Eine Ideologie der Vertröstungen

„Der Kommunismus ist eine wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse“, hieß es in den Lehrbüchern des Marxismus-Leninismus in der DDR. Mit Wissenschaft hatte der Kommunismus wenig zu tun, findet der Philosoph Michail Ryklin. In seiner Ausprägung als Staatsideologie hatte er Anmutungen von Religion, mit Stalin als Hohepriester, der über gut und böse entschied.
Die kommunistische Ideologie schmeckt nach Religion. Das haben vor Ryklin schon einige Intellektuelle im 20. Jahrhunderts festgestellt. Walter Benjamin zum Beispiel. Oder Bertrand Russel. Der ist 1920 nach Moskau gereist, um Lenin zu treffen und war unangenehm berührt: „Kleinlich, starrsinnig, orthodox. Erfüllt von einem religiösen Glauben an das marxistische Evangelium.“

Ryklin versucht, die Intuition von Lenins und Stalins Zeitgenossen sachlich zu begründen. Er beschreibt Phänomene der kommunistischen Ideologie, die religiösen Phänomenen verdächtig ähnlich sehen. Da ist zum Beispiel das Lenin-Mausoleum in Moskau. Was dort stattgefunden hat (und noch immer stattfindet), ist eine Form des Heiligen-Kultes. Die kommunistische Ideologie, so der Autor, benebelt ihre Jünger mit einer eschatologischen Heilserwartung, damit diese im tristen Diesseits ausharren in der Hoffnung auf die „lichte Zukunft des Kommunismus“. Um die zu installieren, scheint jedes Mittel recht, wenn's sein muss, auch Menschenopfer.

Michail Ryklin ist Russe, Jahrgang 1948, er unterrichtet an der Moskauer Akademie der Wissenschaften. Der Leser fragt sich nach dessen politischer Vergangenheit. War er zu Sowjet-Zeiten selber Kommunist?

Der Autor schweigt sich aus in dieser Sache. Was seinen heutigen Standpunkt betrifft, ist er auskunftsfreudiger, wünscht sich für sein Land eine politische Öffentlichkeit, wie sie in Westeuropa üblich ist.

Allerdings darf man vermuten, dass Ryklin irgendwann wenigstens Kommunist gewesen ist. Jedenfalls kennt er sich bestens aus bei Marx und Lenin. Bei Stalin auch. Und manchmal scheint es so, als schimmert durch Ryklins nüchterne Erörterungen die Trauer um das Scheitern eines Traums. Jenes Traums von einer Gesellschaft, deren ökonomischer Reichtum allen gehört und nach Bedarf verteilt werden kann.

Nicht umsonst hat Ryklin sein Buch Jacques Derrida gewidmet. Einem Philosophen, der meinte, auch wenn die marxistische Utopie bei Versuch ihrer Realisierung gescheitert ist, müsse man doch immer „das Ereignis ihrer Verheißung“ würdigen. Das Scheitern dieser Utopie hängt nach Ryklins Diagnose auch damit zusammen, dass die kommunistische Idee, so wie sie Marx einst formuliert hat, im leninschen Sowjetrussland zu einer Religion verkommen sind.

Ryklin hat generell ein negatives Verhältnis zur Religion. Zumindest in dieser Sache ist er eindeutig Marxist. „Religion ist das Opium des Volks, der Seufzer der bedrängten Kreatur, der Geist geistloser Zustände“, hatte Marx formuliert in seiner „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“. So verstanden ist der Gottesglauben eine Illusion, die der Mensch loswerden muss, damit er sich endlich daranmacht, eine ungerechte Gesellschaft zu revolutionieren.

Ryklin bezichtigt Lenin und seinen Nachfolger Stalin, dass sie die alte Religion vernichtet haben, nur um den Kommunismus als neue Religion zu installieren. Eine Ideologie der Vertröstungen. Motto: „Jetzt ist noch vieles schlecht, denn der Feind namens Weltkapitalismus versucht, uns zu vernichten. Wir müssen schuften und die Zähne zusammenbeißen – morgen wird alles besser.“ Und „Oberpriester“ Stalin entschied, was gut und böse ist im Hinblick auf die kommunistische Zukunft. In Moskau anno 1936/37 wurden Schauprozesse inszeniert wie einst die Prozesse der heiligen Inquisition – bis hin zur Erpressung von Geständnissen durch Folter.

Ein gutes Buch über den kommunistischen Glauben, der sich selbst für eine Wissenschaft gehalten hat. Ein gutes Buch auch darüber, warum die kommunistische Ideologie so vielen Intellektuellen das Hirn vernebelt hat. So sehr, dass Köpfe wie Bertolt Brecht bereit waren, Stalins Morde an ihren Freunden als notwenige Opfer der Revolution zu betrachten. Aber kein gutes Buch über Religion.

Umso erstaunlicher, dass es ausgerechnet im Verlag der Weltreligionen erscheint. Dass Ryklin viel vom Kommunismus, aber wenig von Religion versteht, zeigt schon der Titel dieses Buches. Der Kommunismus ist eben keine Religion, sondern bestenfalls ein Religionsersatz. Und zwar einer für eine bestimmte historische Form von Religion: für das repressive Staatschristentum des 19. Jahrhunderts.

Dass Religion nicht nur der geistigen Knechtung, sondern genauso der geistigen Befreiung von Menschen dienen kann, vermag sich Ryklin nicht vorzustellen. Er hat mit der russisch-orthodoxen Kirche anscheinend ähnliche Erfahrungen gemacht wie Marx mit der preußischen Staatsreligion.

Rezensiert von Susanne Mack

Michail Ryklin: Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution
Übersetzt von Dirk Uffelmann und Elena Uffelmann
Verlag der Weltreligionen 2008
192 Seiten. 17,80 Euro