"Eine große Leistung"

Klaus Harpprecht im Gespräch mit Dieter Kassel · 02.12.2009
Anlässlich des 100. Geburtstages von Marion Gräfin Dönhoff erinnert sich der Biograf Klaus Harpprecht an die Journalistin: Ihr Lebensstil sei "eher karg und bemessen" gewesen, sagte Harpprecht.
Dieter Kassel: Bereits im vergangenen Jahr ist eine äußerst umfangreiche Dönhoff-Biografie erschienen, sie trägt den Titel "Die Gräfin", und ihr Autor ist der Journalist und Publizist Klaus Harpprecht, den wir jetzt in seinem Wohnort in Frankreich am Telefon erreicht haben. Schönen guten Tag, Herr Harpprecht!

Klaus Harpprecht: Schönen guten Tag!

Kassel: Was wir am Ende des Beitrags gehört haben, was Marion Dönhoff zu ihrem 90. Geburtstag gesagt hat über ihren 100., dieses, sie will auch dann keine große Feier, sie will auch dann am liebsten wieder ein Symposion in einem schönen, liberalen Umfeld. Ist das sehr typisch, könnte man sich eine wirklich rauschende hedonistische Geburtstagsfete bei ihr überhaupt vorstellen?

Harpprecht: Das war sicher nicht ihr Stil, denn der war doch von der Kargheit, die man in den besseren Kreisen des preußischen Adels gepflegt hat, bestimmt. Man hatte zwar prächtige Schlosser, man hatte zwar auch schönen Kunstbesitz, aber der Lebensstil als solcher war eher karg und bemessen. Und in einem solchen ist sie aufgewachsen und einen solchen hat sie beibehalten.

Kassel: Sie hat diesen Lebensstil beibehalten, das haben wir im Beitrag gehört, Sie sagen das auch, aber es gab doch eine große Ausnahme, Herr Harpprecht, und das war ihre Leidenschaft - ihre Leidenschaft, die großen, schnellen, teuren Autos. War das wirklich eine Ausnahme, die die Regel, die Sie gerade noch mal beschrieben haben, bestätigt hat, oder passte das eigentlich doch sehr gut rein?

Harpprecht: Ich glaube, die teuren, schnellen Autos entsprachen ihrer Freude an teuren und schnellen und wunderbaren gelenkten Pferden. Aber nach ihrem langen Ritt, 1500 Kilometer auf der Flucht von Ostpreußen bis ins Hannoversche, ist ihr damals der Geschmack am Reiten abhanden gekommen. Jedenfalls sie hat sich geschworen, nie mehr ein Pferd zu besteigen - und sie hat sich auch dran gehalten.

Kassel: Sie war ohne Weiteres eine sehr konsequente Frau. Sie haben diese Flucht damit jetzt erwähnt, die Flucht damals im Jahr 1945. Das war ja, dieser 90. Geburtstag, aus dem wir auch noch mal Ausschnitte gehört haben vorhin, ein besonderer Ort, an dem das Symposium stattfand, es war in Frankfurt an der Oder, an der deutsch-polnischen Grenze. Und damit sind wir bei einer interessanten Entwicklung, wie ich finde, in ihrem Leben.

Sie können mir widersprechen, aber ich selber würde behaupten, sie war nach dem Krieg angekommen in der Bundesrepublik eine Weile lang eine Art kalte Kriegerin. Sie war auch, das nun wiederum ist deutlich belegt, spätestens ab den 1970er-Jahren eine publizistische Kämpferin für die Ostpolitik der SPD, die Politik der Annäherung. Wie passte das zusammen?

Harpprecht: Das ist eine durchaus menschliche und auch logische Entwicklung. Es würde sie übrigens nicht eine kalte Kriegerin nennen. Der Kalte Krieg, das klingt dann so, als sei der einseitig geführt worden. Damals schlossen sich die westeuropäischen Mächte mit den Vereinigten Staaten zusammen, um die stille Eroberung des Kontinents durch das Sowjetimperium zu verhindern. Und da war ihre Stellung völlig klar.

Eine andere Sache ist ihr Übergang zur Ostpolitik von Willy Brandt. An einem bestimmten Punkt hat ihr Verstand sehr klar gesagt, dass eine Überwindung der Spannungen zwischen Ost und West sei durch weiteren Machtaufbau nicht zu gewinnen. Es schloss dieses natürlich ein, dass der Verzicht auf ihre Heimat sanktioniert werden musste. Das ist ihr sehr, sehr schwergefallen.

Umso bedeutender, umso wichtiger ist der Entschluss, den sie gefasst hatte und mit dem sie an die Öffentlichkeit getreten ist – übrigens wie manches Mitglied der besten preußischen Familien. Sie waren damals sehr vielen ihrer Standes- und Klassengenossen, aber auch der Mehrheit der in den Flüchtlingsverbänden Organisierten voraus. Und mit der starren Haltung heutiger Funktionäre, dafür hätte sie ganz gewiss kein Verständnis.

Kassel: Damit sind wir ja nun mitten im Jahr 2009 gelandet, Herr Harpprecht. Was glauben Sie denn, würde konkret Marion Gräfin Dönhoff heute zum Beispiel zur Erika-Steinbach-Kontroverse sagen und über den Debatten über ein sichtbares Zeichen gegen Vertreibungen?

Harpprecht: Sie hätte sicher ein Interesse an einer Mitwirkung an dem Mahnmal gegen Vertreibungen – sofern es also europäisch ist, und er soll ja europäisch ausgeprägt sein –, aber ich glaube, sie würde sehr trocken zu Frau Steinbach sagen, sie sollte sich mal selber nicht so wichtig nehmen – sie selber hatte die Flucht und hat den Verlust der Heimat ja konkret nicht erlebt –, dass jemand hier seine Verbandsinteressen, seine Funktionärsinteressen zurückstellen kann und auch zurückstehen sollte.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit dem Journalisten Klaus Harpprecht. Er hat im vergangenen Jahr eine sehr umfangreiche Biografie von Marion Dönhoff veröffentlicht mit dem Titel "Die Gräfin". Heute wäre die Gräfin 100 Jahre alt geworden. Jetzt haben wir ganz viel über die zweite Hälfte ihres Lebens gesprochen, Herr Harpprecht, gehen wir mal noch ein bisschen weiter zurück.

Es gibt ein ganz wichtiges Datum im Leben von Marion Dönhoff, das auch ein ganz wichtiges Datum überhaupt für alle Deutschen sein sollte, und dafür hat sie stets gekämpft: der 20. Juli 1944, das gescheiterte Attentat damals. Welche Rolle hat sie selber denn dabei gespielt, warum war ihr das so wichtig?

Harpprecht: Sie selber spielte keine allzu große Rolle, sie hat wohl diese und jene Kurierdienste zwischen den Beteiligten, die sie gut kannten und die ihr vertrauten, übernommen gehabt, aber es waren zum Teil ihre engsten Vertrauten. Und so hat sie wohl unmittelbar nach dem Ereignis es als ihren Auftrag empfunden, die historische Markierung des Widerstandes festzuhalten und Zeugnis davon abzulegen.

Und sie hat auch 1946 in der damals noch sehr, sehr jungen Wochenzeitung "Die Zeit" den ersten Artikel darüber geschrieben. Und es verging kein Jahrestag, ohne dass sie dieser großen Tat gedacht hat. Und ich glaube, ihr ist es zu verdanken, dass der Widerstand insgesamt in die Gründungsgeschichte der neuen deutschen Demokratie und der Bundesrepublik aufgenommen worden sind. Das ist eine große Leistung.

Kassel: Herr Harpprecht, jetzt haben wir ja sehr sachlich über verschiedene, natürlich bei Weitem nicht alle wichtige Punkte im Leben von Marion Gräfin Dönhoff geredet, das hätte ihr vermutlich gefallen, Sachlichkeit hat sie ja immer sehr geschätzt bei sich und bei anderen. Dennoch, Sie sind ja für ihre Biografie tief in Archive eingestiegen, haben eine Menge nachlesen dürfen, was vorher nicht so bekannt war, ganz kurz, in wenigen Worten, in einem Satz: Wenn Sie persönlich jetzt an ihrem 100. Geburtstag an die Gräfin zurückdenken, welche Adjektive fallen Ihnen denn da zunächst ein?

Harpprecht: Mir fallen natürlich die letzten Begegnungen mit ihr ein. Wann immer ich nach Hamburg kam, hatten wir eine Stunde zusammen in ihrem sehr bescheidenen Zimmer, tranken Tee, sprachen über den Zustand der Weltsprachen, über den Zustand der Zeit, sprachen gelegentlich auch über alte Zeiten.

Und sie hat, je älter sie wurde, einen sehr, sehr bezwingenden, fast mädchenhaften Charme entwickelt. Die Greisin Marion Dönhoff wurde eigentlich wieder die ganz junge Marion Dönhoff, in der man das Gesicht der kleinen Gräfin aus dem großen ostpreußischen Gut wiedererkannte. Es war ein sehr humanes Gesicht, es war ein sehr liebenswertes Gesicht, und es war ein Gesicht, das ich in Erinnerung behalte.

Kassel: Dankeschön! Klaus Harpprecht war das, Autor der Biografie "Die Gräfin Marion Dönhoff". Das Buch ist im Rowohlt-Verlag erschienen, und heute wäre Marion Gräfin Dönhoff 100 Jahre alt geworden.