"Eine große Gemeinschaftsaufgabe aller Deutschen"

Moderation: Birgit Kolkmann · 25.09.2007
Der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, hat davor gewarnt, den Stand der Deutschen Einheit ausschließlich nach kaufmännischen Kriterien zu beurteilen. Man müsse bedenken, dass Ostdeutschland immer noch mit einem gewaltigen Transformationsprozess zu kämpfen habe, sagte der CDU-Politiker.
Birgit Kolkmann: Vor 18 Jahren fiel die Mauer und die deutsche Einheit wird jetzt 17. Morgen in einer Woche ist es wieder so weit: Tag des Feierns, Tag der Einheit, Tage der Fragen, wie steht es denn um die Einheit. Bleiben wir ein Land der zwei Geschwindigkeiten, der Unterschiede? Wie lange noch hängt der Osten Deutschlands am Tropf des Solidarpakts? Der zuständige Minister Tiefensee hat vergangene Woche in seinem Einheitsbericht eine wahrscheinlich realistische Prognose ausgegeben. 15 bis 20 Jahre lang wird der Osten noch auf Hilfen angewiesen sein. – Lothar de Maizière (CDU) war der letzte Ministerpräsident der DDR während des letzten halben Jahres bis zur Einheit. Ihn begrüße ich jetzt in der "Ortszeit". Schönen guten Morgen!

Lothar de Maizière: Guten Morgen!

Kolkmann: Herr de Maizière, die Einheitsfragen zum 3. Oktober, wann hat es der Osten endlich gepackt, gehen die Ihnen eigentlich auf die Nerven?

de Maizière: Ein bisschen schon. Jedes Jahr zum 3. Oktober fangen die Leute an, Bilanz zu ziehen und meinen, mit Soll und Haben könne man den Begriff der Einheit packen. Ich glaube die Einheit ist etwas ganz anderes, das sich mit kaufmännischen Begriffen nicht erfassen lässt, sondern sie ist eine große Gemeinschaftsaufgabe aller Deutschen, die das Abtragen der letzten Kriegsfolgelasten bedeutet. Letztendlich sind die großen und gravierenden Unterschiede zwischen West und Ost Folge dessen, dass die vier Alliierten sich in Jalta geeinigt hatten, den östlichen Teil Deutschlands den Sowjets zuzuschanzen.

Kolkmann: Wenn Sie an Deutschland-Ost denken, welche Bilder haben Sie da im Kopf? Welche Szenen beschreiben denn die aktuelle Situation am besten?

de Maizière: Die sind sehr unterschiedlich. Da sehe ich einmal – ich war vor zwei Tagen in Weimar – eine blendend restaurierte Stadt mit Tourismus und einer Anna-Amalia-Bibliothek, die zumindest im Äußeren schon wieder völlig aufgebaut ist, und ich sehe Ähnliches in Erfurt oder in Wismar. Gleichzeitig höre ich Worte wie Mügeln oder Hoyerswerda. Das ist die Spannung, in der der Osten Deutschlands nach diesem Riesen-Transformationsprozess lebt. Sie müssen ja immerhin bedenken: die Leute haben in einer kurzen Zeit ein neues politisches System, ein neues ökonomisches System, eine neue Rechtsordnung, ein neues Bildungswesen und einen neuen Wertekatalog verkraften müssen.

Kolkmann: Und verkraften müssen, dass es keine Arbeit gibt. Junge Leute wandern ab. Entvölkerte Ortschaften gibt es, wo zum Teil nur noch eine Hand voll Menschen leben, und zugleich Rechtsradikale, die die friedlichen Bürger tyrannisieren.

de Maizière: Und weil ihnen auch die Mädchen davonlaufen.

Kolkmann: Die sind schon immer mal die flotteren gewesen!

de Maizière: Ja, das ist wohl wahr. – Aber ich meine selbst wenn wir den Bericht von Tiefensee lesen, spricht er eben auch davon, dass die Arbeitslosigkeit im Durchschnitt 14,7 Prozent beträgt. Wir hatten Zeiten, wo sie im Osten Deutschlands über 20 betrug. Aber das ist tatsächlich das Hauptproblem, wie die Arbeitsmarktsituation sich darstellt, und das ist auch regional unterschiedlich. In Dresden und Leipzig wird es besser sein als es eben in den Dörfern in Nord-Vorpommern ist.

Kolkmann: Nun gab es gerade gestern ja eine positive Nachricht, nämlich Mecklenburg-Vorpommerns Wirtschaft ist im ersten Halbjahr dieses Jahres im Vergleich zu den anderen Bundesländern überdurchschnittlich gewachsen. Ist also Meck-Pomm nicht mehr nur arm, sondern auch schön und wachsend?

de Maizière: Nein. Erst mal ist Meck-Pomm ohnehin ein wunderschönes Land. Ich habe voriges Jahr an der Müritz Urlaub gemacht. Das war mit einer der schönsten Urlaube der letzten Jahre. Diese vier Prozent freuen einen, aber was fast noch wichtiger ist: Meck-Pomm ist eines von den beiden Bundesländern, das dieses Jahr einen ausgeglichenen Haushalt vorgelegt hat ohne Neuverschuldung. Nur Sachsen und Meck-Pomm. Die anderen Länder leben nach wie vor immer noch auf Pump und auf Zukunft hin orientiert. Also ich glaube, dass man nicht immer sagen kann, Meck-Pomm ist das Armenhaus Deutschlands oder das Saarland des Ostens, sondern auch dort gibt es Unterschiede. Dort ist Rostock und Wismar und Greifswald, eine sehr schöne Universitätsstadt, aber es gibt eben die Dörfer, in denen früher nur noch die NVA-Struktur bestimmend war, die Volksarmee. Dort ist es schwer.

Kolkmann: Wolfgang Tiefensee hat als zuständiger Minister ja auch eine Stärkung der Zivilgesellschaft gefordert, das Ehrenamt des Bürgers gegen Rechts. Kann man denn so was wie Zusammenhalt, wie ziviles Engagement verordnen?

de Maizière: Verordnen kann man es nicht, aber wir können hoffen, dass sich in jeder Region ein, zwei Leute finden, die das leben und die mitreißen. Ich habe dieser Tage einen jungen Elektriker kennengelernt, der in einem winzigen Dorf in Brandenburg eine Sportgemeinschaft aufbaut, und es gibt eben auch andere Vereinigungen, die jedes Jahr wieder versuchen, zivilgesellschaftlichen Schwung in die Gesellschaft hineinzutragen.

Kolkmann: Das versuchen Sie quasi auch von der prominenten Seite aus. Engagement wird geehrt mit der Quadriga, dem politischen Preis, der am Tag der Deutschen Einheit verliehen wird an vier Persönlichkeiten oder Institutionen. Sie sitzen im Kuratorium. Wer bekommt in diesem Jahr, also nächste Woche die Quadriga in der Komischen Oper in Berlin?

de Maizière: Einmal bekommt dieses Jahr Altbundeskanzler Gerhard Schröder den Preis für seinen Mut. "Wagnis der Zäsur" nennen wir den Preis. Wir wissen, wie sehr er vor Jahren angegriffen wurde mit seiner Agenda 2010. Noch heute sind wir der Meinung, jedes was schief läuft sei Agenda 2010.

Kolkmann: Ist das nicht eine etwas staatstragende Verleihung?

de Maizière: Die Deutsche Gesellschaft ist ein eingetragener Verein, der sich in den frühen 90er Jahren gegründet hat, weil wir gesagt haben, Deutschland ist nicht ein fertiger Zustand, sondern eine Werkstatt. Wir wollen diesem Werkstattcharakter durchaus noch Rechnung tragen, indem wir sagen wir zeichnen auch Leute aus, die an diesem Werk mitgefeilt haben. Wenn die Bundeskanzlerin in der Haushaltsdebatte vor 14 Tagen sagt, den Aufschwung, den wir jetzt haben, verdanken wir auch mit der Agenda 2010 und Schröder, und damit den Sozialdemokraten in der Diskussion sogar noch die Schau nimmt, dann können wir doch als Werkstatt ihn ohnehin auszeichnen.

Kolkmann: Wenn also Gerhard Schröder beim diesjährigen Quadriga-Preis das eine Pferd bekommt, wer kriegt die anderen drei?

de Maizière: Die Königin Silvia von Schweden für ihr vielfältiges soziales Engagement, zwei uns unbekannte Damen. Das sind zwei Mütter, die mit dem 11. September 2001 zu tun haben und die gesagt haben, wir müssen den Hass überwinden und wollen Versöhnung vorleben. Die eine Mutter eines Opfers ist auf einen Täter losgegangen und umgekehrt. Das finden wir ein besonders schönes Zeichen. Und letztlich bekommt der "Spiegel" als Institution die Auszeichnung. Der "Spiegel" als die Zeitschrift, die die Bundesrepublik 60 Jahre begleitet hat. Fangen wir an mit Skandalen der 50er Jahre, trotz der Tatsache, dass der "Spiegel" 1990 gegen die deutsche Einheit war, aber er hat sich auch damit abgefunden.

Kolkmann: Das war Lothar de Maizière, der ehemalige und letzte Ministerpräsident der DDR, zum Tag der Deutschen Einheit, der wieder auf uns zukommt. Danke für das Gespräch!