Eine Frau zwischen den Ufern

23.05.2008
Sie war ein Mensch, der andere zutiefst faszinierte - wegen ihres schriftstellerischen Talents, ihrer Bedingungslosigkeit und ihrem zwitterwesenhaften Aussehen. Viel zu jung starb die Autorin Annemarie Schwarzenbach. Viel zu lange war sie vergessen. Zwei Biografien erinnern an sie.
Es gibt ein wunderbares Foto aus dem Jahr 1932. An der Wiederentdeckung der Schweizer Autorin hatte es keinen geringen Anteil. Jeder, der sich mit ihr beschäftigt, schreibt von diesem Bild. Bis heute übt es den Reiz des Ungewissen, des Androgynen aus. Gehört dieses Gesicht einem jungen Mann oder einer jungen Frau?

In einer neuen Biographie geht es auch um die besondere Schönheit und Anziehungskraft, die Annemarie Schwarzenbach auf Frauen und Männer ausübte.

Die Schweizer Schriftstellerin ist seit zwei Jahrzehnten wieder präsent, ihre Romane und Erzählungen, vor allem aber ihre Reiseberichte wurden neu aufgelegt. Mit diesen journalistischen Arbeiten war sie als junge Frau, die sich mutig auf ausgedehnte Fahrten begab, bekannt geworden.

Vor 100 Jahren wurde Annemarie Schwarzenbach in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie geboren. Die dominante Mutter, mit der sie ein kurzes Leben lang rang, liebte nicht nur ihren Ehemann, mit dem sie fünf Kinder hatte, sondern vor allem auch eine deutsche Sängerin.

Dass dieses Arrangement offenbar ohne große Konflikte möglich, dass die Ehe der Eltern das mühelos aushielt, davon liest man fasziniert in dem opulenten Bild- und Text-Band, den Annemarie Schwarzenbachs Großneffe Alexis Schwarzenbach anlässlich einer Ausstellung zu ihrem 100. Geburtstag herausgegeben hat (zu sehen Mitte Juni bis Anfang August in Berlin, im Herbst dann in München).

In der umfangreichen neuen Biografie der Schwarzenbach-Kennerin Dominque Laure Miermont werden die Familie und das Leben dieser ungewöhnlich schönen und begabten Frau sehr detailreich nachgezeichnet. Das ist faszinierend zu lesen. Allerdings unterläuft der kenntnisreichen Biografin auch der genretypische Fehler, sich von den Quellen nicht lösen, die zusammengetragene Materialfülle nicht kürzen, sich nicht beschränken zu können.

Nicht besonders sympathisch gezeichnet wird in dieser Biografie Erika Mann, an der Annemarie Schwarzenbach mit geradezu hündischer Ergebenheit hing. 1930 lernte sie Klaus und Erika Mann kennen. Mit ihm erlebt sie heftige Drogenexzesse, an ihn, den Seelenverwandten schreibt sie viele Briefe, reist mit ihm 1934 zum sowjetischen Schriftstellerkongress nach Moskau und unterstützt ihn bei der Herausgabe seiner Zeitschrift "Die Sammlung". Überhaupt wird die Familie Mann für die Schweizerin zur bewunderten Ersatzfamilie.

Annemarie Schwarzenbach stirbt mit 34 Jahren nach vielen Entziehungskuren an den Folgen eines Fahrradunfalls - und bleibt jahrzehntelang vergessen.
Rezensiert von Manuela Reichart

Dominque Laure Miermont: Annemarie Schwarzenbach. Eine beflügelte Ungeduld
Aus dem Französischen von Susanne Wittek
Ammann Verlag, Zürich, 2008
474 Seiten, 34,90 Euro

Alexis Schwarzenbach: Auf der Schwelle des Fremden. Das Leben der Annemarie Schwarzenbach
Mit Audio-CD: "Eine Frau zu sehen", gelesen von Bibiana Beglau
Verlag Collection Rolf Heyne; München, 2008
420 Seiten, 600 Fotos, 58,00 Euro