Eine Frau erobert das "Neue Indien"

27.08.2007
Ein Epos - und was für eines. Isabel Allende, weltberühmt durch ihren Roman "Das Geisterhaus", in dem sie am Beispiel einer Familiengeschichte das politische Schicksal ihres Heimatlandes Chile symbolisiert, greift in ihrem neuen Roman noch weiter aus und historisch um einiges weiter zurück: Ein halbes Jahrtausend.
Unübersehbar beansprucht "Ines meines Herzens" den Platz eines zweiten Opus Magnum in der Werkgeschichte der Schriftstellerin. Sie erzählt die Geburtsgeschichte Chiles, fantasiert sich 500 Jahre zurück und in die Haut einer weiblichen Heldin, die an dem epochalen Ereignis der Eroberung des heutigen Chiles durch Spanien und an der Gründung der Hauptstadt Santiago als Hebamme beteiligt war: Ines Suarez, geboren zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Spanien, war eine einfache Schneiderin, bevor sie auf der Suche nach ihrem ersten Ehemann nach Südamerika aufbrach, das damals noch "Neues Indien" hieß. Der Ehemann war verschollen, doch Inez kehrte nicht nach Spanien zurück.

Der Zeitgeist, wie man heute sagen würde, hatte sie gepackt und die Liebe. Mit ihrem Geliebten, dem Feldherrn Pedro de Valdivia, machte sie sich mit spanischen Heerestruppen und Gefolgsleuten der Inkas von Peru auf Richtung Süden, in das einzige, noch nicht eroberte Gebiet des Kontinents.

Von der Geschichtsschreibung wurde die Rolle dieser Frau, die Isabel Allende mit allen Merkmalen des reinen Idealismus ausstattet, mehr oder weniger unterschlagen. Anders gesagt: In diesem historischen Roman gehen nationaler Gründungsmythos und feministischer Emanzipationsmythos Hand in Hand. Die erzählerische Ausgangssituation folgt einem bewährten Schema der Literatur: Ines Suarez ist, als der Leser ihre grandiosen Taten und ihre erstaunlich aufgeklärte, humane Weltsicht kennenlernt, eine alte Frau, die im Angesicht des Todes ihr autobiografisches Vermächtnis zu Papier bringt.

Das Wort außergewöhnlich wirkt wie ein Euphemismus für die Kulisse ihrer Biografie. Denn diese erfüllt im Übermaß, was Historienspektakel im literarischen Breitwandformat aufzubieten haben: Militärische Schlachten, leidenschaftliche Herzen, fremde Völker, exotische Sitten und extreme Charaktere. Heiße Liebesnächte und kühne Besiedlungspolitik stehen im neuen Roman Isabel Allendes im Verhältnis logischer Verknüpfung.

Vier Jahre lang, schreibt Isabel Allende in der Nachbemerkung des Romans, habe sie geforscht und gelesen, um dem historischen Stoff so genau wie möglich gerecht zu werden und ihn sich so authentisch wie möglich anzueignen. Vielleicht liegt eben hier das Erzählproblem des Romans. Er ist als Ich-Erzählung, in der ersten Person Singular verfasst. Ines Suarez erzählt ihr Leben und ihre Abenteuer aus der Sicht der Frau, die sie war: Eine Frau am Ende des 16. Jahrhunderts.

Hätte sie - beispielsweise - ihren Zeitgenossen erklären müssen, was es mit dem Ritual christlichen Flagellantentums auf sich hat? War dies zu wissen nicht im 16. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit? Oder liefert uns Isabel Allende diese Erklärung unter der Hand mit, weil zu Beginn des 21.Jahrhunderts nicht als gesichert gelten kann, dass ihre internationale Leserschaft über den Sinn des Flagellantentums im Bilde ist? Ines Suarez ist in ihrem ganzen Denken, Handeln, Fühlen eine jener starken Frauen, die Isabel Allende als Protagonistinnen ihrer Romane bevorzugt.

Keine Frage: Ines Suarez muss auch in der historischen Realität eine Ausnahmeerscheinung, eine Mischung aus Katharina die Große und Jeanne d´Arc gewesen sein. Nur hat ihre Stärke etwas irritierend Heutiges. Ihre Gedanken zu Ehe, Mutterschaft und Emanzipation hätten auf jedem Weltfrauenkongress unter der Führung von Hillary Clinton Bestand. Rückprojektionen der Gegenwart auf die Vergangenheit gehören zur Poetik des historischen Romans.

Die Frage ist nur, ob sie sich im Kopf des Lesers abspielen, der seine Welt in der geschichtlichen erkennt. Oder im Kopf der historischen Figur. Ines Suarez mag im 16. Jahrhundert als Schneiderin und Feldherrin, als Geliebte und als Städtegründerin Dinge vermocht haben, die ihr zu ihrer Zeit keine andere nachmachte. Dass sie prophetische Fähigkeiten hatte und eine Moderne voraus sah, in der Frauen so viel Freiheit besitzen, ist nicht verbürgt.


Rezensiert von Ursula März


Isabel Allende: Ines meines Herzens
Aus dem Spanischen von Svenja Becker.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, 394 Seiten, 19,80 Euro