Eine Frau und 23 Liebhaber

28.09.2010
Greise Schauspieler, Ärzte mit Doppelleben und dubiose Taxifahrer: Der "Zeit"-Kolumnist Harald Martenstein erzählt in seinem zweiten Roman die Geschichte einer Frau - aus der Perspektive ihrer Lebensabschnittsgefährten.
Wer den Berliner Journalisten Harald Martenstein und seine wöchentlichen Kolumnen im Magazin der "Zeit" schätzt, läuft rasch Gefahr, von jedem Martenstein-Text aberwitzige Komik, Scharfzüngiges und politisch Unkorrektes zu erwarten. Dass dieser Autor auch anders kann, bewies er 2007, als er seinen ersten Roman "Heimweg" publizierte, der es, vielgelobt, gleich auf die Longlist des Deutschen Buchpreises brachte. Der Romancier Martenstein – das war sofort zu spüren – legt es nicht darauf an, sich in seinen fiktionalen Werken gleichsam zu verdoppeln und allenthalben ein permanentes Feuerwerk schräger Einfälle abzubrennen.

"Gefühlte Nähe", sein zweiter Roman, bleibt dieser Linie treu. In 23 Kapiteln folgt Martenstein dem mitunter recht steinigen Weg einer Frau, der er bezeichnenderweise nur den Kurznamen N. zugesteht. Über mehrere Jahrzehnte – sogar bis in die Zukunft hinein – nehmen wir Anteil an dieser Geschichte der N., ohne dass man deren Innenleben wirklich nahe käme.
Was auf den ersten Blick wie das Porträt einer Frauenseele erscheint, entpuppt sich schnell als Reigen unterschiedlichster männlicher Charaktere, die ihre Hoffnungen auf die sexuell aktive Frau projizieren.

Stattliche 23 Liebhaber (darunter auch einen rasch abhanden kommenden Ehemann) hat die mal als Kritikerin, mal als TV-Moderatorin arbeitende N. vorzuweisen. Ihre in der Regel nicht sehr langen Affären beendet die im fortgeschrittenen Alter zum Zynismus neigende Frau ("Den Mann, den du mit vierzig an Land ziehst, weiß, dass er zweite oder dritte Wahl ist") meist selbst, und der Roman gibt den enttäuschten oder verbitterten Gefährten die Möglichkeit, den Beziehungsverlauf aus ihrer Sicht zu schildern.

Am Anfang steht Deutschlehrer Rühl, dem N. erfolgreich auf einer Klassenfahrt nachstellt. Am Ende - N. hat die Sechzig bereits überschritten - ein junger Afrikaner, dem sie die Einreise nach Deutschland ermöglicht. Dazwischen agieren greise Schauspieler, die froh sind, den Beischlaf unverletzt zu überstehen, abgehalfterte Fernsehmoderatoren, Ärzte mit Doppelleben und dubiose Taxifahrer, die in der Halbwelt Karriere machen.

Harald Martenstein gelingt es mühelos, Männer verschiedenster Couleur zu Wort kommen zu lassen und deren Kurzzeitpartnerschaften mit N. erzählerisch geschickt miteinander zu verknüpfen. Knappe Dialoge und pointierte Monologe bestimmen den Duktus des Romans. Er setzt auf straffe Plots und schildert zwischen den Zeilen, wie sich das Paarungs- und Sexualverhalten der Deutschen seit den Zeiten Ludwig Erhards verändert hat.

Die Männer, die N.s Weg pflastern, geben dabei nicht immer ein günstiges Bild ab - und belegen die Fähigkeit des Autors, die nicht immer von der Realität getragenen Selbstbilder dieser Spezies scharf auszuleuchten. In Reflexionen wie "In zehn Jahren darfst du eine Affäre haben. Ich tu dann so, als ob ich nichts merke. Und wir haben dann eben schlechten Sex. So schlecht ist schlechter Sex auch wieder nicht" blitzt immer wieder auch der knappe Witz des Kolumnisten Martenstein auf – ein Stilmittel, das vehement dazu beiträgt, dass "Gefühlte Nähe" ein Roman von hohem Unterhaltungs- und nicht geringem Erkenntniswert ist.

Besprochen von Rainer Moritz

Harald Martenstein: Gefühlte Nähe. Roman in 23 Paaren
C. Bertelsmann, München 2010
222 Seiten, 19,99 Euro