Eine Insel verlässt sich auf sich selbst

Windräder auf El Hierro
Windräder auf El Hierro © Vanja Budde
Von Vanja Budde · 17.06.2012
Auf den Kanarischen Inseln gedeihen Pläne und erste Projekte, den Anteil sauberen Ökostroms zu erhöhen. Die kleinste Insel der Kanaren, El Hierro, geht dabei sehr weit: Die abgeschiedene, windumtoste Vulkaninsel will sich von diesem Jahr an zu hundert Prozent mit Wind- und Wasserkraft versorgen.
Die Brecher des Atlantiks krachen an die bis zu eintausend Meter hohen lavaschwarzen Steilklippen von El Hierro. Angetrieben vom Passat-Wind, der hier nahezu unablässig weht. Wind und Wasser: Das kleine, lange am Westrand Europas vergessene El Hierro will seine natürliche Ressourcen nutzen, um sich aus eigener Kraft mit sauberer Energie zu versorgen, wie Christina Morales erläutert, Sprecherin des Betreiberunternehmens Gorona del Viento:

"Dafür haben wir hier fünf Windräder aufgestellt. Da der Wind unterschiedlich stark weht, haben wir ein Pumpspeicherkraftwerk damit gekoppelt. Es ist also eine Kombination aus Wind- und Wasserkraft."

Christina Morales blickt vom Rand der Landstraße auf die fast 70 Meter hohen Windräder der deutschen Firma Enercon: Jedes mit einer Leistung von 2,3 Megawatt. In Aurich in Ostfriesland gebaut und von Emden verschifft, wurden sie auf einem Hügelgrat nahe der Inselhauptstadt Valverde aufgestellt. Dafür musste ein Spezialkran eigens vom spanischen Festland auf die Insel geschafft werden.

Einige Hundert Meter unter uns am Rand eines Steilhangs steht nun der stärkste Windpark der Kanaren mit einer Gesamtleistung von 11,5 Megawatt. Noch ruhen die Rotoren. Im November soll es los gehen:

"El Hierro ist ein kleines Territorium und nicht per Seekabel mit den anderen Inseln verbunden. Also müssen wir unsere Energieversorgung selber sichern. Bislang nutzen wir dafür ein Dieselkraftwerk. Aber bald werden wir rundum sauberen Strom haben. Das Problem mit Windkraft ist jedoch, dass sie eine ständig wechselnde Menge Energie erzeugt, Also mussten wir ein System entwickeln, das das ganze Jahr über eine konstante Stromversorgung sicher stellt, ohne Schwankungen."

Wenn der Passat kräftig weht, wird die vom Windpark erzeugte Energie ins Stromnetz eingespeist, darüber hinaus aber auch dafür genutzt, Meerwasser in den 700 Meter höher gelegenen Vulkankrater "La Caldera" zu pumpen, der fast 400.000 Kubikmeter fasst. Da die Unesco El Hierro zum Biosphärenreservat erklärt hat, wurden die Rohre der sechs Kilometer langen Wasserleitung teils unter die Erde verlegt, um eine nur hier heimische Kaktusart zu schützen.

Sollte ausnahmsweise einmal Flaute herrschen, wird das Wasser wieder bergab fließen und vier Turbinen antreiben, jede mit einer Leistung von fast drei Megawatt.

Die komplexe Kombination von Wind- und Wasserkraft wurde zwar speziell für diese kleine Insel entwickelt. Doch überall dort, wo es ein natürliches Gefälle und Stauseen gibt, könnte sie als Beispiel dienen. Das ist zumindest die Auffassung des Instituto Tecnológico de Canarias. Das Forschungsinstitut für Erneuerbare Energien auf der Nachbarinsel Gran Canaria hat El Hierros Ökokraftwerk maßgeblich mit entwickelt, berichtet Christina Morales:

"Seit wir mit dem Projekt begonnen haben, sind viele Wissenschaftler und Techniker aus aller Welt her gekommen, um sich die Anlage anzusehen - und sie vielleicht zu exportieren wenn dieselben Gegebenheiten vorhanden sind. Dieses System kann auch auf dem Kontinent funktionieren."

Die von Wind- und Wasserkraft erzeugte Energie wird vor allem für die Meerwasserentsalzungsanlagen für die Landwirtschaft im fruchtbaren Tal El Golfo gebraucht. Die Planer, die seit 30 Jahren an dem Projekt herum tüfteln, haben das Biokraftwerk für den zukünftigen Bedarf im Jahr 2050 konzipiert: Jährlich 40 Gigawatt.

Das Ökostrom-Projekt ist ein großer Schritt für El Hierro, das im Altertum als das "Ende der Welt" galt. 50-jährige Inselbewohner erinnern sich noch daran, wie die Elektrizität auf die Insel kam, abends um acht aber aus Spargründen abgeschaltet wurde.

Derzeit bringt ein Tankschiff jede Woche 6000 Tonnen Diesel aus Teneriffa. Dank Wind- und Wasserkraft wird El Hierro in Zukunft nicht nur die Kosten dafür einsparen, sondern auch einen Kohlendioxid-Ausstoß von fast 20.000 Tonnen im Jahr. Wenn alles klappt, werden sich die Baukosten für das Ökokraftwerk auf jeden Fall bald amortisiert haben.

Christina Morales: "Das waren 64,7 Millionen Euro. 35,5 Millionen kamen vom spanischen Ministerium für Industrie und Tourismus. Den Rest teilen sich die Inhaber der Betreiberfirma."

Gorona del Viento gehört zu 60 Prozent der Inselregierung, Verwaltungschef Alpidio Armas ist gleichzeitig Firmen-Präsident. Zehn Prozent hält das Technische Institut der Kanaren auf Gran Canaria und mit 30 Prozent ist Spaniens staatlicher Stromriese Endesa beteiligt.

Endesas Techniker hatten auch die Idee zu diesem innovativen Projekt auf El Hierro: Spanien ist Vorreiter in Sachen erneuerbarer Energie.

Das Rauschen der Windräder ist allgegenwärtig auf dem Gelände des Technischen Institut für Erneuerbare Energien im Süden Teneriffas. Denn auch auf El Hierros großer Nachbarin beschäftigt sich die Inselregierung unter Ricardo Melchior bereits seit langem mit der Frage, wie die natürlichen Ressourcen für die Energieversorgung genutzt werden können.

Neben einem Windpark wurde hier im Frühjahr 2011 eine bioklimatische Mustersiedlung eröffnet: ein weltweit einzigartiges, offenes Labor: Die zwei Dutzend ganz unterschiedlich gestalteten Häuser waren bislang nur von Wissenschaftlern bewohnt. Neuerdings können sich auch Urlaubsgäste einmieten. Ziel ist eine große vergleichende Studie zur Effektivität bioklimatischer Bauweisen.

Miren Iriarte: "Deshalb haben wir uns auch einem weiteren Publikum geöffnet: dem Tourismus. Um das zu schaffen: Dass die Häuser bewohnt sind und dass wir genügend reelle Daten von den Häusern bekommen, um zu bewerten, ob die Lösungen von den Häusern gut sind oder nicht."

Miren Iriarte vom Forschungsinstitut führt durch ein Tor in einer Windschutzmauer aus hellem Vulkangestein ins erste Haus: Auf dem flachen Dach wächst Gras, Solarzellen sorgen für den Strom, ein System von Luftkammern und Lüftungsschlitzen für eine frische Brise im heißen Sommer. So funktioniert auch die Klimatisierung eines Termitenhügels.

"Die warme Luft geht zur oberen Seite, und die Passatwinde nehmen diese Luft raus. Und zur selben Zeit ziehen sie von der Luft, die in der unteren Kammer ist. Das macht eine Luftzirkulation, die das Haus ständig belüftet. Das ist ein natürliches Airconditioning."

Andere Häuser nutzen dicke Mauern an der Südseite, um tagsüber Wärme zu speichern, die an kühlen Winterabenden abgegeben wird. Das Wasser in Küche und Bad stammt aus der institutseigenen Meerwasser-Entsalzungsanlage. Sensoren an der Decke und ein Fragebogen für die Gäste unterstreichen den wissenschaftlichen Zweck des futuristischen, "Cero CO2" genannten Dorfes direkt am Atlantik.

Miren Iriarte: "Die Häuser sind ein Labor und wir messen, was da passiert: Wir messen Temperatur. Luftgeschwindigkeit und Luftfeuchtigkeit."

Das Forschungsinstitut hatte 1995 einen internationalen Architekturwettbewerb für Passivhäuser ausgeschrieben. Sie sollten so wenig Energie wie möglich verbrauchen, also möglichst ohne Klimaanlage und Heizung auskommen. Die besten der knapp 400 Entwürfe wurden für zehn Millionen Euro gebaut. Manche sehen aus wie halb im Boden versenkte Höhlen, andere wie ultramoderne Bungalows.

In ihrer Gesamtheit wirkt die Siedlung in einer bizarren Vulkanlandschaft wie eine Raumstation: Eine bewohnbare Versuchsanordnung für die Architektur einer Zukunft, die auf Energiesparen setzt.

Miren Iriarte: "Das wichtigste Prinzip von einem bioklimatischen oder passiven Haus ist, sich genau an den Platz, wo das Gebäude gebaut wird, anzupassen. Denn - ich weiß nicht in Deutschland, aber hier - in Teneriffa gibt es eine ganz unterschiedliche Klimatologie von einem Platz zum anderen. Und die Situation hier ist: Die Passatwinde sind ziemlich kräftig; wir haben sehr viel Sonne; wir sind außerdem an einem trockenen Platz gelegen und außerdem sind wir neben dem Meer. Und das bringt Feuchtigkeit und auch Salz. Und das sind die Konditionen hier."

Jeder Mieter findet eine Gebrauchsanweisung für energiesparendes Wohnen im jeweiligen Haus. Kontakt zu den Wissenschaftlern aufzunehmen, die nebenan auch an der Nutzung von Wasserstoff und Erdwärme forschen, ist ausdrücklich erwünscht, sagt Miren Iriarte:

"Denn eines der Ziele dieses Projektes ist es, dass den Gästen viel mehr bewusst wird. Der nächste Schritt wird sein, dass wir messen, wie viel Energie jedes Haus täglich produziert und wie viel der Gast verbraucht. Damit auch jedem bewusst ist, was passiert, wenn man das Licht anbrennt und das Fernsehen und alles anbrennt."

Während die Wissenschaftler auf Teneriffa noch Daten sammeln, beginnt auf El Hierro im Herbst der Praxistest. Die Inselbewohner fiebern gespannt dem Tag entgegen, an dem das Dieselkraftwerk ausgeschaltet wird und die großen Rotoren aus Ostfriesland sich zu drehen beginnen, sagt Mariela Perez. Sie betreibt für die Verwaltung von El Hierro eine inseleigene Biofarm mit Schulgarten für die Kinder:

"Die Vision von einer nachhaltigen Zukunft der Insel entstand schon vor 20 Jahren. Natürliche Energiequellen zu nutzen, dass ist das zentrale Element dieses Plans. El Hierro ist ideal für solche Experimente: Es ist klein, hat Wasser und Wind und fruchtbaren Boden. Wir glauben an das Ideal einer möglichen Autarkie."
Windräder und bioklimatische Mustersiedlung auf El Hierro
Windräder und bioklimatische Mustersiedlung auf El Hierro© Vanja Budde
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