"Eine Gesellschaft wird nicht nur durch eine einzige Monokultur bestimmt"
Die beiden Journalisten Dilek Zaptcioglu und Jürgen Gottschlich glauben nicht daran, dass eine Gesellschaft durch eine "Leitkultur" bestimmt wird. Es gebe in allen Gesellschaften verschiedene Lebensweisen, sagten sie im Deutschlandradio Kultur. Allerdings gebe es Wertesysteme, die das Leben in der Türkei und in Deutschland unterschiedlich prägten.
Wuttke: Über Werte wird seit Wochen wieder heftig diskutiert, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland, denn die erste Amtshandlung des neuen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert war es, die Leitkulturdebatte wieder auf das Tapet zu heben. Wie aber definiert man diese Werte eigentlich, nach denen man entweder noch sucht oder die man in Frage stellt?
"Das Kreuz mit den Werten" haben Dilek Zaptcioglu und Jürgen Gottschlich ihr Buch genannt, in dem sie sich mit der deutschen und der türkischen Leitkultur beschäftigen. Jetzt begrüße ich die beiden hier im Studio. Frau Zaptcioglu, warum haben Sie "Leitkulturen" in den Untertiteln gesetzt?
Zaptcioglu: Das soll natürlich sagen, es gibt nicht nur eine Leitkultur, eine Gesellschaft wird nicht nur durch eine einzige Monokultur bestimmt, sondern es gibt verschiedene Lebensweisen, es gibt verschiedene Kulturen auch innerhalb einer einzigen Gesellschaft.
Wuttke: Gibt es denn tatsächlich eine türkische Leitkultur?
Zaptcioglu: Sagen wir mal, es gibt ein Wertesystem, eine Werteordnung, die - vielleicht unausgesprochen - das Verhalten, die Lebensweise der Mehrheit der Türken bestimmt.
Wuttke: Die sieht wie aus?
Zaptcioglu: Das ändert sich. In der Türkei sieht die anders aus als zum Beispiel unter den Türken in Deutschland. In der Türkei wird das bestimmt eher vom Gemeinschaftssinn, von Familie sehr stark geprägt im Verhältnis zu Deutschland, wo die Gemeinschaft, die Gesellschaft mehr im Hintergrund steht als das Individuum.
Wuttke: Herr Gottschlich, Sie leben, glaube ich, seit sieben Jahren in Istanbul. Teilen Sie die Meinung? Erleben Sie das auch so?
Gottschlich: Na ja, gut, also mein Eindruck ist, dass so wenig, wie in Deutschland die Leitkultur existiert, existiert in der Türkei eine. Also für mich ist eher ein bisschen das Überraschende auch gewesen, wie ausdifferenziert eigentlich auch die türkische Gesellschaft ist, wie große regionale Unterschiede es gibt und welche unterschiedlichen, also gerade in Istanbul, wie viele unterschiedliche Kulturen da eigentlich nebeneinander existieren oder aufeinander prallen.
Also nicht nur der Konflikt, den man hier auch wahrnimmt zwischen der laizistischen, säkular ausgerichteten Gruppen der Gesellschaft und der eher traditionell religiösen, sondern Leute vom Land, Leute, die einfach urbane Leute sind, die als Singles leben, und traditionelle Familien gleich nebenan.
Also der Mix ist unglaublich groß, und das war eigentlich auch ein bisschen mit ein Anliegen dieses Buches, das klarzumachen, also dass es keinen Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen geben würde, auch jetzt, die Frage steht immer im Hintergrund, ist die Türkei sozusagen EU-kompatibel von den Werten her, um einfach ein bisschen von der Fiktion runterzukommen, da kommt ein monolithischer Block, islamisch geprägt, auf uns zu, das ist einfach Unsinn.
Wuttke: Wie beweglich, um dieses Wort mal zu benutzen, ist denn dann die türkische Gesellschaft?
Gottschlich: Die türkische Gesellschaft ist unglaublich dynamisch, und der Wertewandel ist einfach größer als hier, passiert schneller. Die ökonomische Entwicklung ist schneller. Also im Vergleich zu der Situation in der Türkei herrscht hier Stillstand.
Wuttke: Aber Zwangsehen, Ehrenmorde, eine Ministerpräsidentengattin in einem laizistischen Staat, die niemals ohne Kopftuch zu sehen ist, das sind die Dinge, die man hier wahrnimmt. Sie sagen, es verändert sich schneller, als man denkt. Frau Zaptcioglu, wie sehen Sie das?
Zaptcioglu: Also ich denke, dass in der Wahrnehmung von Frauen und Männern, was die türkische Gesellschaft im Moment angeht, ein großer Unterschied ist. Männer nehmen Dinge nicht wahr, die wir Frauen anders wahrnehmen, nämlich dass durchaus ein Kulturkampf in der Türkei im Moment ausgefochten wird, und zwar auf dem Rücken der Frauen. Das heißt, der Stellenwert der Frau in der Gesellschaft, wie sie sich zu benehmen hat, ob sie einen Beruf ausüben soll oder nicht, ob sie nur für die Familie da sein soll oder nicht, das sind eigentlich sehr wichtige Dinge, die im Moment auch durch die konservativ-islamische Regierung und der Lebensstil, den diese Regierung über das Land wie ein Mantel auszubreiten versucht, ja, also fühlbar sind.
Es gibt einen großen Widerstand auch dagegen, vor allem in den Großstädten, Frauen, die sich das nicht gefallen lassen möchten, dass also die Frauen, die an den kemalistischen Revolutionen sozusagen von vor 80 Jahren festhalten wollen, die Gleichberechtigung wollen, gegen die Frauen, die eben auch die Verhüllung befürworten oder das Kopftuch, die eine bestimmte traditionelle Rolle der Frau befürworten. Also es gibt durchaus in der Türkei einen Kulturkampf in der Hinsicht.
Wuttke: Wie weit auseinander in der Mentalität liegen die Menschen in Istanbul, natürlich die Metropole, im Gegensatz zu den Provinzen?
Zaptcioglu: Es gibt einen großen Unterschied schon insofern, dass die Menschen in den Metropolen, wie Jürgen schon sagte, sehr viel westlicher, sehr viel moderner leben. Es gibt zum Beispiel junge Frauen, die fertig studieren, sich unverheiratet eine Wohnung nehmen, alleine, die alleine ihr Leben weiterführen, als ob sie in Berlin oder Paris lebten.
Wuttke: Aber das, was in den Provinzen ja möglicherweise gelebt wird, es wird ja auch mit Klischees und Vorurteilen hantiert, das ist doch das, was man interessant findet im Blick auf die Türkei auf dem Weg in eine Europäische Gemeinschaft.
Gottschlich: Was wir versuchen zu zeigen oder versuchen zu sagen mit dem Buch, ist, dass diese so genannten "Werte" auch materiell fundiert sind. Das ist auch der Unterschied zwischen Istanbul und der Provinz. Also je ärmer die Provinz - es gibt ja auch noch unterschiedliche Provinzen in der Türkei -, umso traditioneller, umso stärker die Großfamilie. Um individuell leben zu können, muss man sich individuell finanzieren können. Wenn man auf die Familie auch ökonomisch als Solidargemeinschaft angewiesen ist, sind auch die traditionellen Normen natürlich stärker. Das löst sich auf, wenn man in die Zentren in der Westtürkei geht, die natürlich auch weiter sind.
Wuttke: Also indirekt sagen Sie damit, die Türkei in der Europäischen Union mit einer verbesserten ökonomischen Situation würde die Angleichung zwischen der Kluft in den türkischen Metropolen und in den Provinzen zusammenschnurren lassen?
Gottschlich: Das ist die Hoffnung, und ich glaube, die ist auch begründet. Man sieht es in anderen südeuropäischen Ländern in dem Annäherungsprozess, den sie gemacht haben, also Griechenland, Spanien, Portugal. Ich meine, die Differenz zwischen Nord und Süd ist in Italien heute noch groß, also wenn ich in Kalabrien bin, ist es anders als in Mailand, und so ist es auch in der Türkei.
Wuttke: Warum haben Sie diesen sehr brisanten Begriff der Leitkulturen als Untertitel in Ihr Buch hier reingenommen? War das Absicht, war das gewollt, wollten Sie provozieren, oder haben Sie gar kein Problem mit dem Begriff der Leitkultur?
Gottschlich: Ja, doch, schon. Ich meine, das ist in Diskussion mit dem Verlag entstanden, auch um einfach die Leute abzuholen an dem Punkt, wo die Debatte ist. Hat ja auch jetzt ganz gut gepasst.
Wuttke: Würden Sie denn selber eine Alternative haben, diesen Begriff zu ersetzen, ihm mehr Stoff zu geben, mehr Basis?
Gottschlich: Ja, also ich empfinde Leitkultur natürlich als einen ideologischen Kampfbegriff, der letztlich dazu führen soll, zu sagen: Die sind nicht so wie wir. Also ich finde den Begriff insgesamt falsch.
Wuttke: Inwiefern?
Gottschlich: Ja, ich glaube, dass es weder erstrebenswert noch real ist, eine bestimmte Leitkultur durchsetzen zu wollen. Es gibt einen Mix von Kulturen und kulturelle Koexistenzen, die auch erhalten bleiben sollen. Warum soll man Monokulturen durchsetzen wollen?
Zaptcioglu: Aber worauf wir vielleicht doch keine eindeutige Antwort haben, ist, wenn in einer Gesellschaft bestimmte große Strömungen entstehen wie in der Türkei zum Beispiel, dass eine Strömung zum Beispiel keinen Alkohol trinkt, die Frauen sich verhüllen und in der Öffentlichkeit sich Mann und Frau nicht zueinander gesellen, also das ist ein ganz anderer Lebensstil, als die anderen, die modernen es haben. Das heißt, diese Kreise leben eigentlich in der Türkei nicht zusammen, sondern nebeneinander her, und das ist auf die Dauer kein haltbarer Zustand.
Die Alternative kann nicht sein, dass jeder dieselbe Kultur, dieselbe Lebensweise hat, das wäre auch sehr langweilig. Aber es muss etwas dazwischen geben, einen Raum, wo man sagen kann, nicht jeder muss auf dieselbe Art und Weise leben, aber es muss doch eine bestimmte "Leitkultur" oder eine bestimmte Einstellung sein zum Leben, dass man sagt, Frau und Mann sind gleichberechtigt, es soll keine autoritären, traditionellen Familien geben, die den Kindern vorschreiben, was sie zu tun und lassen haben.
Also es gibt bestimmte Werte und Normen, hinter denen wir stehen sollten und müssen, um auch diese Toleranz eigentlich zu verteidigen, dass nicht jeder so leben muss, aber es muss schon eine Hauptlinie in der Gesellschaft geben, damit sie auch Zukunft hat.
Wuttke: Sie haben sich nun viel mit Leitkulturen beschäftigt. Wie sehen Sie denn eigentlich, Herr Gottschlich, die Diskussion, die in Deutschland immer geführt wird und gerade mal wieder einen bösen Höhepunkt erlebt hat, auch wenn wir nicht genau wissen, wie wir eigentlich diesen Begriff zu füllen haben?
Gottschlich: Ja, das Spannende dabei ist ja auch, worauf Dilek auch anspielt, dass hier vielfach gesagt wird, der Islam repräsentiert eine Kultur, die auch statisch ist, die sich nicht verändert, also Repression gegen Frauen existiert, seit es die Religion gibt, und wird sozusagen immer existieren, oder - das ist auch das Spannende, finde ich, was in dieser kulturellen Auseinandersetzung in der Türkei passiert - wird auch im Islam genauso wie in anderen monotheistischen Religionen das hinterfragt, also gibt es eine Entwicklung dann dabei, die parallel zu einer bestimmten gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung sich abzeichnet. Also ich glaube, das ist so, und das werden wir auch sehen, und deswegen finde ich den Versuch, das so statisch festzulegen, völlig vertan.
Wuttke: Sie brechen eine Lanze für die Türkei. Sie leben zusammen als Paar in Istanbul. Worüber streiten Sie sich dann eigentlich zu Hause manchmal?
Gottschlich: Wie hoch man die Heizung stellt.
Wuttke: Herzlichen Dank für das Gespräch.
"Das Kreuz mit den Werten" haben Dilek Zaptcioglu und Jürgen Gottschlich ihr Buch genannt, in dem sie sich mit der deutschen und der türkischen Leitkultur beschäftigen. Jetzt begrüße ich die beiden hier im Studio. Frau Zaptcioglu, warum haben Sie "Leitkulturen" in den Untertiteln gesetzt?
Zaptcioglu: Das soll natürlich sagen, es gibt nicht nur eine Leitkultur, eine Gesellschaft wird nicht nur durch eine einzige Monokultur bestimmt, sondern es gibt verschiedene Lebensweisen, es gibt verschiedene Kulturen auch innerhalb einer einzigen Gesellschaft.
Wuttke: Gibt es denn tatsächlich eine türkische Leitkultur?
Zaptcioglu: Sagen wir mal, es gibt ein Wertesystem, eine Werteordnung, die - vielleicht unausgesprochen - das Verhalten, die Lebensweise der Mehrheit der Türken bestimmt.
Wuttke: Die sieht wie aus?
Zaptcioglu: Das ändert sich. In der Türkei sieht die anders aus als zum Beispiel unter den Türken in Deutschland. In der Türkei wird das bestimmt eher vom Gemeinschaftssinn, von Familie sehr stark geprägt im Verhältnis zu Deutschland, wo die Gemeinschaft, die Gesellschaft mehr im Hintergrund steht als das Individuum.
Wuttke: Herr Gottschlich, Sie leben, glaube ich, seit sieben Jahren in Istanbul. Teilen Sie die Meinung? Erleben Sie das auch so?
Gottschlich: Na ja, gut, also mein Eindruck ist, dass so wenig, wie in Deutschland die Leitkultur existiert, existiert in der Türkei eine. Also für mich ist eher ein bisschen das Überraschende auch gewesen, wie ausdifferenziert eigentlich auch die türkische Gesellschaft ist, wie große regionale Unterschiede es gibt und welche unterschiedlichen, also gerade in Istanbul, wie viele unterschiedliche Kulturen da eigentlich nebeneinander existieren oder aufeinander prallen.
Also nicht nur der Konflikt, den man hier auch wahrnimmt zwischen der laizistischen, säkular ausgerichteten Gruppen der Gesellschaft und der eher traditionell religiösen, sondern Leute vom Land, Leute, die einfach urbane Leute sind, die als Singles leben, und traditionelle Familien gleich nebenan.
Also der Mix ist unglaublich groß, und das war eigentlich auch ein bisschen mit ein Anliegen dieses Buches, das klarzumachen, also dass es keinen Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen geben würde, auch jetzt, die Frage steht immer im Hintergrund, ist die Türkei sozusagen EU-kompatibel von den Werten her, um einfach ein bisschen von der Fiktion runterzukommen, da kommt ein monolithischer Block, islamisch geprägt, auf uns zu, das ist einfach Unsinn.
Wuttke: Wie beweglich, um dieses Wort mal zu benutzen, ist denn dann die türkische Gesellschaft?
Gottschlich: Die türkische Gesellschaft ist unglaublich dynamisch, und der Wertewandel ist einfach größer als hier, passiert schneller. Die ökonomische Entwicklung ist schneller. Also im Vergleich zu der Situation in der Türkei herrscht hier Stillstand.
Wuttke: Aber Zwangsehen, Ehrenmorde, eine Ministerpräsidentengattin in einem laizistischen Staat, die niemals ohne Kopftuch zu sehen ist, das sind die Dinge, die man hier wahrnimmt. Sie sagen, es verändert sich schneller, als man denkt. Frau Zaptcioglu, wie sehen Sie das?
Zaptcioglu: Also ich denke, dass in der Wahrnehmung von Frauen und Männern, was die türkische Gesellschaft im Moment angeht, ein großer Unterschied ist. Männer nehmen Dinge nicht wahr, die wir Frauen anders wahrnehmen, nämlich dass durchaus ein Kulturkampf in der Türkei im Moment ausgefochten wird, und zwar auf dem Rücken der Frauen. Das heißt, der Stellenwert der Frau in der Gesellschaft, wie sie sich zu benehmen hat, ob sie einen Beruf ausüben soll oder nicht, ob sie nur für die Familie da sein soll oder nicht, das sind eigentlich sehr wichtige Dinge, die im Moment auch durch die konservativ-islamische Regierung und der Lebensstil, den diese Regierung über das Land wie ein Mantel auszubreiten versucht, ja, also fühlbar sind.
Es gibt einen großen Widerstand auch dagegen, vor allem in den Großstädten, Frauen, die sich das nicht gefallen lassen möchten, dass also die Frauen, die an den kemalistischen Revolutionen sozusagen von vor 80 Jahren festhalten wollen, die Gleichberechtigung wollen, gegen die Frauen, die eben auch die Verhüllung befürworten oder das Kopftuch, die eine bestimmte traditionelle Rolle der Frau befürworten. Also es gibt durchaus in der Türkei einen Kulturkampf in der Hinsicht.
Wuttke: Wie weit auseinander in der Mentalität liegen die Menschen in Istanbul, natürlich die Metropole, im Gegensatz zu den Provinzen?
Zaptcioglu: Es gibt einen großen Unterschied schon insofern, dass die Menschen in den Metropolen, wie Jürgen schon sagte, sehr viel westlicher, sehr viel moderner leben. Es gibt zum Beispiel junge Frauen, die fertig studieren, sich unverheiratet eine Wohnung nehmen, alleine, die alleine ihr Leben weiterführen, als ob sie in Berlin oder Paris lebten.
Wuttke: Aber das, was in den Provinzen ja möglicherweise gelebt wird, es wird ja auch mit Klischees und Vorurteilen hantiert, das ist doch das, was man interessant findet im Blick auf die Türkei auf dem Weg in eine Europäische Gemeinschaft.
Gottschlich: Was wir versuchen zu zeigen oder versuchen zu sagen mit dem Buch, ist, dass diese so genannten "Werte" auch materiell fundiert sind. Das ist auch der Unterschied zwischen Istanbul und der Provinz. Also je ärmer die Provinz - es gibt ja auch noch unterschiedliche Provinzen in der Türkei -, umso traditioneller, umso stärker die Großfamilie. Um individuell leben zu können, muss man sich individuell finanzieren können. Wenn man auf die Familie auch ökonomisch als Solidargemeinschaft angewiesen ist, sind auch die traditionellen Normen natürlich stärker. Das löst sich auf, wenn man in die Zentren in der Westtürkei geht, die natürlich auch weiter sind.
Wuttke: Also indirekt sagen Sie damit, die Türkei in der Europäischen Union mit einer verbesserten ökonomischen Situation würde die Angleichung zwischen der Kluft in den türkischen Metropolen und in den Provinzen zusammenschnurren lassen?
Gottschlich: Das ist die Hoffnung, und ich glaube, die ist auch begründet. Man sieht es in anderen südeuropäischen Ländern in dem Annäherungsprozess, den sie gemacht haben, also Griechenland, Spanien, Portugal. Ich meine, die Differenz zwischen Nord und Süd ist in Italien heute noch groß, also wenn ich in Kalabrien bin, ist es anders als in Mailand, und so ist es auch in der Türkei.
Wuttke: Warum haben Sie diesen sehr brisanten Begriff der Leitkulturen als Untertitel in Ihr Buch hier reingenommen? War das Absicht, war das gewollt, wollten Sie provozieren, oder haben Sie gar kein Problem mit dem Begriff der Leitkultur?
Gottschlich: Ja, doch, schon. Ich meine, das ist in Diskussion mit dem Verlag entstanden, auch um einfach die Leute abzuholen an dem Punkt, wo die Debatte ist. Hat ja auch jetzt ganz gut gepasst.
Wuttke: Würden Sie denn selber eine Alternative haben, diesen Begriff zu ersetzen, ihm mehr Stoff zu geben, mehr Basis?
Gottschlich: Ja, also ich empfinde Leitkultur natürlich als einen ideologischen Kampfbegriff, der letztlich dazu führen soll, zu sagen: Die sind nicht so wie wir. Also ich finde den Begriff insgesamt falsch.
Wuttke: Inwiefern?
Gottschlich: Ja, ich glaube, dass es weder erstrebenswert noch real ist, eine bestimmte Leitkultur durchsetzen zu wollen. Es gibt einen Mix von Kulturen und kulturelle Koexistenzen, die auch erhalten bleiben sollen. Warum soll man Monokulturen durchsetzen wollen?
Zaptcioglu: Aber worauf wir vielleicht doch keine eindeutige Antwort haben, ist, wenn in einer Gesellschaft bestimmte große Strömungen entstehen wie in der Türkei zum Beispiel, dass eine Strömung zum Beispiel keinen Alkohol trinkt, die Frauen sich verhüllen und in der Öffentlichkeit sich Mann und Frau nicht zueinander gesellen, also das ist ein ganz anderer Lebensstil, als die anderen, die modernen es haben. Das heißt, diese Kreise leben eigentlich in der Türkei nicht zusammen, sondern nebeneinander her, und das ist auf die Dauer kein haltbarer Zustand.
Die Alternative kann nicht sein, dass jeder dieselbe Kultur, dieselbe Lebensweise hat, das wäre auch sehr langweilig. Aber es muss etwas dazwischen geben, einen Raum, wo man sagen kann, nicht jeder muss auf dieselbe Art und Weise leben, aber es muss doch eine bestimmte "Leitkultur" oder eine bestimmte Einstellung sein zum Leben, dass man sagt, Frau und Mann sind gleichberechtigt, es soll keine autoritären, traditionellen Familien geben, die den Kindern vorschreiben, was sie zu tun und lassen haben.
Also es gibt bestimmte Werte und Normen, hinter denen wir stehen sollten und müssen, um auch diese Toleranz eigentlich zu verteidigen, dass nicht jeder so leben muss, aber es muss schon eine Hauptlinie in der Gesellschaft geben, damit sie auch Zukunft hat.
Wuttke: Sie haben sich nun viel mit Leitkulturen beschäftigt. Wie sehen Sie denn eigentlich, Herr Gottschlich, die Diskussion, die in Deutschland immer geführt wird und gerade mal wieder einen bösen Höhepunkt erlebt hat, auch wenn wir nicht genau wissen, wie wir eigentlich diesen Begriff zu füllen haben?
Gottschlich: Ja, das Spannende dabei ist ja auch, worauf Dilek auch anspielt, dass hier vielfach gesagt wird, der Islam repräsentiert eine Kultur, die auch statisch ist, die sich nicht verändert, also Repression gegen Frauen existiert, seit es die Religion gibt, und wird sozusagen immer existieren, oder - das ist auch das Spannende, finde ich, was in dieser kulturellen Auseinandersetzung in der Türkei passiert - wird auch im Islam genauso wie in anderen monotheistischen Religionen das hinterfragt, also gibt es eine Entwicklung dann dabei, die parallel zu einer bestimmten gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung sich abzeichnet. Also ich glaube, das ist so, und das werden wir auch sehen, und deswegen finde ich den Versuch, das so statisch festzulegen, völlig vertan.
Wuttke: Sie brechen eine Lanze für die Türkei. Sie leben zusammen als Paar in Istanbul. Worüber streiten Sie sich dann eigentlich zu Hause manchmal?
Gottschlich: Wie hoch man die Heizung stellt.
Wuttke: Herzlichen Dank für das Gespräch.