"Eine groteske Veranstaltung"

Johannes Ludewig im Gespräch mit Hanns Ostermann · 11.03.2011
Der ehemalige Bahn-Chef Johannes Ludewig hat wenig Verständnis für den GDL-Streik, auch wenn er sagt: Keiner würde es merken, "wenn man die Deutsche Bahn nicht bestreiken würde, sondern nur die kleineren Bahnen, die ja eigentlich der Gegner in diesem Streik sind".
Hanns Ostermann: Der Schein trügt - da werden zwar 70 Prozent aller Waren und Güter bei uns über die Straße transportiert, die Schiene spielt eine untergeordnete Rolle, laut Statistik. Die Realität allerdings sieht anders aus: Der Streik der Lokführer trifft einige Branchen hart. Wohl dem, der seine Lager vorsorglich aufgestockt hat, der Chemieriese BASF zum Beispiel. Was kann der Arbeitskampf bei der Bahn volkswirtschaftlich anrichten? Darüber möchte ich mit Johannes Ludewig sprechen, er war früher Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn, heute ist er Geschäftsführer des Verbandes der Europäischen Eisenbahn- und Infrastrukturunternehmen. Guten Morgen, Herr Ludewig!

Johannes Ludewig: Schönen guten Morgen!

Ostermann: Was wiegt volkswirtschaftlich eigentlich schwerer - dass Hunderttausende zu spät zur Arbeit kommen, oder dass Güter auf der Strecke bleiben?

Ludewig: Also ich glaube Letzteres. Auf die Dauer ist das Letztere gewichtiger, weil der normale Arbeitnehmer, der Pendler, der kann sicher auch Wege finden, auch wenn das extrem unangenehm ist dann - umsteigen auf die Straße, fahren mit anderen Kollegen und ähnliche Dinge –, aber der Transport der Güter kurzfristig weniger. Gestern waren die Auswirkungen ja überschaubar, 300 Züge waren betroffen, und da fahren viele Tausende pro Tag. Aber je länger das dauert, desto schwieriger oder weitgehender sind natürlich die Auswirkungen.

Ostermann: Zwischen 300 und 600 Güterzüge sollen gestern blockiert worden sein. Da gehen die Angaben so ein bisschen auseinander. Mir scheint das noch nicht sehr viel zu sein, oder liege ich da falsch, was die Auswirkungen betrifft?

Ludewig: Na ja, Sie müssen so sehen: Auch dieser Prozentsatz, den Sie am Anfang nannten - die Bahn transportiert ja ungefähr 20 Prozent aller Güter in Deutschland. Das sieht auf den ersten Blick nicht so viel aus, ist aber sehr viel, weil: Die Bahn hat eine deutlich stärkere Position auf den längeren Strecken. Der LKW macht im Wesentlichen die kurze Distanz, sagen wir mal, bis 300 Kilometer, was darüber liegt, wird zu einem erheblich höheren Anteil, ich würde mal sagen, 40 Prozent, von der Bahn gemacht. Und das ist unser Lebensnerv sozusagen von den Häfen zum Beispiel in das Land hinein, umgekehrt die Exportgüter, die in die Häfen kommen, die großen Korridore, beispielsweise Rotterdam, dann an der Rheinschiene entlang durch die Schweiz nach Norditalien – das sind die Hauptverkehrsströme für die langen Distanzen, und da spielt die Bahn natürlich eine überragende Rolle. Und wenn dieser Lebensnerv der Wirtschaft auf längere Zeit hin nicht richtig funktioniert, dann gibt es natürlich Schäden, die schon sehr beachtlich sind.

Ostermann: Die Lokführergewerkschaft kündigte an, sie macht weiter, das heißt, dann kann man wirklich davon ausgehen: Die Wirtschaft wird im Mark getroffen?

Ludewig: Also im Mark - man ist ja immer wieder erstaunt, welche Flexibilität es dann doch gibt, das haben wir ja auch im Streik, ich glaube, das war 2007, gesehen, wo das ja schon mal in ähnlicher Weise über längere Zeit gegangen ist. Da gibt es natürlich auch Flexibilität mit Umsteigen auf die Straße, auf den LKW-Verkehr, auch auf der längeren Distanz, also das dauert etwas. Trotzdem ist es natürlich extrem unangenehm und stört den Ablauf der Wirtschaft, und das Ganze ist ja hier besonders grotesk, weil ja die Deutsche Bahn bestreikt wird, obwohl die Deutsche Bahn ja die Forderungen der GDL, der Gewerkschaft, ja voll erfüllen will. Die GDL streikt ja dafür, dass alle Eisenbahnen einen Rahmentarifvertrag haben, in denen also gleiche Löhne für alle festgeschrieben werden.

Daran hat niemand mehr Interesse natürlich offensichtlich als die Bahn. Insofern ist es ohnehin eine groteske Veranstaltung. Das Ganze findet ja nur statt, weil wenn man die Deutsche Bahn nicht bestreiken würde, sondern nur die kleineren Bahnen, die ja eigentlich der Gegner in diesem Streik sind, dann merkt es keiner, und deswegen wird – nur um jetzt öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, nicht der Sache wegen – hier die Deutsche Bahn bestreikt, und das ist natürlich noch viel grotesker, als es bei normalen Tarifauseinandersetzungen der Fall ist.

Ostermann: Kommen wir auf die wirtschaftlichen Auswirkungen zurück, Herr Ludewig. Welche Branchen sind eigentlich besonders betroffen und damit von der Schiene abhängig?

Ludewig: Na ja, es sind besonders die, die sogenannte Massengüter transportieren, obwohl der Begriff auch ein bisschen in die Irre führt, also zum Beispiel die Herstellung neuer PKWs, PKWs, die Hersteller sind ein großer Kunde der Deutschen Bahn, nicht nur der Deutschen Bahn, der Bahnen generell; dann der ganze Chemiebereich, alles, was zum Beispiel also mit gefährlichen Gütern zu tun hat, wird in der Regel ganz überwiegend – Gott sei Dank und es ist ja auch richtig – auf der Bahn transportiert; Stahlindustrie, Eisen, alles, was mit hohen spezifischen Gewichten zu tun hat, läuft normalerweise auf der Bahn. Und durch die Containerisierung kann man praktisch heute alles, was man früher nicht so konnte, in Container packen und damit auch auf der Bahn transportieren.

Aber die großen Industriezweige, also Chemie und Autohersteller, auch der Maschinenbau und ähnliche Dinge, haben einen hohen Anteil, der auf der Schiene läuft, und das, wie gesagt, ist ja der Nerv sozusagen unserer exportorientierten Volkswirtschaft, und gerade was die Exporte eben betrifft: Jeder zweite Güterwagen, den Sie sehen, fährt über die Grenze, also das ist ein sehr hoher Anteil. Insofern spielt die Bahn da eine wichtige Rolle. Das trifft dann wie gesagt, je länger es dauert, die Volkswirtschaft schon ganz erheblich.

Ostermann: Wie groß ist der Imageschaden? Die Deutschen gelten als pünktlich, auch wenn sie es manchmal nicht sind. Wie wirkt das Ganze im Ausland?

Ludewig: Die Leute wundern sich, weil man Deutschland natürlich nicht kennt, ich arbeite ja hier in Brüssel, bin gerade heute Nacht zurückgekommen aus Amsterdam von einer Konferenz, und die Leute wundern sich natürlich, weil man Deutschland so nicht kennt. Und bei uns verändern sich ja auch Dinge – nicht zuletzt die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat dazu ja auch wichtige Beiträge, in Anführungszeichen, geleistet, indem es ... also, was früher ja in Deutschland nicht möglich war, dass man jetzt sagt: Auch kleine Gruppen von Arbeitnehmervertretungen innerhalb des gleichen Unternehmens können also streiken, es gibt keinen Zwang mehr wie früher, sich hier innerhalb eines Unternehmens auf eine gemeinsame Linie zu einigen.

Und das leistet natürlich Vorschub, dass jede Gruppe, die eine Schlüsselposition hat, ihre eigenen Geschäfte macht. Gestern hat mir jemand gesagt, das ist jetzt so: Früher hatten schon viele einen Schlüssel, aber jetzt fängt jeder an, den Schlüssel selbstständig umzudrehen. Und das ist natürlich eine Situation, die für Deutschland als, ich wiederhole noch mal, besonders – viel mehr als andere europäische Länder – exportorientiert, leistungsstark im Export und natürlich auch die Zuverlässigkeit spielt da eine große Rolle, das ist für uns sehr schlimm.
Aber man muss klar sehen: Die Rechtsprechung in Deutschland hat dieser Entwicklung klar Vorschub geleistet, und der Gesetzgeber, nach meiner Meinung, ist aufgerufen – es hat ja auch solche Reaktionen schon früher, vor diesem Streik, gegeben –, doch darüber nachzudenken, ob er nicht jetzt am Zuge ist, um das wieder herzustellen, was es früher ... was ein Markenzeichen Deutschlands war: die Berechenbarkeit und die Zuverlässigkeit.

Ostermann: Der Streik der Lokführer und die Auswirkungen auf die Volkswirtschaft – ich sprach mit dem Geschäftsführer des Verbandes der Europäischen Eisenbahn- und Infrastrukturunternehmen Johannes Ludewig. Herr Ludewig, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Ludewig: Gerne! Wiederhören!