"Eine Gesellschaft, die die Moderne nicht mitreflektiert hat"
Vor der türkischen Präsidentschaftswahl sieht der deutsch-türkische Publizist Zafer Senocak eine wachsende Distanz zwischen der türkischen Bevölkerung und den politischen Erben Atatürks. Die Kluft zwischen den Kemalisten, den Anhängern von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der eine Trennung von Staat und Religion eingeführt hatte, und der übrigen Bevölkerung sei sehr tief, sagte Senocak im Deutschlandradio Kultur.
Gabi Wuttke: Neuwahlen und ein Stimmenzuwachs für die konservativ-religiöse AKP, mit dem sie selbst nicht gerechnet hatte. Das waren die Konsequenzen aus dem ersten Versuch von Abdullah Gül, neuer türkischer Präsident zu werden. Was viele Beobachter für ausgeschlossen hielten, dass der fromme Muslim eine zweite Chance bekommen würde. Aber sie haben sich geirrt. Heute geht der türkische Außenminister in die zweite Wahlrunde. Und wie bei der ersten wettern die Kemalisten gegen Gül, warnen vor dem Untergang des säkularen Staates, obwohl Gül hoch und heilig versprochen hat, die Trennung von Staat und Religion nicht anzutasten - so wie Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk sie 1923 verkündet hatte. Mit dem Publizisten Zafer Senocak möchte ich jetzt über den Kemalismus und das Erbe von Atatürk sprechen. Guten Morgen.
Zafer Senocak: Guten Morgen.
Wuttke: Warum wird denn bis heute gerne Atatürks Modernisierung der Türkei mit einer Demokratisierung verwechselt?
Senocak: Ich glaube, das hat den Grund, dass wir die andere Kultur, die muslimische Kultur erst einmal als einen Bereich wahrnehmen, der modernisiert werden muss. Das heißt, es gibt in dieser Kultur Elemente, die vormodern sind, die nicht die Struktur haben, wie wir sie in unseren Gesellschaften, in westlichen Gesellschaften, entwickelt haben, vor allem aufklärerische Werte zählen dazu. Und ohne Zweifel hat ja die Modernisierung, die Mustafa Kemal angestrebt hat, diese Elemente in sich getragen.
Wuttke: Aber eben auch andere.
Senocak: Richtig. Aber wir müssen natürlich sehen, was das für eine Zeit war. Sie haben das ja schon erwähnt, 1923 wurde die Türkische Republik gegründet. Und Atatürks Reformen und politische Herrschaft fallen in die 20er und die 30er Jahre. Und jetzt sollten wir uns mal die Landkarte Europas in dieser Zeit anschauen. Gemessen natürlich an dem, was zum Beispiel in Deutschland und Italien passierte, war Atatürk natürlich Ultrademokrat. Das muss man so sagen.
Aber was heißt das eigentlich? Ich glaube, der Kern des Kemalismus, der heute noch interessant ist, ist, dass er natürlich eine Individualisierung der Gesellschaft versucht hat, aber natürlich vom Zeitgeist geprägt war. Das heißt, diese Individualisierung ging dann ein in starke Kollektivbilder von der Nation, von der Modernisierung. Und das muss heute reflektiert werden, und das wurde in der Türkei zu wenig reflektiert.
Man hatte im Grunde genommen diesen Kemalismus als Bild eingefroren und so als Allheilmittel gegen alles eingesetzt, gegen den Kommunismus, gegen den Islamismus, gegen den kurdischen Separatismus, gegen Europa, gegen Asien, gegen die arabische Welt. Also es wurde so ein Antimittel, so eine Art Impfstoff gegen alles. Und das hat nicht mehr funktioniert. Deswegen heute auch dieser Umbruch, der nicht unbedingt Untergang des Kemalismus sein wird, sondern aus meiner Sicht eher eine Transformation der Gesellschaft, die sogar zu spät kommt.
Wuttke: Darüber sprechen wir gleich noch. Aber vielleicht noch mal etwas zu den Eckpfeilern, um den Kemalismus richtig einordnen zu können. Etatismus, Nationalismus, das sind ja auch aus heutiger Sicht gesehen konservative Werte.
Senocak: Absolut. Wie gesagt, man muss das in der Zeit betrachten. Die Türken haben es nicht geschafft, es in der Zeit selbst zu betrachten, die Gesellschaft, vor allem die bürokratische Elite. Es wurde zu einer Ideologie, und Ideologien haben das ja so an sich, dass sie dann mit der Zeit sozusagen genau zurückschlagen in eine andere Richtung.
Man darf aber den Kemalismus auch so bewerten, dass er im Grunde genommen Endpunkt einer Modernisierung war. Das muss man auch sehen. Die Modernisierung der Gesellschaft in der Türkei beginnt ja noch zu der osmanischen Zeit im 19. Jahrhundert. Also eine Verfassung zum Beispiel zu haben oder auch Grundrechte einzuräumen für Bürger, das geht alles in das 19. Jahrhundert zurück.
Was dann im Grunde genommen passiert ist, und deswegen ist auch eine Kritik des Kemalismus nötig, war ein Widerstreit, ein Konflikt zwischen Kräften, die eher einen Liberalismus nach amerikanisch-britischem Modell anstrebten und diesem sehr französisch orientierte Etatismus, wie Sie schon formuliert haben, zentralistisch, mit einem starken, aufklärerischen Anspruch von oben. …
Wuttke: Machen wir das doch mal ganz konkret. Also man muss sich vorstellen, eine Sprache, nicht mehr die arabische, sondern die lateinische Schrift, für jeden einen neuen Namen, der zum Beispiel dazu führte, dass aus Mustafa Kemal Atatürk der Vater aller Türken wurde. Wie erinnert man sich zum Beispiel in Ihrer Familie an diese Zeit, das war ja ein gewaltiger Umbruch?
Senocak: Richtig, sehr gespalten. Ich komme ja aus einer Familie, die beides in sich trägt. Also mein Vater ist eher muslimisch geprägt, meine Mutter war Lehrerin, kommt aus einer sehr säkular orientierten Familie, aus einer richtigen Beamtenfamilie. Und das sind zwei doch sehr unterschiedliche Welten, die da zusammen kamen. Für mich auch immer interessant zu beobachten, schon als Kind. Auch das Umfeld war sehr unterschiedlich.
Das heißt, diese Janusköpfigkeit der türkischen Gesellschaft gibt es auch manchmal in den Familien tatsächlich. Eher selten eigentlich muss man sagen, weil die doch mehr unter sich bleiben. Es gibt da eher so ein Kastendenken, das heute vielleicht ein bisschen aufgebrochen wird, wo eben auch sehr viel Widerstand dagegen wirkt, dass es aufgebrochen wird.
Aber auf jeden Fall muss sich da sehr, sehr viel tun, weil es ist eine Gesellschaft, die tatsächlich in dieser Stufe der Ideologisierung stehen geblieben ist, und die die Moderne, wie sie sich dann weiterentwickelt hat, eigentlich nicht mitreflektiert hat. Sondern es ist eben eine sehr klassische Moderne, die da im Kopf ist, die mehr auf eine persönliche und individuelle aufklärerische Note setzt und weniger auf so Sachen achtet wie Rechtsstaat – oder beruht.
Dieser Widerspruch in sich liegt ja schon in der Moderne drinnen. Das ist ja nichts, was die Türken geschaffen haben, sondern wenn man die europäische Geschichte anschaut, sieht man ja diese Widersprüche auch, dass im Grunde genommen eine sehr starke, von Staatshand formulierte Modernisierung dann zu einer Art Diktatur führt letztendlich.
Wuttke: Sie haben vorhin schon auf die politische Landkarte der 20er und 30er Jahre verwiesen. Wenn wir jetzt an die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts denken, Sie haben mit Ihrer Familie 1970 Ankara verlassen, vor allem aus politischen Gründen. Aber Millionen von Türken haben das Land verlassen, um ihr Auskommen im Ausland zu suchen. Welche Rolle spielt das?
Senocak: Eine große Rolle, weil dieses Aus-dem-Land-Gehen hat natürlich die Türkei erst einmal auch geöffnet, das muss man sehen. Es gibt ja eine türkische Karte, die natürlich über die Landesgrenzen hinaus reicht. Das ist eine neue Erfahrung für die Türken gewesen, dass sie sozusagen eine Art Diaspora schaffen. Damit haben sie nach wie vor Probleme.
Wuttke: Aber hat es das Land auch ausgeblutet?
Senocak: Nein, das würde ich nicht sagen. Dazu ist das Land zu geburtenstark, und es ist ein sehr junges Land. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist unter 20, das muss man sich mal vorstellen. Wenn man dort auf der Straße läuft, bewegt man sich in einer andere Welt, in einer sehr jungen Welt.
Es gibt ja auch eine Auswanderung aus der Türkei Richtung USA, Richtung Australien, das muss man auch sehen, es ist ja nicht nur Europa. Die Auswanderung der Eliten nach Amerika, das hatte vielleicht in den 60ern, 70ern eine Rolle gespielt, mittlerweile nicht mehr. Viele sind ja auch wieder zurückgekehrt.
Es ist ja wirtschaftlich ein sehr dynamisches Land inzwischen, und auch durch die geographische Lage eigentlich prädestiniert, durch die verschiedenen Energiewege eine wichtige Rolle zu spielen in der Zukunft. Wichtig ist, dass sie eben diese ideologische Auseinandersetzung auf eine zivile Art und Weise löst. Und da sind natürlich die Meinungen unterschiedlich, wie das verläuft.
Wuttke: Atatürk hatte diktatorische Macht, es herrschte sehr lange nur eine einzige Partei und Sie haben kürzlich geschrieben, bei den Parlamentswahlen tendiere das Volk, "immer nur in eine Richtung, es schwächt das staatstragende kemalistische Lager und bringt Kräfte an die Macht, die an die muslimischen Wurzeln des Landes erinnern. In der Türkei heißt mehr Demokratie auch immer mehr Einfluss für den Islam." - Um jetzt noch mal die Janusköpfigkeit aufzugreifen, von der Sie vorhin gesprochen haben: Wie tief ist die Kluft zwischen den kemalistischen Bürgern, dem Militär und dem, was man – in Anführungszeichen – das Volk nennt?
Senocak: Mittlerweile wieder sehr tief muss ich sagen. Das liegt aber vor allem an den Kemalisten, die, glaube ich, die Vorgänge nicht richtig bewerten, die da stattfinden. Die Grundfrage ist doch, ist es möglich, aus der muslimischen Kultur heraus kommend, sich mit den Werten der Aufklärung, des Rechtsstaats, der Demokratie zu versöhnen. Das ist ja der Anspruch auch dieser Regierungspartei.
Und statt diesen Anspruch immer wieder zu prüfen und zu schauen, wo sie stattfindet, wo sie umgesetzt wird, wo nicht, und eine Kritik dieser Linie entlang zu führen, kommt eine Pauschalverurteilung. Und das kann ja nicht funktionieren. Das ist eine Pauschalverurteilung für fast die Mehrheit der Bevölkerung, oder zumindest für die Hälfte, die ja diese Partei gewählt hat.
Wuttke: An dieser Stelle vielleicht ein Zitat aus der "Hürriyet" nach den Wahlen, bei der die AKP ja sehr gut abgeschnitten hat. Da fragte sich also dieses CHP-Blatt, wer benutzt denn hier bei der Wahl seine Hirnhälften?
Senocak: Sehen Sie, das ist eben diese Art der Argumentation. Man muss ja auch sehr vorsichtig sein, bei der Bewertung dieser Partei. Ich glaube, dass sie weder konservativ noch muslimisch ist. Darum geht es gar nicht. Es gibt Politiker, die aus diesem Lager kommen, aber wenn Sie genau die Listen anschauen, und auch wahrscheinlich jetzt die Kabinettsliste, die noch nicht bekannt ist, dann werden Sie da sehr viele Liberale, ja sogar Linke entdecken.
Es gibt einen führenden Sozialdemokraten, … Güney, der in die AKP gewechselt ist und wahrscheinlich Minister wird in diesem Kabinett für Arbeit und Soziales. Und das ist ein gestandener Sozialdemokrat, wie es sie in der Türkei nur selten gibt.
Wuttke: Ein kurzes Wort noch zum Schluss. Wie reformierungsbedürftig ist die CHP?
Senocak: Ich glaube, dass sie nicht mehr reformierungsfähig ist – bedürftig ist sie auf jeden Fall.
Wuttke: Der Publizist Zafer Senocak über den Kemalismus und das Erbe von Atatürk heute vor dem ersten neuen Wahlgang für das türkische Präsidentenamt, für das Abdullah Gül kandidiert. Herzlichen Dank.
Zafer Senocak: Guten Morgen.
Wuttke: Warum wird denn bis heute gerne Atatürks Modernisierung der Türkei mit einer Demokratisierung verwechselt?
Senocak: Ich glaube, das hat den Grund, dass wir die andere Kultur, die muslimische Kultur erst einmal als einen Bereich wahrnehmen, der modernisiert werden muss. Das heißt, es gibt in dieser Kultur Elemente, die vormodern sind, die nicht die Struktur haben, wie wir sie in unseren Gesellschaften, in westlichen Gesellschaften, entwickelt haben, vor allem aufklärerische Werte zählen dazu. Und ohne Zweifel hat ja die Modernisierung, die Mustafa Kemal angestrebt hat, diese Elemente in sich getragen.
Wuttke: Aber eben auch andere.
Senocak: Richtig. Aber wir müssen natürlich sehen, was das für eine Zeit war. Sie haben das ja schon erwähnt, 1923 wurde die Türkische Republik gegründet. Und Atatürks Reformen und politische Herrschaft fallen in die 20er und die 30er Jahre. Und jetzt sollten wir uns mal die Landkarte Europas in dieser Zeit anschauen. Gemessen natürlich an dem, was zum Beispiel in Deutschland und Italien passierte, war Atatürk natürlich Ultrademokrat. Das muss man so sagen.
Aber was heißt das eigentlich? Ich glaube, der Kern des Kemalismus, der heute noch interessant ist, ist, dass er natürlich eine Individualisierung der Gesellschaft versucht hat, aber natürlich vom Zeitgeist geprägt war. Das heißt, diese Individualisierung ging dann ein in starke Kollektivbilder von der Nation, von der Modernisierung. Und das muss heute reflektiert werden, und das wurde in der Türkei zu wenig reflektiert.
Man hatte im Grunde genommen diesen Kemalismus als Bild eingefroren und so als Allheilmittel gegen alles eingesetzt, gegen den Kommunismus, gegen den Islamismus, gegen den kurdischen Separatismus, gegen Europa, gegen Asien, gegen die arabische Welt. Also es wurde so ein Antimittel, so eine Art Impfstoff gegen alles. Und das hat nicht mehr funktioniert. Deswegen heute auch dieser Umbruch, der nicht unbedingt Untergang des Kemalismus sein wird, sondern aus meiner Sicht eher eine Transformation der Gesellschaft, die sogar zu spät kommt.
Wuttke: Darüber sprechen wir gleich noch. Aber vielleicht noch mal etwas zu den Eckpfeilern, um den Kemalismus richtig einordnen zu können. Etatismus, Nationalismus, das sind ja auch aus heutiger Sicht gesehen konservative Werte.
Senocak: Absolut. Wie gesagt, man muss das in der Zeit betrachten. Die Türken haben es nicht geschafft, es in der Zeit selbst zu betrachten, die Gesellschaft, vor allem die bürokratische Elite. Es wurde zu einer Ideologie, und Ideologien haben das ja so an sich, dass sie dann mit der Zeit sozusagen genau zurückschlagen in eine andere Richtung.
Man darf aber den Kemalismus auch so bewerten, dass er im Grunde genommen Endpunkt einer Modernisierung war. Das muss man auch sehen. Die Modernisierung der Gesellschaft in der Türkei beginnt ja noch zu der osmanischen Zeit im 19. Jahrhundert. Also eine Verfassung zum Beispiel zu haben oder auch Grundrechte einzuräumen für Bürger, das geht alles in das 19. Jahrhundert zurück.
Was dann im Grunde genommen passiert ist, und deswegen ist auch eine Kritik des Kemalismus nötig, war ein Widerstreit, ein Konflikt zwischen Kräften, die eher einen Liberalismus nach amerikanisch-britischem Modell anstrebten und diesem sehr französisch orientierte Etatismus, wie Sie schon formuliert haben, zentralistisch, mit einem starken, aufklärerischen Anspruch von oben. …
Wuttke: Machen wir das doch mal ganz konkret. Also man muss sich vorstellen, eine Sprache, nicht mehr die arabische, sondern die lateinische Schrift, für jeden einen neuen Namen, der zum Beispiel dazu führte, dass aus Mustafa Kemal Atatürk der Vater aller Türken wurde. Wie erinnert man sich zum Beispiel in Ihrer Familie an diese Zeit, das war ja ein gewaltiger Umbruch?
Senocak: Richtig, sehr gespalten. Ich komme ja aus einer Familie, die beides in sich trägt. Also mein Vater ist eher muslimisch geprägt, meine Mutter war Lehrerin, kommt aus einer sehr säkular orientierten Familie, aus einer richtigen Beamtenfamilie. Und das sind zwei doch sehr unterschiedliche Welten, die da zusammen kamen. Für mich auch immer interessant zu beobachten, schon als Kind. Auch das Umfeld war sehr unterschiedlich.
Das heißt, diese Janusköpfigkeit der türkischen Gesellschaft gibt es auch manchmal in den Familien tatsächlich. Eher selten eigentlich muss man sagen, weil die doch mehr unter sich bleiben. Es gibt da eher so ein Kastendenken, das heute vielleicht ein bisschen aufgebrochen wird, wo eben auch sehr viel Widerstand dagegen wirkt, dass es aufgebrochen wird.
Aber auf jeden Fall muss sich da sehr, sehr viel tun, weil es ist eine Gesellschaft, die tatsächlich in dieser Stufe der Ideologisierung stehen geblieben ist, und die die Moderne, wie sie sich dann weiterentwickelt hat, eigentlich nicht mitreflektiert hat. Sondern es ist eben eine sehr klassische Moderne, die da im Kopf ist, die mehr auf eine persönliche und individuelle aufklärerische Note setzt und weniger auf so Sachen achtet wie Rechtsstaat – oder beruht.
Dieser Widerspruch in sich liegt ja schon in der Moderne drinnen. Das ist ja nichts, was die Türken geschaffen haben, sondern wenn man die europäische Geschichte anschaut, sieht man ja diese Widersprüche auch, dass im Grunde genommen eine sehr starke, von Staatshand formulierte Modernisierung dann zu einer Art Diktatur führt letztendlich.
Wuttke: Sie haben vorhin schon auf die politische Landkarte der 20er und 30er Jahre verwiesen. Wenn wir jetzt an die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts denken, Sie haben mit Ihrer Familie 1970 Ankara verlassen, vor allem aus politischen Gründen. Aber Millionen von Türken haben das Land verlassen, um ihr Auskommen im Ausland zu suchen. Welche Rolle spielt das?
Senocak: Eine große Rolle, weil dieses Aus-dem-Land-Gehen hat natürlich die Türkei erst einmal auch geöffnet, das muss man sehen. Es gibt ja eine türkische Karte, die natürlich über die Landesgrenzen hinaus reicht. Das ist eine neue Erfahrung für die Türken gewesen, dass sie sozusagen eine Art Diaspora schaffen. Damit haben sie nach wie vor Probleme.
Wuttke: Aber hat es das Land auch ausgeblutet?
Senocak: Nein, das würde ich nicht sagen. Dazu ist das Land zu geburtenstark, und es ist ein sehr junges Land. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist unter 20, das muss man sich mal vorstellen. Wenn man dort auf der Straße läuft, bewegt man sich in einer andere Welt, in einer sehr jungen Welt.
Es gibt ja auch eine Auswanderung aus der Türkei Richtung USA, Richtung Australien, das muss man auch sehen, es ist ja nicht nur Europa. Die Auswanderung der Eliten nach Amerika, das hatte vielleicht in den 60ern, 70ern eine Rolle gespielt, mittlerweile nicht mehr. Viele sind ja auch wieder zurückgekehrt.
Es ist ja wirtschaftlich ein sehr dynamisches Land inzwischen, und auch durch die geographische Lage eigentlich prädestiniert, durch die verschiedenen Energiewege eine wichtige Rolle zu spielen in der Zukunft. Wichtig ist, dass sie eben diese ideologische Auseinandersetzung auf eine zivile Art und Weise löst. Und da sind natürlich die Meinungen unterschiedlich, wie das verläuft.
Wuttke: Atatürk hatte diktatorische Macht, es herrschte sehr lange nur eine einzige Partei und Sie haben kürzlich geschrieben, bei den Parlamentswahlen tendiere das Volk, "immer nur in eine Richtung, es schwächt das staatstragende kemalistische Lager und bringt Kräfte an die Macht, die an die muslimischen Wurzeln des Landes erinnern. In der Türkei heißt mehr Demokratie auch immer mehr Einfluss für den Islam." - Um jetzt noch mal die Janusköpfigkeit aufzugreifen, von der Sie vorhin gesprochen haben: Wie tief ist die Kluft zwischen den kemalistischen Bürgern, dem Militär und dem, was man – in Anführungszeichen – das Volk nennt?
Senocak: Mittlerweile wieder sehr tief muss ich sagen. Das liegt aber vor allem an den Kemalisten, die, glaube ich, die Vorgänge nicht richtig bewerten, die da stattfinden. Die Grundfrage ist doch, ist es möglich, aus der muslimischen Kultur heraus kommend, sich mit den Werten der Aufklärung, des Rechtsstaats, der Demokratie zu versöhnen. Das ist ja der Anspruch auch dieser Regierungspartei.
Und statt diesen Anspruch immer wieder zu prüfen und zu schauen, wo sie stattfindet, wo sie umgesetzt wird, wo nicht, und eine Kritik dieser Linie entlang zu führen, kommt eine Pauschalverurteilung. Und das kann ja nicht funktionieren. Das ist eine Pauschalverurteilung für fast die Mehrheit der Bevölkerung, oder zumindest für die Hälfte, die ja diese Partei gewählt hat.
Wuttke: An dieser Stelle vielleicht ein Zitat aus der "Hürriyet" nach den Wahlen, bei der die AKP ja sehr gut abgeschnitten hat. Da fragte sich also dieses CHP-Blatt, wer benutzt denn hier bei der Wahl seine Hirnhälften?
Senocak: Sehen Sie, das ist eben diese Art der Argumentation. Man muss ja auch sehr vorsichtig sein, bei der Bewertung dieser Partei. Ich glaube, dass sie weder konservativ noch muslimisch ist. Darum geht es gar nicht. Es gibt Politiker, die aus diesem Lager kommen, aber wenn Sie genau die Listen anschauen, und auch wahrscheinlich jetzt die Kabinettsliste, die noch nicht bekannt ist, dann werden Sie da sehr viele Liberale, ja sogar Linke entdecken.
Es gibt einen führenden Sozialdemokraten, … Güney, der in die AKP gewechselt ist und wahrscheinlich Minister wird in diesem Kabinett für Arbeit und Soziales. Und das ist ein gestandener Sozialdemokrat, wie es sie in der Türkei nur selten gibt.
Wuttke: Ein kurzes Wort noch zum Schluss. Wie reformierungsbedürftig ist die CHP?
Senocak: Ich glaube, dass sie nicht mehr reformierungsfähig ist – bedürftig ist sie auf jeden Fall.
Wuttke: Der Publizist Zafer Senocak über den Kemalismus und das Erbe von Atatürk heute vor dem ersten neuen Wahlgang für das türkische Präsidentenamt, für das Abdullah Gül kandidiert. Herzlichen Dank.