Eine Gier nach dem Unterwegssein

Iwan Bunin erhielt 1933 als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er gilt als großer Stilist, dessen Prosa sich weniger über Handlungen als über "Stimmungen" mitteilt. In dem Band "Der Sonnentempel" schildert er Orte wie Konstantinopel, Jerusalem oder Kairo. Er suchte sie auf, um die Schwingungen ihrer alten Kulturen und Religionen aufzunehmen.
Eine "uralte" Weltkarte vor sich, notiert Iwan Bunin 1924: "Wieder werfe ich einen Blick darauf – zum wievielten Male im Leben, und noch immer begierig!" Solche Gier speist sich natürlich nicht aus einem oberflächlichen touristischen Interesse, ist alles andere als simple Reiselust oder diffuses Fernweh. Was ihm das Unterwegssein bedeutete, hat der Autor als Erinnerung an sein erstes Reiseabenteuer, eine Fahrt über die Stromschnellen des Dnjepr im Süden Russlands, einem Bekenntnis gleich aufgeschrieben:

"Mir hat sich (...) die Schönheit der Natur erschlossen, die tiefe Verbindung künstlerischer Werke mit der Heimat ihrer Schöpfer, der Reiz der Erforschung des Volkes und die Poesie von Freiheit und Willen ..."

Vor allem die russischen Reiseschilderungen atmen diesen Geist des entdeckenden Er-Fahrens, einer wesentlich sinnlichen Bereicherung (neben "Wissenschaft" und "Buchwissen"), die Bunin in hinreißenden Schilderungen nachempfindbar macht: Steppen- oder Flusslandschaften, das Spiel der Wolkenformationen oder der Lichtverhältnisse, Geräusche und Begegnungen verdichten sich bei dem großen Stilisten zu beinahe greifbaren Spiegelungen der erlebten Momente.

Mit den Entfernungen, mit den Lebensjahren auch, erweitert sich Bunins geistiger Blick auf die Daseinsform Reisen. Das bewegte In-der-Welt-sein wird zur Metapher einer universalen Zugehörigkeit in Raum und Zeit.

"Mein Leben ist bebende und freudige Teilnahme am Ewigen und Zeitlichen, am Nahen und Fernen, an allen Jahrhunderten und Ländern, am Leben all dessen, was auf dieser Erde, die ich so liebe, existiert hat und existiert."

Das dies mehr meint als eine selig verzückte Weltumarmungsgeste, liest man in den Texten, die von Konstantinopel, Athen, Alexandria, Jerusalem, Bethlehem, Jericho, Beirut, Baalbek, Kairo, schließlich auch Ceylon und Indien handeln. Der religiöse (und bibelfeste) Bunin sucht solche Orte auf, um die Schwingungen ihrer Jahrtausende alten Kulturen und Religionen aufzunehmen. (An "Buchwissen" mangelt es ihm dabei auch mit Blick auf den Koran, buddhistische Schriften oder hinduistische Veden nicht, er breitet das aber nicht schulmeisterlich aus, sondern deutet es mit kurzen Zitaten allenfalls an.)

Das Betreten und Betrachten eines Ortes wird auf diese Weise zu einem Akt höchster Teilhabe am Entwicklungsgang der Gattung Mensch, kaum weniger, und auch diese vibrierenden Exaltationen vermittelt Bunins sprachliches Können, das in seiner Übersetzerin eine zuverlässige Mitarbeiterin hatte.

Zum Autor
Iwan Bunin (1870-1953) wurde in Woronesh geboren, er wuchs in einer verarmten Familie des Landadels auf. Nach Arbeiten als Journalist widmete er sich zunehmend dem literarischen Schreiben, lernte Tolstoi und Tschechow kennen. Sein zweiter Erzählungsband, "Antonäpfel" (1900) sorgte für seinen literarischen Durchbruch, viel beachtet wurde auch die Sammlung "Das Dorf" (1910) sowie der Prosatext "Der Herr aus San Francisco" (1915). 1920 emigrierte er und ließ sich in Paris nieder. 1927 erschien sein autobiografischer Roman "Das Leben Arsenjews". 1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Bunin gilt als der große Chronist des Niedergangs des russischen Landadels und großer Stilist, dessen Prosa sich weniger über Handlungen als über "Stimmungen" mitteilt.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Iwan Bunin: Der Sonnentempel. Literarische Reisebilder 1897 – 1924
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas Grob
Dörlemann Verlag, Zürich 2008
415 Seiten, 24,90 Euro