Eine halbe Million auf dem Tacho

Von Martin Tschechne · 23.05.2011
Auf dem Hof des Autohändlers wird vielleicht keine Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Aber ihre Folgen lassen sich beobachten. Und manchmal auch ihre Vorboten.
Da erzählt der Händler etwa die Geschichte von dem Vorstandsvorsitzenden, einer Symbolfigur für den Boom zu Beginn der neunziger Jahre, der eines Tages stolz verkündete, bei der Entwicklung der neuen Modellreihe sei es gelungen, die Produktionskosten um 30 Prozent zu senken. Was der Manager damals nicht gesagt habe, fügt der Mann auf dem Autohof mit einem Achselzucken hinzu: Mit den Kosten ging auch die Qualität um 30 Prozent nach unten.

Aha, denkt sich der Zuhörer: So funktioniert Verkaufspsychologie. Bestimmt wird der gute Mann gleich, indem er den Vorgänger schlecht macht, das allerneueste Modell anpreisen. Das habe keine Probleme mehr mit Rost und mieser Verarbeitung, keine Elektronik, die mitten in der Nacht auf der Autobahn anfängt zu spinnen – nein, es biete nun das pure Fahrvergnügen, vollautomatisch und sensorgesteuert. Aber was sagt der Autohändler? Er rät: Versuchen Sie, noch ein Exemplar des Vor-Vorgängermodells zu finden. Wird aber schwer werden. Wer so einen hat, der gibt ihn nicht her. Und wenn der Wagen eine halbe Million Kilometer auf dem Tacho hat. Denn entworfen und gebaut wurde er einmal, um doppelt so weit zu fahren.

Wieder stehen die Zeichen auf Boom, die Wirtschaft meldet volle Auftragsbücher – und trotzdem: Alte Autos haben Konjunktur. Manche Modelle, wenn sie gut erhalten sind, werden sogar schon wieder teurer. Als "Young-Timer" feiert die Presse, was noch kein Oldtimer ist und ins Museum gehört, sondern 20 oder mehr Jahre auf Fahrwerk und Maschine hat und immer noch läuft und läuft und läuft. Das ist schon bemerkenswert bei Publikationen, die finanziell auf Anzeigen aus der Auto-Industrie angewiesen sind und also auch im redaktionellen Teil eher dazu neigen, das jeweils neueste Modell zu bejubeln. Mit elektronischer Einparkhilfe und automatischer Abstands-Regulierung.

Es sind auch keine nostalgischer Fortschritts-Verweigerer, die grundsätzliche Zweifel hegen. Es ist Verdrossenheit gegenüber einer Konsum-Kultur, die allen Erkenntnissen und allen Mahnungen zum Trotz nur eine Richtung kennt: immer mehr, immer größer, immer üppiger. Irgendetwas muss falsch sein mit neuen Produkten, wenn eine offenbar steigende Zahl von Verbrauchern zu den alten zurückkehrt. Danke, liebe Marketing-Fuzzis, wir brauchen kein elektronisches Programm, das uns die Sitzflächen automatisch vorwärmt. Und danke, wir brauchen auch kein Design, das uns mit Nashorn-Gittern vor dem Kühler und übergroßen Reifen mitten auf dem Kurfürstendamm in Berlin aussehen lässt wie die Teilnehmer einer Wüstenexpedition. Wir sind keine Computer-Kids, die Fiktion und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten können.

Fiktion und Wirklichkeit: Darum geht es. Um eine Technik, die uns abhängig macht und infantilisiert. Die den Kunden gezielt und absichtsvoll überfordert, um ihn auch nach dem Kauf an die Fach-Werkstatt zu fesseln, an vorprogrammierte Service-Intervalle, an die Telefon-Hotline. Es geht um eine Technik, die mit ständig neuen Kinkerlitzchen, pardon: mit ständig neuen Verbesserungen und Varianten – nicht nur im Auto – dafür sorgt, dass wir mit unserem neu erworbenen Produkt schon alt aussehen, kaum dass wir den Autosalon, den Computerladen oder den Flagship Store für mobile Internet-Telefonie verlassen haben. Oh, Sie haben noch das alte Modell? Naja, der Speicherchip für die Satelliten-Navigation könnte ein bisschen größer sein. Und die Pixelzahl der eingebauten Digital-Kamera entspricht auch nicht mehr dem, was man heute so braucht.

Insofern steckt in den plötzlich so populären Vor-Vorgängermodellen schon eine bedenkenswerte Botschaft. Der Fahrer demonstriert, dass er nicht über jedes Stöckchen springt, das die Strategen der Produktentwicklung ihm hinhalten. Und zweitens bekennt er sich zur Nachhaltigkeit: Denn wer sein Auto 20 Jahre lang fährt, für den muss 20 Jahre lang kein neues gebaut und auch kein altes verschrottet werden.

Dr. Martin Tschechne ist Journalist und lebt in Hamburg. Er promovierte als Psychologe mit einer Arbeit zum Thema Hochbegabte. Zuletzt erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern im Verlag Ellert & Richter (herausgegeben von der ZEIT- Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius).
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Martin Tschechne© privat