverwaltung von Erfurt werden Stellen gestrichen. Sonjas Mutter gehört zu den ersten, die gehen müssen. Sonjas Vater, Bauingenieur von Beruf, beschließt, sich selbstständig zu machen.
Sonja Mertin: "Es ist immer so ein Davor und Danach: Vor der Wende, nach der Wende, das hat so einen Einschnitt gegeben. Vor der Wende waren meine Eltern selbstverständlich berufstätig, die haben gearbeitet, die sind abends nach Hause gekommen, und das war nicht problematisch. Aber wenn nach der Wende geredet wurde über Arbeit, dann war das immer irgendwie belastet. Also immer so ein bisschen: Mein Vater hat Angebote geschrieben und dann kam er bedrückt nach Hause: Oh, wir haben so viel Aufwand gehabt, aber wir haben den Auftrag nicht gekriegt! Und solche Gespräche, die waren einfach neu für mich. Dass dann so eine Existenzangst sich so rein geschlichen hat. Dass dann gesagt wurde, wenn wir den Auftrag nicht bald kriegen, dann müssen wir dicht machen. Das sind ja völlig neue Gedanken gewesen, die es vorher nicht gab."
Der Trabant - Entsorgung "en gros", aufgenommen im Jahr 1991 im Straßenbild von Berlin.
Einst heiß begehrt, dann nichts mehr wert: der Trabant als Symbol der entsorgten Vergangenheit vieler DDR-Bürger. © dpa-Zentralbild / Frank Leiste
Michael Froese: "Die Dreizehn- bis Fünfzehnjährigen, die Pubertierenden, die waren stärker noch angewiesen auf die Kontakte mit den Älteren, die waren noch nicht so weit in ihrer eigenen Entwicklung. Und da hat dann die Verunsicherung, die die Wende bedeutet hat, auch stärker eingegriffen in ihrem Leben. Natürlich: Es gibt immer auch stützende Faktoren! Wer das Glück hatte, in einer stabilen Familie aufzuwachsen, wo die Eltern einigermaßen gesund waren, und die Verhältnisse einigermaßen stimmte, der hat sicher die Pubertät gut überstanden, trotz dieser äußeren Schwierigkeiten."
Chronik – März und Juni 1990: "Es ist vorgesehen, die Währungsumstellungen nach Inkrafttreten des Staatsvertrages zum 2. Juni 1990 vorzunehmen, also dem Montag. Löhne, Gehälter, Stipendien, Mieten, Pachten und Renten sowie andere wiederkehrende Versorgungszahlungen werden im Verhältnis Eins zu Eins umgestellt."

"Das ist eine Familie in Angst"

Sommer 1991: Familie Mertin steckt mitten im Hausbau. Sonja überlegt, was sie nach dem Abitur studieren soll. Jura hat sie von ihrer Wunschliste gestrichen. Psychologie vielleicht? Wenn die 36-Jährige heute an ihre Familie Anfang der 90er-Jahre denkt, sieht sie sich, ihre jüngere Schwester, Mutter und Vater in einem Kreis stehen: vier Menschen, Rücken an Rücken, den Blick nach außen gerichtet.
Sonja Mertin: "Das ist eine Familie in Angst, die sich gegenseitig den Rücken stärken, und nach außen guckt, um sich zu orientieren. Wenn ich so als Kind das Gefühl hatte, die Eltern waren gar nicht für mich da oder da war gar keine Zeit, dann ist man vielleicht, wenn man den Zusammenhang nicht versteht, dann ist man böse und denkt: Die waren nicht für mich da, die haben keine Zeit gehabt. Aber wenn ich dieses Bild vor Augen habe, dann, wenn man halt sagt, die waren alle schutzbedürftig und man kann sich nicht angucken, wenn man irgendwo anders hingucken muss, und dass so dieses Rücken-an-Rücken-Stehen auch schon eine tiefe Bindung ausdrückt, aber in einer Extremsituation, das hat mich ein bisschen versöhnlich gestimmt."
Michael Froese: "Die Situation war ja so, dass die Erwachsenen erst mal von den äußeren Ereignissen so fasziniert und damit so beschäftigt waren. Die waren mit sich beschäftigt! Ich erinnere mich noch gut an die Nacht, als die Mauer aufging, und ich meinen Vater angerufen habe und gesagt hab: Du, wir fahren jetzt rüber, du hast den Schlüssel zu unserer Wohnung, die Kinder schlafen, und wir sind dann spät in der Nacht zurückgekommen, am nächsten Tag haben sich unsere Kinder beschwert, dass wir sie nicht mitgenommen haben. Aber zunächst mal hatten wir das Gefühl, wir müssen gucken, was ist da los, was geht vor, und dann können wir mit den Kindern immer noch reden. Und das ist die Haltung gewesen von vielen damals."

Als die Geborgenheit plötzlich weg war

Michael Froese: "Und was mich beschäftigt daran, ist, dass es auch neben der Freude, die wir hatten in der Wendezeit, dass ich eben auch sehe, mit einem bestimmten Schmerz, was wir unseren Kindern damals auch nicht ermöglichen konnten, eben diese Stabilität, diese Souveränität, die ihnen wahrscheinlich gutgetan hätte, sich zu entwickeln und sich von uns auch ein bisschen abzunabeln, als etwas stabilere und etwas erfolgreichere Autoritäten dieser Zeit."
Sonja Mertin: "Ich hab mich damals verloren gefühlt, weil diese Geborgenheit, die man so hatte, plötzlich weg war. Und als Kind hat mich das dann vielleicht auch verängstigt."
Michael Froese: "Wir haben beobachtet, dass das Wesentliche für diese Generation darin besteht, dass häufig in der Pubertät und Adoleszenz doch einschneidende Schwierigkeiten aufgetreten sind, insofern als die Eltern und die üblichen anderen Autoritäten eben als Gesprächspartner, als Partner für Auseinandersetzungen wenig zur Verfügung standen. Und sie sozusagen in einen gewissen Beziehungsnotstand geraten sind in dieser Zeit, die wichtig ist, die wir als zweite Chance der Persönlichkeitsentwicklung bezeichnen: Nach der prägenden frühen Kindheit ist die Pubertät die zweite sensible Phase der Persönlichkeitsentwicklung, wo bestimmte Dinge noch mal sich zum Guten wenden können oder eben auch, wo es weitere pathogene Einflüsse geben kann."
Bis heute hat Sonja nicht mit ihren Eltern über diese Erlebnisse reden können. Die Eltern wollen nicht. Sonjas Fragen empfinden sie als Vorwürfe. Sonja solle doch endlich einen Schlussstrich ziehen unter der Vergangenheit und nach vorne gucken. Ein häufiger Eltern-Kind-Konflikt in dieser Generation, sagt die Historikern Tanja Bürgel. Und es gibt noch mehr, was die Gruppe der damals Zwölf bis Vierzehnjährigen eint.
Tanja Bürgel: "Die zeichneten sich in der Mehrheit dadurch aus, dass sie sehr, sehr lange Adoleszenzphasen hatten. Das heißt, sie hatten ungeheure Schwierigkeiten, sich aus ihren Elternhaus zu lösen, zeichnen sich weiterhin aus durch ein großes, fragenden Interesse an der eigenen Vergangenheit, äußerten vielfach das Gefühl, irgendwie aus der Geborgenheit ihrer Kindheitswelt abrupt herausgerissen worden zu sein."

Viele Jugendliche fühlten sich für ihre Eltern verantwortlich

Das Jahr 1994: Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer: 1,5 Millionen Menschen haben die ehemalige DDR in Richtung Westen verlassen. Die Anzahl der Geburten ist um mehr als 60 Prozent gesunken – von 199.000 auf 78.000 pro Jahr. Die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland erreicht 17,6 Prozent.
Sonja Mertin: "Ich erinnere mich an ein Gespräch mit unserem Schuldirektor, das war unser Chemielehrer, da war ich kurz vor dem Abitur, und wir kamen zufällig auf dieses Wendethema, und ich hab dann gesagt: Ja, das ist ja alles so kompliziert, und ich stell mir das vor wie so eine chemische Reaktion, wenn so zwei Stoffe zusammen geschüttet werden, dann braucht das halt so eine Zeit, bis die so miteinander dann einen neuen Stoff ergeben, und so stell ich mir das mit der Wende auch vor, hab ich zu dem so gesagt. Und dann war der ganz erstaunt, und hat so gesagt: Ja, wie Sie das so sehen! Sie machen sich da ja richtig Gedanken, ich hab gar nicht gedacht, dass ihr Jugendlichen das überhaupt so mitgekriegt habt schon. Und das hat mich unheimlich geschockt, dass der so das gesagt hat, dass wir das vielleicht gar nicht so richtig mitgekriegt haben. Es gab ja eigentlich gar kein Dran-Vorbei, man konnte nicht nichts-mitkriegen, wenn sich alles um 180 Grad wendet und ändert und jede normale Alltagsstruktur halt anders wird plötzlich."
Der ehemalige Grenz-Kontrollposten Marienborn. Die Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn (Sachsen-Anhalt), aufgenommen am 12.08.2016.
Der ehemalige Grenz-Kontrollposten Marienborn, heute eine Gedenkstätte der deutschen Teilung.© dpa/Peter Gercke
Tanja Bürgels Forschungsergebnisse zeigen: Statt sich allmählich abzunabeln, fühlen sich viele Jugendliche für ihre Eltern verantwortlich, wollen sie beschützen. Auch Sonja Mertin ging es so. Vor allem ihren Vater versuchte sie immer wieder zu helfen, um die drohende Firmenpleite abzuwenden. Vergebens. 1994 geht sie nach Leipzig um Psychologie zu studieren, auch hier lässt sie das Thema DDR nicht los.
Sonja Mertin: "Was so mein Gefühlsleben geprägt hat, nach der Wende, das war ganz viel Negatives so, dass mich vieles beleidigt hat, wie über die DDR geredet wurde. Ja, schon allein die Tatsache, dass die Ossis da hinrennen und ihre hundert Mark abholen. Oder wenn Ostdeutsche so schlecht geredet haben über die DDR, wenn sie so eingestimmt haben in diesen Ton von: War ja sowieso alles Scheiße hier, ja. Das hab ich auch nicht leiden können, so eine primitive Art. Oder in einer unserer ersten Vorlesungen, da ging es darum, wie katastrophal Kinderkrippen für Kinder sind, und da hab ich gedacht, ich bin im falschen Film! Es waren alles Studenten, die wahrscheinlich zum großen Teil selber in der Krippe waren, und das kam mir dann auch so falsch vor, wenn nicht drüber geredet wurde. Das ist doch eure Vergangenheit! Sondern es wurde einfach die Westtheorie mitgebracht, obwohl das die alten Ostdozenten waren. Aber wir sollten jetzt so lernen, dass Krippe Scheiße ist für Kinder. Also dass nicht offen geredet wurde über das Für und Wider, sondern es gab einfach so eine Art neue Ideologie, so hab ich das manchmal erlebt."

"So eine Angst, überrannt zu werden"

Frühjahr 2000: Sonja Mertin hat ihr Psychologie-Diplom in der Tasche und zieht nach Saarbrücken, ihrem Freund zu Liebe, der hier promovieren möchte. Doch als die Beziehung zwei Jahre später auseinandergeht, kommt der Zusammenbruch. Sonja Mertin verliert jegliches Selbstwertgefühl. Es folgen ein Aufenthalt in der Psychiatrie und mehrere Jahre ambulanter Therapie. In dieser Zeit fängt Sonja Mertin an, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie beginnt Bücher zu lesen, die in der DDR verboten waren, schaut sich Dokumentationen über die Wende an, sammelt Zeitungsausschnitte zur Wiedervereinigung.
Sonja Mertin: "Ich hab dann später angefangen, mir so richtig Fragen zu stellen: Wie war denn die DDR eigentlich. Und ich hab mit den Jahren erst gemerkt, dass es auch alles viel differenzierter ist, dass es auch die DDR so gar nicht gab, wie sie da in meinem Kopf war als Kind. Also, ich hab ja Jahre gebraucht nach der Wende, dass ich wirklich ohne Umschweife sagen kann: Okay, das war eine Diktatur und das ist was anderes als das, was wir jetzt haben. Das wollte ich am Anfang gar nicht wahrhaben. Das war ja erst mal: Hey, ihr könnt doch nicht meine DDR als Diktatur bezeichnen, da hab ich mich doch nicht gequält gefühlt!"
Die alten Ideale fallen zu lassen, einzusehen, dass sie nie mit der Wirklichkeit übereinstimmten, dauerte seine Zeit. Inzwischen organisiert Sonja Mertin DDR-Info-Abende für ihre Freunde in Saarbrücken. Abende, an denen sie aus Christa Wolfs Roman "Der geteilte Himmel" vorliest, über ihre Familie in Thüringen spricht und von dem Leben erzählt, das sie früher einmal führte.
Sonja Mertin: "Ich sehe das heute ja auch alles ganz anders. Dieses negative Gefühl gegenüber dem Westen hab ich heute ja gar nicht mehr so. Aber wenn ich an damals denke: Das war eben sehr unreflektiert und sehr plötzlich, aber es war voll da: So eine Angst, überrannt zu werden, so eine Angst damals als Kind. Das wundert mich selber jetzt, ich komm mir selber noch mal so kindlich hilflos vor, jetzt. Obwohl ich als erwachsene Frau nicht so bin."
Michael Froese: Es sind Pubertätskonflikte, die überlagert sind durch ein großes historisches Ereignis, und dieses große historische Ereignis hat stattgefunden 1989, 1990. Und es macht einen Unterschied, ob ich heute eine ganz normale Situation habe, in der äußerlich kaum was passiert, und ich mache da meine Pubertät und Adoleszenz durch, oder ich habe meine Adoleszenz 1945, 1946 gehabt oder 1989, 1990. Das sind Unterschiede."
Sonja Mertin: "Und ich glaube, das zieht sich bis heute durch, dass ich nicht genau sagen kann, wenn ich mir Fragen stelle über mich und meine Vergangenheit: Was ist hier eigentlich normales Pubertätsdurcheinander und was war jetzt wendebedingt, hat das jetzt was mit meiner DDR-Vergangenheit zu tun oder einfach weil ich so bin."
(Wdh. von 2010)
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